© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 004/16 Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Flüchtlinge vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 2 Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Flüchtlinge vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 004/16 Abschluss der Arbeit: 8. Februar 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Fluchthintergrund 5 3. Bestehende Ausnahmen vom Mindestlohngesetz 5 4. Verfassungsrechtliche Beurteilung einer Mindestlohnausnahme 7 4.1. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem 8 4.2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung 8 4.2.1. Legitime Ziele einer Ausnahme 9 4.2.2. Geeignetheit einer Ausnahme 10 4.2.2.1. Verbesserung der Beschäftigungschancen 10 4.2.2.2. Vermeidung von Fehlanreizen 11 4.2.3. Erforderlichkeit einer Ausnahme 13 4.2.3.1. Regelungen und Maßnahmen der Arbeitsförderung 13 4.2.3.2. Alternative Mittel 15 4.2.4. Angemessenheit einer Ausnahme 16 4.2.4.1. Dauer der Ausnahme 17 4.2.4.2. Heterogenität des Personenkreises 17 4.2.4.3. Interessen anderer Arbeitnehmer und Arbeitsmarktgerechtigkeit 18 4.2.4.4. Gesellschaftliche Risiken 18 4.2.5. Zwischenergebnis 18 5. Fazit 19 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 4 1. Einleitung Im Zuge ansteigender Zahlen von Menschen, die vor politscher Verfolgung oder Bürgerkrieg in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht suchen und die in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert werden sollen, wird seit Herbst 2015 im politischen Raum diskutiert, ob Flüchtlinge zwecks besserer Integration in den Arbeitsmarkt nicht vom Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes (MiLoG) ausgenommen werden sollten. Presseberichten zufolge sprach sich beispielsweise der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, dafür aus, für Flüchtlinge Sonderlösungen beim Mindestlohn zu finden.1 Auch CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn plädierte für mehr Flexibilität,2 was vereinzelt auch von Medienkommentatoren unterstützt wird.3 Konkreter wurde der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der sich in seinem Jahresgutachten 2015/16 allgemein für Erleichterungen beim Mindestlohn einsetzt und sich unter anderem dafür ausspricht, arbeitsuchende anerkannte Flüchtlinge von Beginn an als langzeitarbeitslos zu betrachten, um so den Anwendungsbereich der bereits existierenden Ausnahmeregelung des § 22 Abs. 4 MiLoG zu eröffnen.4 Der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, spricht sich vor dem Hintergrund auf den Arbeitsmarkt drängender Flüchtlinge für eine allgemeine Ausnahme vom Mindestlohn für Berufsneueinsteiger aus,5 während der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Reint E. Gropp, die generelle Aussetzung des Mindestlohngesetzes ins Gespräch bringt.6 Zu untersuchen ist, ob eine Regelung, die Menschen mit Fluchthintergrund vom Anspruch auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohnes nach § 1 Abs. 1 MiLoG ausnimmt, mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar wäre. 1 Haseloff fordert Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge, MDR online vom 24. September 2015, http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/haseloff-mindestlohn-fluechtlinge100.html (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). 2 GREIVE, Martin / KAMMHOLZ, Karsten / POSCHARDT, Ulf / KRAUEL, Torsten, CDU: Flüchtlinge vom Mindestlohn ausnehmen, http://www.welt.de/print/die_welt/article146979622/CDU-Fluechtlinge-vom-Mindestlohn-ausnehmen .html (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). 3 Beispielsweise MÜLLER, Henrik, Arbeitslosigkeit: Wie der Mindestlohn Flüchtlinge ausgrenzt, http://www.spiegel .de/wirtschaft/soziales/wie-der-mindestlohn-fluechtlinge-ausgrenzt-a-1059446.html (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). 4 SACHVERSTÄNDIGENRAT ZUR BEGUTACHTUNG DER GESAMTWIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG, Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt, Jahresgutachten 15/16, Rn. 9, 572, http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage /gutachten/jg201516/wirtschafts-gutachten/jg15_ges.pdf (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). 5 GERSEMANN, Olaf, Mindestlohn soll wegen Flüchtlingen ausgesetzt werden, Die Welt online vom 27. Dezember 2015, http://www.welt.de/wirtschaft/article150339355/Mindestlohn-soll-wegen-Fluechtlingen-ausgesetzt-werden .html (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). 6 Flüchtlinge bedeuten kleines Konjunkturprogramm, Focus online vom 24. Dezember 2015, http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/iwh-praesident-gropp-fluechtlinge-bedeuten-kleines-konjunkturprogramm _id_5174030.html (zuletzt abgerufen am 19. Januar 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 5 2. Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Fluchthintergrund Von einer möglichen Ausnahmevorschrift können nur diejenigen Menschen mit Fluchthintergrund erfasst sein, die tatsächlich Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) dürfen Ausländer in Deutschland nur dann eine Beschäftigung aufnehmen, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt. Damit hängt der Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland für geflüchtete Menschen maßgeblich vom jeweiligen Aufenthaltsstatus ab. Das AufenthG differenziert zwischen der Aufenthaltserlaubnis, der Aufenthaltsgestattung und der Duldung.7 Anerkannte Asylberechtigte und Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten eine Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 25 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 AufenthG), und dürfen uneingeschränkt arbeiten. Asylbewerber im laufenden Asylverfahren erhalten eine Aufenthaltsgestattung (§§ 55 ff. des Asylgesetzes (AsylG)), die sie berechtigt, bis zur Entscheidung über den Asylantrag in Deutschland zu leben und unter bestimmten Bedingungen zu arbeiten. Der Duldungsstatus betrifft Personen , deren Asylantrag abgelehnt wurde oder die sich aus anderen Gründen nicht oder nicht mehr im Asylverfahren befinden, deren Abschiebung jedoch aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen ausgesetzt wurde (§ 60a AufenthG). Personen mit einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung müssen sich