© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 003/16 Beweisanforderungen für Ansprüche auf Sozialleistungen aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 2 Beweisanforderungen für Ansprüche auf Sozialleistungen aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 003/16 Abschluss der Arbeit: 18. Januar 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Untersuchungsgrundsatz im Sozialrecht 4 2. Ausnahmeregelungen zur sonst erforderlichen Vorlage eines Nachweises 4 2.1. Grundsicherung für Arbeitsuchende 4 2.2. Arbeitsförderung 5 2.2.1. Glaubhaftmachung 5 2.2.2. Wahrscheinlichkeit 6 2.3. Gesetzliche Rentenversicherung 6 2.4. Gesetzliche Unfallversicherung 7 2.5. Sozialhilfe 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 4 1. Untersuchungsgrundsatz im Sozialrecht Nach dem Untersuchungsgrundsatz aus § 20 Abs. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) ermittelt die Behörde den zur Erbringung einer Sozialleistung voraussetzenden Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. Nach dem Grundsatz der Formfreiheit des Sozialverwaltungsverfahrens und in Ermangelung einer konkreten Verfahrensregelung entscheidet die Behörde über die Bewilligung einer Sozialleistung in freier Beweiswürdigung. Die Beteiligten sollen gemäß § 21 Abs. 2 SGB X bei der Ermittlung des Sachverhalts mitwirken. Die Mitwirkungspflichten sind in §§ 60 bis 67 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) geregelt . Als Folge fehlender Mitwirkung kann eine Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt werden. Der Leistungsträger kann nach Ausschöpfung der für ihn erreichbaren Beweismittel den Umstand so würdigen, dass die potentiell berechtigte Person keinen Beitrag zur Klärung der Frage geleistet hat, ob die Anspruchsvoraussetzungen bestehen oder nicht bestehen und die Leistung versagen.1 Im Sozialrecht bedürfen die anspruchsbegründenden Tatsachen im Allgemeinen des vollen Beweises , sofern nicht aufgrund ausdrücklicher Ausnahmevorschriften geringere Beweisanforderungen wie etwa die Wahrscheinlichkeit, die Glaubhaftmachung oder die Vermutung genügen. Der Beweis erfordert eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit; eine Tatsache ist bewiesen , wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Wahrscheinlich hingegen ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt; es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus noch gewisse Zweifel bestehen können.2 2. Ausnahmeregelungen zur sonst erforderlichen Vorlage eines Nachweises Für Ansprüche auf Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bestehen hinsichtlich der Beweisanforderungen folgende Regelungen: 2.1. Grundsicherung für Arbeitsuchende Im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) sind keine Ausnahmeregelungen vorgesehen. Alle Leistungen werden nur bei nachgewiesener Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II) erbracht. 1 KassKomm/Mutschler SGB X § 20 Rn. 9 und § 21 Rn. 9-10. 2 BSG, Urteil vom 22. September 1977 – 10 RV 15/77 –, SozR 3900 § 40 Nr 9, BSGE 45, 1-11, Rn. 32. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 5 Die nach § 16a SGB II ergänzenden sozialen Maßnahmen (Kinderbetreuung, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung, Suchtberatung) können als kommunale Eingliederungsleistungen flankierend erbracht werden. Vorliegende Hilfebedürftigkeit ist jedoch zwingende Voraussetzung, das bedeutet auch, dass keine vorbeugende oder nachgehende Hilfe möglich ist (siehe Bundessozialgericht , Urteil vom 13. Juli 2010, B 8 SO 14/09 R). 2.2. Arbeitsförderung 2.2.1. Glaubhaftmachung Im Dritten Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III) sind im Rahmen der Mitwirkungspflicht (§§ 60 ff. SGB I) anspruchsbegründende Tatsachen in der Regel nachzuweisen. In einigen Fällen sieht das SGB III allerdings ausdrücklich Nachweiserleichterungen in der Form vor, dass die Glaubhaftmachung bestimmter Umstände für ausreichend erachtet wird. „Die Glaubhaftmachung ist lediglich eine Form der Überzeugungsbildung, die geringere Anforderungen stellt, als der Nachweis. Es genügt überwiegende Wahrscheinlichkeit. Hierzu ist die eidesstattliche Versicherung zugelassen.