vor der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit die Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung von der zuständigen Ausländerbehörde einholen, die jedoch grundsätzlich erst nach drei Monaten (§ 32 Abs. 1 S. 1 der Beschäftigungsverordnung - BeschV) beginnend mit dem Tag der Meldung des Asylgesuchs und der Ausstellung der Aufenthaltsgestattung erteilt werden kann. Zudem muss die Zustimmung der örtlichen Agentur für Arbeit vorliegen, welche sich auf die sog. Arbeitsmarktprüfung und die sog. Vorrangprüfung stützt. Die Arbeitsmarktprüfung bezieht sich auf die Arbeitsbedingungen der konkreten Stelle und stellt sicher, dass für Personen mit Aufenthaltsgestattung oder Duldungsstatus gleichwertige Arbeitsmarktbedingungen gelten wie für Personen mit uneingeschränkter Arbeitserlaubnis. Bei der Vorrangprüfung wird die Frage geklärt, ob die Stelle nicht auch mit arbeitsuchend gemeldeten Personen besetzt werden kann, deren Arbeitsmarktzugang nicht beschränkt ist. Die Vorrangprüfung entfällt nach 15-monatigem Aufenthalt in Deutschland (§ 32 Abs. 5 Nr. 2 BeschV). 3. Bestehende Ausnahmen vom Mindestlohngesetz § 1 Abs. 1 MiLoG begründet für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns, der gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 MiLoG derzeit 8,50 Euro brutto pro Stunde beträgt. 7 Eine Darstellung der Grundzüge bietet das Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in seinem Internetauftritt : http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Asyl/faq-arbeitsmarktzugang-gefluechtete -menschen.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 18. Januar 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 6 Gemeinsames Merkmal aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, dass sie im rechtlichen Rahmen eines Arbeitsverhältnisses aufgrund eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages verpflichtet sind, ihre Arbeitskraft weisungsgebunden gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen. Wesentlicher Inhalt eines Arbeitsverhältnisses ist das Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen dem Einsatz der Arbeitskraft durch den Arbeitnehmer und die Gegenleistung des Arbeitsgebers in Form des Arbeitsentgelts (vgl. § 611 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB)8 sowie der damit zusammenhängende Gedanke des Gelderwerbs. Die §§ 22 und 24 MiLoG sehen jedoch ausdrücklich verschiedene Ausnahmen vom persönlichen Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes vor. § 22 Abs. 3 MiLoG stellt deklaratorisch fest, dass die Vergütung von zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten sowie ehrenamtlich Tätigen nicht von dem Gesetz geregelt wird. Denn bei diesen beiden Gruppen handelt es sich schon begrifflich nicht um Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer im Sinne der genannten Definition.9 Aber auch bestimmte Arbeitnehmergruppen werden vom Mindestlohngesetz ausgenommen. So unterfallen Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 des Berufsbildungsgesetzes gemäß § 22 Abs. 1 S. 2 MiLoG zwar grundsätzlich dem gesetzlichen Mindestlohn; dies gilt jedoch nicht, wenn ein Ausnahmetatbestand des § 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 - 4 MiLoG vorliegt, beispielsweise ein schul- oder hochschulrechtliches Pflichtpraktikum bis zur Dauer von drei Monaten. Personen unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung nimmt § 22 Abs. 2 MiLoG ebenfalls vom Anwendungsbereich des Mindestlohnes aus. Außerdem gilt gemäß § 22 Abs. 4 S. 1 MiLoG der Mindestlohn nicht in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (Arbeitsförderung - SGB III) waren. Schließlich enthält § 24 Abs. 2 MiLoG für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller eine Übergangsregelung für die Jahre 2015 bis 2017 zur schrittweisen Heranführung an den gesetzlichen Mindestlohn. Die beschriebenen Ausnahmen vom persönlichen Geltungsbereich des Mindestlohngesetzes sollen der Gesetzesbegründung10 zufolge überwiegend die nachhaltige Integration der betroffenen Personengruppen in den Arbeitsmarkt gewährleisten. Deutlich wird dies vor allem bei der Ausnahme für Langzeitarbeitslose, die oftmals nicht unerhebliche Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg in das Arbeitsleben haben. Ihren infolgedessen verringerten Beschäftigungschancen soll durch diese Regelung in besonderem Maße Rechnung getragen werden. Die Ausnahme für jugendliche Arbeitnehmer soll sicherstellen, dass der Mindestlohn keinen Anreiz setzt, zugunsten einer mit dem Mindestlohn vergüteten Beschäftigung auf eine Berufsausbildung zu verzichten. 8 Vgl. zum Arbeitnehmerbegriff KORTSTOCK, Ulf, in: Nipperdey Lexikon Arbeitsrecht. Sonderausgabe 2012 München : C.H. Beck, Stichwort: Arbeitnehmer; TILCH, Horst / ARLOTH, Frank (2001), in: Deutsches Rechts-Lexikon. 3. Aufl. München: C.H. Beck, Stichwort: Arbeitnehmer. 9 Vgl. auch die Gesetzesbegründung in Bundestagsdrucksache 18/1558, Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz), S. 43. 10 Vgl. die Gesetzesbegründung (Fn. 9), S. 42 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 7 Dagegen werden die Ausnahmen für bestimmte Praktika sowie für den Bereich der Zeitungszustellung von gesetzgeberischen Überlegungen getragen, die im vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung sind. Die vom Mindestlohngesetz ausgenommenen Praktika sind solche, bei denen ein Missbrauch nicht zu befürchten ist;11 die Sonderregelung für Zeitungszustellerinnen und -zusteller wird mit der Funktionsfähigkeit der grundrechtlich geschützten Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) begründet.12 4. Verfassungsrechtliche Beurteilung einer Mindestlohnausnahme Zu prüfen ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer pauschalen Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Menschen mit Fluchthintergrund. Einer solchen Regelung könnte der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG entgegenstehen , der dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verbietet , wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu regeln, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund dafür gegeben ist.13 Art. 3 Abs. 1 GG begründet in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG ein soziales Teilhaberecht.14 Der gleichheitswidrige Ausschluss eines Personenkreises von einer Vergünstigung, die einem anderen Personenkreis gewährt wird, ist dem Staat damit grundsätzlich verboten.15 Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber überhaupt keine Differenzierungen vornehmen dürfte. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn zwischen den Vergleichsgruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen oder nicht Gründe von solcher Art und solchem Gewicht gegeben sind, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können. Für die Rechtfertigung verfassungsrechtlich relevanter Ungleichbehandlungen steht dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Das gilt insbesondere im Zusammenhang mit sozialpolitischen und wirtschaftsordnenden Maßnahmen, zu denen auch der gesetzliche Mindestlohn zählt. Bei der Überprüfung eines Gesetzes auf seine Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz kommt es daher nicht darauf an, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern allein darauf, ob sich die getroffene Regelung im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes hält.16 11 Vgl. die Gesetzesbegründung (Fn. 9), S. 42. 12 vgl. FRANZEN, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, § 24 MiLoG Rn. 2. 13 BVerfG, Urteil vom 23. Oktober 1951, Az: 2 BvG 1/51 = BVerfGE 1, 14, 52 = NJW 1951, 877, 878 f. 14 Vgl. z.B. VOßKUHLE, Andreas, Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip, JuS 2015, 693, 694 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 15 EPPING, Volker (2012), Grundrechte, Rn. 774 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 16 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. u.a. BVerfGE 122, 151, 174. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 8 4.1. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem Im Zuge der verfassungsrechtlichen Prüfung ist zunächst zu klären, ob eine Ausnahme vom Mindestlohn für Menschen mit Fluchthintergrund eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem darstellt. In der einleitend beispielhaft zitierten öffentlichen Diskussion wird, soweit ersichtlich, im Allgemeinen nicht nach Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus, Aufenthaltsdauer oder beruflicher Qualifikation differenziert. Vorschläge für eine Ausnahme vom persönlichen Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes werden vielmehr pauschal auf vom umgangssprachlichen Begriff des „Flüchtlings “ erfasste Personen bezogen. Arbeitgebern soll es danach möglich sein, mit Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund Arbeitsentgelte unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns zu vereinbaren und ihnen mithin die soziale Schutzfunktion des Mindestlohns17 vorzuenthalten. Begrifflich können freilich von einer Mindestlohnausnahme nur Personen erfasst werden, die nach den unter Punkt 2 dargestellten aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen tatsächlich Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Sie werden im Folgenden als Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund bezeichnet. Eine Mindestlohnausnahme setzt am Arbeitsverhältnis an. Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund unterscheiden sich von anderen Arbeitnehmern nur durch ihre Herkunft und den Fluchthintergrund . Durch eine solche Regelung würden aber Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund anders behandelt als andere Arbeitnehmer. Sie würden nämlich aus einer Perspektive betrachtet schlechter , aus einer anderen Perspektive betrachtet besser gestellt. Eine Schlechterstellung liegt darin, dass die Personen im Geltungsbereich der Ausnahme den gesetzlichen Mindestlohn anders als ihre Arbeitskollegen nicht beanspruchen können. Eine Besserstellung kann andererseits darin gesehen werden, dass durch die Möglichkeit zur Vereinbarung einer Vergütung unterhalb der Mindestlohngrenze die Privatautonomie gestärkt und durch die Vereinbarung eines Arbeitsverhältnisses , das ohne eine Ausnahme vielleicht nicht zustande käme, eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt erreicht werden könnte. Es handelt sich aus beiden Perspektiven um eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem (nämlich der Arbeitnehmer). Spiegelbildlich würde die Ausnahme nicht für alle Arbeitgeber gelten, sondern nur für diejenigen , welche die betroffenen Arbeitnehmer einstellen. Solche Arbeitgeber würden insoweit bessergestellt , als sie eine Vergütung unterhalb der Mindestlohngrenze vereinbaren könnten. Es handelt sich dabei um eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem (nämlich der Arbeitgeber). 4.2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin 17 Vgl. dazu die Gesetzesbegründung (Fn. 9); S. 27 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 9 zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können.18 Schon aus dieser, der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnommenen Formulierung lässt sich ableiten, dass nicht mehr streng zwischen einer Prüfung am Maßstab des Willkürverbots bzw. des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterschieden wird. Vielmehr wird die Prüfung jeder Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt.19 Die die Ungleichbehandlung enthaltende Regelung müsste folglich verhältnismäßig sein. Zu prüfen ist daher, ob sie einem in verfassungsrechtlicher Hinsicht legitimen Ziel dienen würde und – bejahendenfalls – ob die Regelung zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen wäre. Dabei wird dem Gesetzgeber sowohl bei der Beurteilung der Eignung als auch der Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels, also bei der Frage, ob ein alternatives Mittel gleich geeignet und milder wäre, im Allgemeinen eine Einschätzungsprärogative eingeräumt.20 Das Bundesverfassungsgericht macht die Kontrollmaßstäbe für den legislativen Einschätzungsspielraum von mehreren Faktoren abhängig, nämlich „im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter.“21 4.2.1. Legitime Ziele einer Ausnahme Der Mindestlohn stellt für viele Flüchtlinge eine hohe Hürde beim Einstieg in den Arbeitsmarkt dar. Eine Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund soll deren Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. Vor dem Hintergrund, dass viele der Menschen , die in Deutschland derzeit Zuflucht suchen, ungeachtet ihres derzeitigen Aufenthaltsstatus ’ eine gute Bleibeperspektive haben oder aus humanitären Gründen auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden können, entspricht es dem politischen Konsens in der Bundesregierung, Menschen mit Fluchthintergrund schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren, der als zentraler Baustein für eine gesellschaftliche Integration gilt.22 Als Aufgabe von gesamtgesellschaftlichem Interesse stellt die Integration dieser Menschen in den Arbeitsmarkt ein legitimes Ziel dar. Als weiterer Gesichtspunkt zugunsten einer Mindestlohnausnahme für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund kommt entsprechend der gesetzgeberischen Begründung der Ausnahmeregelung für 18 Vgl. BVerfGE 130, 131, 142. 19 Vgl. BRITZ, Gabriele, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2014, 346. 20 NEUMANN, Volker, Legislative Einschätzungsprärogative und gerichtliche Kontrolldichte bei Eingriffen in die Tarifautonomie, RdA 2007, 71, 73 f. 21 BVerfGE 50, 290, 332 f.; BVerfGE 57, 139, 159; BVerfGE 62, 1, 50; BVerfGE 90, 145, 173; zit. nach NEUMANN (Fn. 20), 74. 22 Vgl. dazu z.B. das am 1. Dezember 2015 vorgestellte von mehreren Bundesministerien gemeinsam unterstützte Integrationspapier: Neustart in Deutschland. Für ein Jahrzehnt umfassender Gesellschaftspolitik, abrufbar im Internetauftritt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS): http://www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen /2015/bpk-integrationspapier.html (zuletzt abgerufen am 4. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 10 Jugendliche in § 22 Abs. 2 MiLoG die Vermeidung berufsbildungspolitischer Fehlanreize in Betracht . Soweit Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund keine hinreichenden beruflichen Qualifikationen aufweisen, sollen sie nicht zugunsten einer mit dem Mindestlohn vergüteten Beschäftigung auf eine Berufsausbildung oder die Teilnahme an einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme verzichten. Dieser Gedanke zielt auf eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration der betroffenen Arbeitnehmergruppe , die ebenfalls im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt und damit als legitimes Ziel anzusehen ist. 4.2.2. Geeignetheit einer Ausnahme Die Ausnahmevorschrift müsste zur Verfolgung des dargelegten Zwecks geeignet sein. Dies setzt voraus, dass das durch die Ausnahme angestrebte Ziel zumindest gefördert wird.23 4.2.2.1. Verbesserung der Beschäftigungschancen Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund haben häufig besondere Schwierigkeiten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. Als Gründe hierfür sind regelmäßig fehlende deutsche Sprachkenntnisse ebenso zu nennen wie fehlende oder nicht verifizierbare berufliche Qualifikationen, die Arbeitgeber vielfach zögern lassen, Menschen mit Fluchthintergrund zum gesetzlichen Mindestlohn zu beschäftigen, weil die hinreichende Produktivität in Frage steht. Eine Ausnahme vom Mindestlohn erscheint geeignet, den Beschäftigungschancen dieses Personenkreises in besonderem Maße Rechnung zu tragen, denn ein unterhalb des Mindestlohns liegendes Arbeitsentgelt könnte die beschriebenen Einschränkungen kompensieren und Arbeitgeber motivieren, Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund bevorzugt einzustellen. Allerdings gibt es unter den Flüchtlingen auch Menschen mit hoher beruflicher Qualifikation und ausreichenden Sprachkenntnissen, deren Integration in den deutschen Arbeitsmarkt im Einzelfall wenig problematisch ist. Dieser Personenkreis bedürfte also keiner besonderen Förderung. Jedoch wird man deshalb die grundsätzliche Geeignetheit einer Ausnahme vom Mindestlohn nicht mit dieser Begründung in Frage stellen können, denn die Arbeitsmarktintegration dieses Personenkreises wird durch eine Ausnahme vom Mindestlohn jedenfalls nicht behindert. Die Prognose, dass die mit der Ausnahme vom Mindestlohn verbundene Anreizwirkung auf Arbeitgeber die Arbeitsmarktintegration dieser Personengruppe tatsächlich fördert, unterliegt im Übrigen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Dass dieser Prognose unzulässigerweise sachfremde Erwägungen zugrunde lägen,24 ist nicht ersichtlich. 23 MANSSEN, Gerrit, Staatsrecht II, Grundrechte, 11. Aufl. 2014, Rn. 183. 24 Vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 111, 226, 255; 106, 62, 150 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 11 4.2.2.2. Vermeidung von Fehlanreizen Als Garant für eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt und Schutz vor drohender Arbeitslosigkeit gilt nach allgemeinem gesellschaftlichen Konsens eine abgeschlossene Berufsausbildung . Dies gilt in ganz besonderem Maße für die neu zugewanderten Menschen mit Fluchthintergrund , deren Eingliederung in den Arbeitsmarkt bereits mit vielfältigen Schwierigkeiten verbunden ist. Daher erscheint es wichtig, Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund, die nicht über hinreichend verwertbare berufliche Qualifikationen verfügen, von der Bedeutung einer Berufsausbildung zu überzeugen und sie zu bewegen, eine Ausbildung aufzunehmen. Nach den Feststellungen der Bundesagentur für Arbeit schätzen jedoch viele Flüchtlinge den Stellenwert einer abgeschlossenen Berufsausbildung in Deutschland nicht richtig ein und verzichten auf eine angebotene Ausbildung oft, weil sie möglichst schnell Geld verdienen wollen, um ihre Angehörigen in der Heimat finanziell zu unterstützen oder Schulden an Schlepperbanden zurückzuzahlen, wie das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit Raimund Becker in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erläuterte.25 Dies entspricht den Beobachtungen des Hauptgeschäftsführers der Handwerkskammer für München und Oberbayern Lothar Semper in einem Interview mit der Zeitung Die Welt.26 Danach hätten etwa 70 Prozent der Auszubildenden , die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak geflohen seien und im September 2013 ihre Berufsausbildung begonnen hätten, diese in der Zwischenzeit wieder abgebrochen. Im bundesweiten Durchschnitt liege dagegen die Abbruchquote bei lediglich 25 Prozent. Als Mitursache hierfür sieht Semper das nicht selten fehlende Bewusstsein, dass eine Berufsausbildung mit kurzfristig geringerer Vergütung langfristig die bessere Entscheidung sei. Diesem offenkundigen Negativanreiz könnte eine Ausnahme von einem Mindestlohn entgegenwirken. Zwar hat die Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage mitgeteilt, dass sie auf die beschriebenen Erkenntnisse aus den operativen Erfahrungen mit dem Einsatz zusätzlicher Beratungsfachkräfte reagiert habe, um durch eine frühzeitige Berufsberatung und -orientierung den Stellenwert der dualen Ausbildung in der Gesellschaft und für die Berufsperspektiven zu vermitteln und ihre Beratung dahingehend zu intensivieren. Zugleich werde über berufsbegleitende Qualifizierung von Schutzsuchenden angestrebt, eine Brücke zu nachhaltiger und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu bauen. Vor dem dargelegten Hintergrund erscheint aber unter Berücksichtigung der legislativen Einschätzungsprärogative auch eine Ausnahmeregelung vom gesetzlichen Mindestlohn grundsätzlich geeignet, einer Fehlanreizwirkung des gesetzlichen Mindestlohns zu begegnen . Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler- Stiftung aus dem Jahr 2014 beschäftigt sich im Rahmen der Diskussion um die Einführung des 25 ÖCHSNER, Thomas, Viele Flüchtlinge scheuen die Berufsausbildung. Süddeutsche Zeitung vom 10. Januar 2016, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/fachkraeftemangel-viele-fluechtlinge-scheuen-die-lehre- 1.2811923 (zuletzt abgerufen am 20. Januar 2016). 26 Vgl. VETTER, Philipp, Sieben von zehn Flüchtlingen brechen Ausbildung ab, Die Welt vom 14. Oktober 2015, http://www.welt.de/wirtschaft/article147608982/Sieben-von-zehn-Fluechtlingen-brechen-Ausbildung-ab.html (zuletzt abgerufen am 20. Januar 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 12 Mindestlohngesetzes mit den möglichen Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes auf Jugendliche .27 Die Verfasser kommen zu dem Schluss, dass sich in der internationalen Wirkungsforschung kaum Evidenz dafür finden lasse, dass ein gesetzlicher Mindestlohn einen Negativanreiz in Bezug auf die Aufnahme einer Berufsausbildung setzt,28 doch lässt er sich derzeit auch nicht widerlegen. Ob die Situation von Jugendlichen unter 18 Jahren, denen an der Schwelle zum Erwachsenenalter und in einer Phase der Entscheidungsfindung für ihre Lebensplanung eine besondere Schutzbedürftigkeit sowie eine hinreichende Empfänglichkeit für bildungspolitische Lenkungsmaßnahmen zugeschrieben werden kann,29 mit der allgemeinen Situation von Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund vergleichbar ist, erscheint durchaus fraglich. So waren 2015 weniger als fünf Prozent 30 aller Schutzsuchenden dieser Altersgruppe zuzuordnen, zum weit überwiegenden Teil handelt es sich um erwachsene Menschen aller Altersgruppen, die für staatliche Lenkungsregelungen nicht mehr im demselben Umfang erreichbar sein dürften wie Jugendliche. Sie sind zum Teil auch im vorgerückten Alter und kommen für eine Berufsausbildung überhaupt nicht mehr in Frage. Überdies finden sich unter den Flüchtlingen vielfach auch qualifizierte Fachkräfte,31 die einer entsprechenden Lenkung nicht bedürfen. 27 AMLINGER, Marc / BISPINCK, Reinhard / SCHULTEN, Thorsten, Jugend ohne Mindestlohn? Zur Diskussion um Ausnahme und Sonderregelungen für junge Beschäftigte, WSI Report 14. März 2014, abrufbar unter http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_14_2014.pdf (zuletzt abgerufen am 20. Januar 2016). 28 AMLINGER, Marc / BISPINCK, Reinhard / SCHULTEN, Thorsten (Fn. 27), S. 6; ähnlich FISCHER-LESCANO, Andreas, Verfassungs-, völker- und europarechtlicher Rahmen für die Gestaltung von Mindestlohnausnahmen, Rechtsgutachten im Auftrag des WSI und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), März 2014, S. 20, abrufbar unter http://www.dgb.de/themen/++co++fcd231d8-aded-11e3-8ecb-52540023ef1a (zuletzt abgerufen am 20. Januar 2016). 29 30 31 Vgl. BRÜCKER, Herbert et al., Flüchtlinge und andere Migranten am deutschen Arbeitsmarkt: Der Stand im September 2015, S. 4, abrufbar im Internetauftritt des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit): http://doku.iab.de/aktuell/2015/aktueller_bericht_1514.pdf (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2015). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 13 Das Bundesverfassungsgericht hebt insbesondere im Hinblick auf sozialpolitische und wirtschaftsordnende Maßnahmen stets den Einschätzungs- und Bewertungsspielraum des Gesetzgebers hervor.32 Im Rahmen seines Einschätzungsspielraumes muss der Gesetzgeber einen entsprechenden Zusammenhang jedenfalls nicht als sicher annehmen. Soweit jedoch die oben zitierten Aussagen zutreffen, wonach der Verzicht auf eine Ausbildung auch vor dem Hintergrund familiärer Verpflichtungen oder abzuzahlender Schulden bei Schlepperbanden erfolgt, erscheint die Annahme eher fernliegend, dass für diese Flüchtlinge die finanzielle Attraktivität einer ungelernten Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt gegenüber einer Berufsausbildung gegen eine Ausbildungsvergütung nach § 17 des Berufsbildungsgesetzes, die lediglich als Unterhaltsbeitrag zur Finanzierung der Berufsausbildung dient33, durch eine gesetzliche Mindestlohnausnahme nennenswert an Wirkung verlöre. Zur wirkungsvollen Vermeidung von berufsbildungspolitischen Fehlanreizen dürfte eine Mindestlohnausnahme für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund mithin vor dem dargelegten Hintergrund auch unter Berücksichtigung des weiten gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums kaum geeignet sein. Die unter Punkt 4.2.2.1 festgestellte Geeignetheit einer Mindestlohnausnahme im Hinblick auf die Verbesserung von Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund und die damit verbundene Förderung ihrer Arbeitsmarktintegration bleibt davon unberührt, so dass die Geeignetheit insgesamt nicht in Frage steht. 