“3 Bestimmte Maßnahmen der Arbeitsförderung sind Langzeitarbeitslosen vorbehalten. Voraussetzung dafür ist eine Arbeitslosigkeitsdauer von mindestens einem Jahr, wobei bestimmte Unterbrechungen unberücksichtigt bleiben (§ 18 Abs. 2 SGB III). Die Tatsachen der Unterbrechungen sind der Agentur für Arbeit in der Regel bekannt, wenn die Unterbrechung in Zeiten des Leistungsbezuges fällt. Sind sie es nicht, reicht für alle Unterbrechungstatbestände die Glaubhaftmachung aus (§ 18 Abs. 3 SGB III). Erleichterte Nachweispflichten bestehen auch im Zusammenhang mit der Vorausleistung von Berufsausbildungsbeihilfe (§§ 56-71 SGB III). Auszubildenden kann von der Agentur für Arbeit unter bestimmten Voraussetzungen Berufsausbildungsbeihilfe gewährt werden, wenn die erforderlichen Mittel zur Deckung des Bedarfs für den Lebensunterhalt, die Fahrkosten und die sonstigen Aufwendungen nicht anderweitig zur Verfügung stehen. Dabei ist insbesondere ein einkommensabhängiger Unterhaltsbeitrag der Eltern zu berücksichtigen. Nach § 68 Abs. 1, 1. Alt. SGB III reicht es für eine Vorausleistung der Berufsausbildungsbeihilfe aus, wenn der Auszubildende glaubhaft macht, dass seine Eltern den angerechneten Unterhaltsbetrag nicht leisten. Ein bestehender Anspruch auf Unterhaltsleistungen geht allerdings in diesem Fall nach § 68 Abs. 2 Satz 1 SGB III bis zur Höhe des anzurechnenden Unterhaltsanspruchs zusammen mit dem unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruch mit der Zahlung der Berufsausbildungsbeihilfe auf die Agentur für Arbeit über. Erleichterte Nachweispflichten bestehen auch im Zusammenhang mit dem Kurzarbeitergeld (§§ 95 - 111 SGB III). Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können bei erheblichem Arbeitsausfall mit Entgeltausfall Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben. Voraussetzung ist nach § 99 Abs. 1 SGB III, dass der Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung den Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit angezeigt. Mit der Anzeige ist nach § 99 Abs. 1 Satz 4 SGB III glaubhaft zu machen, dass 3 Gagel/ STRIEBINGER: SGB II / SGB III. 59. EL September 2015. § 18 SGB III Rn. 37. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 6 ein erheblicher Arbeitsausfall besteht und die betrieblichen Voraussetzungen für das Kurzarbeitergeld erfüllt sind. Macht der Arbeitgeber geltend, der Arbeitsausfall sei die Folge eines Arbeitskampfes, so hat er dies nach § 100 Abs. 2 Satz 1 SGB III darzulegen und ebenfalls glaubhaft zu machen. 2.2.2. Wahrscheinlichkeit Der Glaubhaftmachung ähnlich ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Auf sie stellt das SGB III in Fällen der Entscheidung über Vorschussleistungen oder vorläufige Entscheidungen über die Erbringung von Geldleistungen ab. Auf die hinreichenden Wahrscheinlichkeit wird beispielsweise bei der Entscheidung über Vorschussleistungen auf das Insolvenzgeld (§§ 165-175 SGB III) abgestellt. Arbeitnehmer können bei Insolvenz ihres Arbeitgebers Anspruch auf Insolvenzgeld haben. Auf das Insolvenzgeld kann die Agentur für Arbeit nach § 168 Satz 1 Nr. 3 SGB III unter bestimmten weiteren Umständen einen Vorschuss leisten, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erfüllt werden. Die Beurteilung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit erfolgt im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens durch die Agentur für Arbeit. Über die Erbringung von Geldleistungen nach dem SGB III kann nach § 328 Abs. 1 SGB III unter bestimmten Umständen vorläufig entschieden werden. Dies ist u.a. der Fall, wenn zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers auf Geldleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen und die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat (§ 328 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 SGB III). Nach der Kommentarliteratur lässt sich „die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ (…) so verstehen, dass hier Abstufungen nach dem Grad der Eilbedürftigkeit und dem Gewicht der zu treffenden Entscheidungen möglich sind. (…) In ähnlicher Weise lässt sich argumentieren, dass ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit „hinreichend “ ist, wenn die Gründe für eine vorläufige Leistungsgewährung von besonderem Gewicht sind.