4.2.3. Erforderlichkeit einer Ausnahme Eine geeignete gesetzliche Maßnahme, die zu Ungleichbehandlung führt, muss zu ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung darüber hinaus auch erforderlich sein. Erforderlich ist eine Regelung , wenn es kein milderes - aber dennoch gleich geeignetes - Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels gibt. 4.2.3.1. Regelungen und Maßnahmen der Arbeitsförderung Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund zum Teil bereits nach geltendem Recht einer Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn unterfallen. So sind, wie bereits erwähnt, knapp fünf Prozent zwischen 15 und 18 Jahre alt und damit als Jugendliche bereits nach § 22 Abs. 2 S. 1 MiLoG vom Mindestlohn befreit. Menschen mit Fluchthintergrund 32 GRZESZICK, Bernd, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Ausnahmeregelungen zum gesetzlichen Mindestlohn , März 2014, München: Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (VBW), S. 11 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. Abrufbar im Internetauftritt des VBW: http://www.vbw-bayern .de/vbw/Aktionsfelder/Recht/Arbeits-und-Sozialversicherungsrecht/Ausnahmeregelungen-vom-gesetzlichen -Mindestlohn-sind-zul%C3%A4ssig.jsp (zuletzt abgerufen am 20. Januar 2016). 33 Vgl SCHLACHTER, Monika, in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 17 BBiG Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 14 können sich nach § 32 Abs. 1 S. 1 BeschV bereits nach dreimonatigem Aufenthalt in Deutschland bei den Jobcentern arbeitsuchend melden. Sofern sie ein Jahr oder länger arbeitsuchend sind, gelten sie wie andere Arbeitnehmer als Langzeitarbeitslose im Sinne des § 18 SGB III und es greift für sie § 22 Abs. 4 S. 1 MiLoG, der eine sechsmonatige Ausnahme bei Einstellung eines langzeitarbeitslosen Arbeitnehmers vorsieht. Auf wie viele Personen dies zutrifft, lässt sich freilich nicht quantifizieren, zumal Voraussetzung stets die aktive Meldung der Betroffenen als arbeitsuchend ist. Auch soweit Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund im Rahmen von Praktika eingestellt werden ,34 gelten für sie bereits die in § 22 Abs. 1 S. 2 MiLoG vorgesehenen Ausnahmen. Angesichts der engen gesetzlichen Grenzen für solche Praktika dürfte allerdings eine nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt auf diesem Weg nur im Ausnahmefall zu erwarten sein. Aber nicht nur durch bestehende Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch durch eine Reihe weiterer gesetzlicher Maßnahmen wird die Arbeitsmarktintegration von Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund unterstützt. So wurde mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive die Möglichkeit geschaffen , die Integration in den Arbeitsmarkt durch zusätzliche Maßnahmen der berufsbezogenen Deutschsprachförderung (§ 45a AufenthG) zu unterstützen; Asylbewerbern mit Bleibeperspektive wurde der Zugang zu Maßnahmen der Vermittlung und Aktivierung sowie die Förderung zusätzlicher Sprachkurse ermöglicht (§§ 131 und 421 SGB III). Die Unterstützungsleistungen der Agenturen für Arbeit und Jobcenter gehen dabei von Beratung, Kompetenzfeststellung und Bewerbungstraining , Akquise passender Arbeits- und Ausbildungsstellen, Ausbildungsförderungen bis hin zu Praktika beim Arbeitgeber.35 Anerkannten Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) erhalten, steht darüber hinaus aus dem Instrumentarium der Arbeitsförderung als Ermessensleistung auch der Eingliederungszuschuss zur Verfügung, der Arbeitgebern gewährt werden kann, die Arbeitslose mit besonderen Vermittlungserschwernissen einstellen (§§ 88 ff. SGB III). Flüchtlinge und Asylbewerber ohne hinreichende berufliche Qualifikation profitieren daneben auch von entsprechenden Programmen der Bundesregierung wie etwa der am 12. Dezember 2014 mit Vertretern der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Länder beschlossenen „Allianz für 34 Vgl. dazu z.B. BA, „Praktika“ und betriebliche Tätigkeiten für Asylbewerber und geduldete Personen, abrufbar im Internetauftritt der BA: https://www.arbeitsagentur.de/web/wcm/idc/groups/public/documents/webdatei /mdaw/mjc3/~edisp/l6019022dstbai772426.pdf?_ba.sid=L6019022DSTBAI772429 (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2016). 35 Vgl zu den verschiedenen Angeboten BA: Integration von Flüchtlingen, abrufbar im Internetauftritt der BA: https://www.arbeitsagentur.de/web/content/DE/dienststellen/rdby/schwandorf/Agentur/BuergerinnenundBuerger /Asylsuchende/index.htm (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 15 Aus- und Weiterbildung“, die auch die besondere Förderung von Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund bei der Arbeitsmarktintegration zum Ziel hat.36 Gleiches gilt für das mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) durchgeführte Bundesprogramm zur arbeitsmarktlichen Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit Zugang zum Arbeitsmarkt.37 Allerdings wird die Erforderlichkeit einer Ausnahmeregelung nicht bereits dadurch in Frage gestellt , dass der von einer Regelung erfasste Personenkreis bereits eine besondere Förderung durch die Arbeitsmarktpolitik genießt. Denn dem Gesetzgeber ist es aufgrund des weiten legislativen Gestaltungsspielraums grundsätzlich nicht verwehrt, dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen anzustreben, zumal, wenn es sich um ein Ziel von so herausgehobener gesellschaftlicher Bedeutung handelt wie die nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt. 4.2.3.2. Alternative Mittel Bedenken gegen die Erforderlichkeit einer pauschalen Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund könnten sich aus der Heterogenität des angesprochenen Personenkreises ergeben.38 Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund eint zwar ihre fremde Herkunft und der Fluchthintergrund, im Übrigen aber bilden sie im Hinblick auf Altersstruktur, schulische und berufliche Qualifikationen, gesundheitliche oder familiäre Einschränkungen sowie schließlich auch sprachliche Kompetenz ein breites Spektrum arbeitsmarktrelevanter Umstände ab, das höchst unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich der Förderung der Eingliederung des Einzelnen in den Arbeitsmarkt zur Folge hat. Für eine im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktintegration für viele Arbeitnehmer fraglos erforderliche Verbesserung der Sprachkenntnisse erscheint die Regelung einer Ausnahme vom Mindestlohn deshalb nicht erforderlich, weil sprachliche Defizite dadurch nicht unmittelbar behoben werden können. Allenfalls kann die Hoffnung greifen, dass sich die Deutschkenntnisse eines Arbeitsnehmers durch die Kommunikation am Arbeitsplatz während der Zeit der Ausnahme verbessern . Sinnvoller als eine Ausnahme vom Mindestlohn dürfte insoweit eine Ausweitung des Angebots gezielter Sprachkurse sein, die auf das jeweilige Sprach- und Bildungsniveau zugeschnitten werden könnten. Da damit eine Ungleichbehandlung nicht verbunden ist, stellen sie eine weniger belastende Maßnahme dar. Aber auch Ausnahmen vom gesetzlichen Mindestlohn könnten gegenüber einer pauschalen Ausnahme milder gestaltet werden, indem der tatbestandlich von ihnen erfasste Personenkreis nach 36 Vgl dazu den Internetauftritt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi): http://www.bmwi.de/DE/Themen/Ausbildung-und-Beruf/allianz-fuer-aus-und-weiterbildung.html (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2016). 37 Vgl dazu den Internetauftritt zum ESF http://www.esf.de/portal/DE/Foerderperiode-2014-2020/ESF-Programme /bmas/2014-10-21-ESF-Integrationsrichtlinie-Bund.html (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2016). 38 Vgl. zur Qualifikationsstruktur unter Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund BRÜCKER, Herbert et al. (Fn. 31), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 16 bedarfsgerechten Kriterien enger gefasst würde. So erscheint es trotz aller hiergegen zu erhebenden Bedenken39 nicht als völlig sachwidrig und außerhalb des legislativen Gestaltungsspielraums , wenn der Gesetzgeber, zur Vermeidung bildungspolitischer Fehlanreize die Mindestlohngrenze für Jugendliche nach § 22 Abs. 2 MiLoG auf junge Erwachsene bis 21 Jahre ausdehnte. Ob dies jedoch auf Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund beschränkt werden könnte, erscheint angesichts der für alle jungen Arbeitnehmer grundsätzlich vergleichbaren Lebenssituation fraglich. Vor dem Hintergrund der nicht zu unterschätzenden Bedeutung von deutschen Sprachkenntnissen und Kenntnissen über das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland sollte jeder Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund unabhängig von einer möglichen Verpflichtung (etwa bei Empfängern von Leistungen nach dem SGB II) an einem Integrationskurs nach § 43 AufenthG teilnehmen. Unter der Voraussetzung, dass diese Kurse in hinreichendem Umfang angeboten werden, wäre eine Aussetzung des Mindestlohns für Arbeitnehmer bis zum Abschluss eines Integrationskurses vom gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums möglicherweise ebenfalls gedeckt. Zusammenfassend ist festzustellen, dass dem Gesetzgeber zwar auch verallgemeinernde und pauschalierende Betrachtungen grundsätzlich erlaubt sind. Vor allem vor dem Hintergrund der Heterogenität der Gruppe der Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund liegt aber die Annahme nahe, dass eine pauschale Mindestlohnausnahme für diese Gruppe nicht erforderlich wäre. Vielmehr dürften - wie dargestellt - zur Förderung der Arbeitsmarktintegration Maßnahmen zur Verfügung stehen , die bei gleicher Eignung weniger belastend wären. Entsprechende Bedenken hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit einer pauschalen Mindestlohnausnahme für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund sind mithin trotz der durch das Bundesverfassungsgericht besonders hervorgehobenen Einschätzungs- und Bewertungsspielraums des Gesetzgebers im Hinblick auf sozialpolitische und wirtschaftsordnende Maßnahmen nicht von der Hand zu weisen. 4.2.4. Angemessenheit einer Ausnahme Im Rahmen der für die Verfassungsmäßigkeit eines Eingriffs in das Grundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG ebenfalls erforderlichen Angemessenheit einer Ungleichbehandlung muss der Gesetzgeber schließlich innerhalb seines Gestaltungsspielraumes einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen gefunden haben. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass ein hohes individuelles und gesamtgesellschaftliches Interesse daran besteht, auch Menschen mit Fluchthintergrund nachhaltig in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dem steht das Individualinteresse der betroffenen Personen an einer Beschäftigung zum garantierten Mindestlohn gegenüber. Auch die Individualinteressen anderer Arbeitnehmer , für die das Mindestlohngesetz ausnahmslos greift, sind betroffen. Schließlich ist aus ordnungspolitischer Sicht auch der gesamtgesellschaftliche Kontext zu berücksichtigen. 39 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 17 4.2.4.1. Dauer der Ausnahme Eine zeitlich unbegrenzte pauschale Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für alle Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund wäre offensichtlich unverhältnismäßig. Denn ab einem bestimmten Zeitpunkt bedürfen die Betroffenen zum Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht mehr der mit der Mindestlohnausnahme intendierten Förderung. Als gesetzlicher Anhaltspunkt für eine zeitliche Begrenzung einer pauschalen Ausnahme könnte die Höchstdauer von sechs Monaten dienen, die für die Ausnahme bei der Einstellung von Langzeitarbeitslosen nach § 22 Abs. 4 S. 1 MiLoG gilt und die sich zudem mit der gesetzlichen Höchstgrenze für die Vereinbarung einer Probezeit in § 622 Abs. 3 BGB sowie der von der Rechtsprechung anerkannten regelmäßigen Höchstdauer einer Erprobungsbefristung nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG)40 deckt. In diese Richtung zielt auch der Vorschlag des Sachverständigenrats für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, anerkannte Flüchtlinge ohne weitere Voraussetzungen als langzeitarbeitslos im Sinne des § 22 Abs. 4 S. 1 MiLoG anzusehen. 4.2.4.2. Heterogenität des Personenkreises Den bisher gesetzlich geregelten Mindestlohnausnahmen für Jugendliche ohne Berufsausbildung (§ 22 Abs. 2 MiLoG) sowie für Langzeitarbeitslose (§ 22 Abs. 4 MiLoG) ist gemein, dass sie aus Sicht des Gesetzgebers mit dem ihm zustehenden Beurteilungsspielraum einen hinreichend homogenen Personenkreis umfassen, die jeweils ähnliche arbeitsmarktrelevante Charakteristika aufweisen . Die diesen Regelungen zugrundeliegende Verallgemeinerungen bei der Einschätzung der Wirksamkeit der Ausnahmen (siehe oben Punkt 3) sind dem Gesetzgeber nicht verwehrt. Eine solche Homogenität ist allerdings im Hinblick auf die diskutierte pauschale Ausnahme für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund nicht feststellbar. Vielmehr weist diese Gruppe nur wenige arbeitsmarktrelevante Gemeinsamkeiten auf. Allein fehlende Deutschkenntnisse dürften auf die überwiegende Mehrzahl zutreffen. Im Übrigen aber finden sich innerhalb der Gruppe der geflüchteten Menschen