“4 2.3. Gesetzliche Rentenversicherung Aus der Versicherung einer verschollenen Person kann gemäß § 49 SGB VI auch ohne den Nachweis des Todes eine Hinterbliebenenrente gewährt werden, wenn die Umstände ihren Tod wahrscheinlich machen und seit einem Jahr Nachrichten über ihr Leben nicht eingegangen sind. Bei Beschäftigungszeiten, die den Trägern der Rentenversicherung ordnungsgemäß gemeldet worden sind, wird gemäß § 199 SGB VI vermutet, dass während dieser Zeiten ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit dem gemeldeten Arbeitsentgelt bestanden hat und der Beitrag dafür wirksam gezahlt worden ist. Eines weitergehenden Beweises bedarf es insoweit nicht. Eine Entsprechende Regelung enthält § 286c SGB VI für in den Versicherungsunterlagen 4 Gagel/KALLERT: SGB II / SGB III. 59. EL September 2015, § 328 SGB III Rn. 49, 50. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 7 der Sozialversicherung der DDR ordnungsgemäß bescheinigte Arbeitszeiten oder Zeiten der selbständigen Tätigkeit. Das SGB VI kennt ferner diverse Regelungen, nach denen für die Anerkennung nicht nachgewiesener rentenrechtlicher Zeiten die Glaubhaftmachung ausreicht. Unter anderem reicht gemäß § 203 SGB VI für die Anerkennung einer Beschäftigungszeit als Beitragszeit aus, wenn die Versicherten glaubhaft machen, dass sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt ausgeübt haben und für diese Beschäftigung entsprechende Beiträge gezahlt worden sind. Entsprechende Regelungen sind für länger zurückliegende Zeiten beispielsweise in § 244 Abs. 3 SGB VI für die Anrechnung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld vor dem 1. Januar 2001 und in § 249 Abs. 5 SGB VI für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 enthalten. Auch für die Feststellung von Zeiten für Spätaussiedler genügt gemäß § 4 Fremdrentengesetz (FRG) die Glaubhaftmachung. 2.4. Gesetzliche Unfallversicherung § 63 Abs. 4 SGB VII enthält für die Gewährung einer Hinterbliebenenente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bei Verschollenheit eine der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechende Regelung. 2.5. Sozialhilfe Im Rahmen der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII) sind keine Ausnahmeregelungen vorgesehen. Die Sozialhilfe ist eine nachrangige Leistung (§ 2 SGB XII). Sie wird nur Personen gewährt, die den notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Es können jedoch – sofern nachweislich eigenes Einkommen und Vermögen nicht ausreichen - nach den §§ 67 ff Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gewährt werden. Leistungsberechtigte (§ 67 SGB XII) sind Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind. Die ergänzende „Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“5 definiert in § 1 die persönlichen Voraussetzungen. Danach bestehen nach Absatz 2 besondere Lebensverhältnisse „bei fehlender oder nicht ausreichender Wohnung, bei ungesicherter wirtschaftlicher Lebensgrundlage, bei gewaltgeprägten Lebensumständen, bei Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung oder bei vergleichbaren nachteiligen Umständen. Besondere Lebensverhältnisse können ihre Ursachen in äußeren Umständen oder in der Person der Hilfesuchenden haben.“ Allerdings ist jeder vorliegende Einzelfall „mit strengen Maßstäben an die jeweilige Notlagensituation zu messen. (…) Gewaltprägende Lebensverhältnisse bestehen bei einer Gewalterfahrung 5 Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten vom 24. Januar 2001 (BGBl. I S. 179), die durch Artikel 14 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022) geändert worden ist; BSHG§72DV 2001. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 003/16 Seite 8 oder –bedrohung, die so intensiv und aktuell ist, dass sie die Lebenssituation einer Person insgesamt bestimmt.“6 In den weiteren Ausführungen ist insbesondere der Ausstieg aus der Prostitution genannt. Keine besonderen Lebensumstände sind grundsätzlich anzunehmen bei einem Aufenthalt in einem Frauenhaus (siehe Luthe in: Hauck/Noftz, SGB, 11/14, § 67 SGB XII, Rn. 35). Etwas anderes kann jedoch bei einem durch Fehlleistungen des Verstandes und des Gemüts geprägten Trennungskonflikt gelten. Hier kann ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Aufenthalt in einem Frauenhaus bestehen (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20. März 2000 – 16 A 3189/99). Ende der Bearbeitung 6 BR-Drs. 734/00, S. 10.