aller Altersstufen hochqualifizierte Fachkräfte wie nichtqualifizierte Arbeiter , Menschen mit guten Fremdsprachenkenntnissen ebenso wie Menschen ohne ausreichende Schulbildung.41 Dies zeugt von einer offensichtlichen Heterogenität der angesprochenen Personengruppe , die pauschalierende oder verallgemeinernde Aussagen zu ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder Produktivität auf dem deutschen Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich der Art und Dauer der zur Förderung ihrer Arbeitsmarktintegration notwendigen Maßnahmen kaum zulässt. Dies gilt auch für die Frage des Nutzens einer Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn. Ausreichend qualifizierte Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund benötigen die Ausnahme unter Umständen gar nicht und werden durch die dem Arbeitgeber eingeräumte Möglichkeit, Beschäftigung 40 MÜLLER-GLÖGE, Rudi in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, § 14 TzBfG Rn. 49 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG. 41 Vgl. zur Qualifikationsstruktur unter Arbeitnehmern mit Fluchthintergrund BRÜCKER, Herbert et al. (Fn. 31), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 18 unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns anzubieten, unangemessen benachteiligt. Andere sind übergangsweise oder vielleicht sogar dauerhaft auf Maßnahmen zum Ausgleich mangelnder Produktivität angewiesen. Nutzen und Schaden einer Mindestlohnausnahme für den einzelnen Arbeitnehmer würden innerhalb dieser Gruppe stark differieren. 4.2.4.3. Interessen anderer Arbeitnehmer und Arbeitsmarktgerechtigkeit Bei der Interessensabwägung hat der Gesetzgeber vorliegend jedoch auch die Interessen der anderen Arbeitnehmer zu berücksichtigen, für die die Mindestlohnausnahme nicht gilt. Für sie bedeutet eine pauschale Ausnahme vom Mindestlohn für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund einen Wettbewerbsnachteil, da sie befürchten müssen, dass Arbeitgeber bei gleicher Qualifikation einen für sie günstigeren Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund bevorzugt einstellen. In Anbetracht der relativ großen Zahl der zu integrierenden Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund wäre eine Mindestlohnausnahme für diese Gruppe daher grundsätzlich geeignet, den Arbeitsmarkt insgesamt zu verzerren und damit die Arbeitsmarktgerechtigkeit zu bedrohen. Derartige Befürchtungen könnten letztlich auch dem einleitend zitierten Vorschlag von Sinn zugrunde liegen, eine allgemeine Ausnahme vom Mindestlohn für Berufsneueinsteiger zu regeln. 4.2.4.4. Gesellschaftliche Risiken Schließlich ist aus ordnungspolitischer Sicht auch der gesamtgesellschaftliche Kontext zu berücksichtigen . Denn auch die gesamtgesellschaftlichen Interessen dürften von einer pauschalen Bevorzugung aller Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund auf dem Arbeitsmarkt betroffen sein. Insbesondere vor dem Hintergrund der weiter angespannten und von vielen Menschen als Krise wahrgenommenen Flüchtlingssituation wäre die angesprochene Gefahr von Verzerrungen des Arbeitsmarktes zu Gunsten der Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund geeignet, den sozialen Frieden zu gefährden und ausländerfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft Vorschub zu leisten. Einer sozialen Integration der bevorzugten Gruppe wäre damit jedenfalls nicht gedient. Die Entstehung unerwünschter sog. Parallelgesellschaften könnte die Folge sein. Da dem Rechtsgut der gesamtgesellschaftlichen Stabilität auch aus verfassungsrechtlicher Sicht eine herausragende Bedeutung zukommt (siehe oben Punkt 4.2, S. 8), muss ihm auch bei der im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit einer Maßnahme erforderlichen Interessensabwägung in besonderem Maße Rechnung getragen werden. 4.2.5. Zwischenergebnis Vor dem dargelegten Hintergrund dürfte in der Gesamtschau davon auszugehen sein, dass die gesetzliche Regelung einer pauschalen Ausnahme vom Mindestlohn für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund die betroffenen Interessen nicht in verfassungsrechtlich angemessener Weise in Ausgleich bringen könnte. Neben der Problematik der ausgeprägten Heterogenität der Gruppe der Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund wäre angesichts der Größe des von der Mindestlohnausnahme Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 004/16 Seite 19 betroffenen Personenkreises insbesondere die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen am Arbeitsmarkt zu Lasten der übrigen Arbeitnehmer zu besorgen. Überdies würde die breite Bevorzugung der Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund letztlich Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bergen und die für eine stabile gesellschaftliche Entwicklung wichtige soziale Integration der Menschen mit Fluchthintergrund zusätzlich behindern. Insgesamt dürfte damit eine pauschale Mindestlohnausnahme unabhängig von der vorgesehenen Dauer nicht als angemessen im Sinne der verfassungsrechtlichen Interessenabwägung zu betrachten sein. 5. Fazit Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass eine pauschale Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund, wie sie in der öffentlichen Diskussion verschiedentlich gefordert wird, eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem darstellt, denn sie bevorzugt diese Arbeitnehmergruppe und deren Arbeitgeber bei der Aufnahme einer Beschäftigung gegenüber anderen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sie ist zwar grundsätzlich geeignet, die Eingliederung des betroffenen Personenkreises in den deutschen Arbeitsmarkt zu fördern. Fraglich erscheint allerdings die Erforderlichkeit einer solchen Regelung, weil weniger belastende Maßnahmen zur Verfügung stehen, die zur Förderung der Arbeitsmarktintegration gleich geeignet sein könnten. Vor allem würde die Regelung in der gebotenen Gesamtschau die betroffenen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Interessen wohl nicht verfassungsrechtlich angemessen in Ausgleich bringen und den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum damit überschreiten. Die verbindliche Entscheidung über die Verfassungsmäßig einer pauschalen Mindestlohnausnahem für Arbeitnehmer mit Fluchthintergrund obläge allein dem Bundesverfassungsgericht. Ende der Bearbeitung