© 2017 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 002/17 Mindestlohnfreiheit von Anpassungspraktika nach dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Regelung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes Das Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz – BQFG)1 sieht im Rahmen des förmlichen Verfahrens zur Feststellung der Gleichwertigkeit einer im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikation in einem nicht reglementierten Ausbildungsberuf die Möglichkeit vor, Defizite bei den berufspraktischen Kenntnissen durch eine individuelle betriebliche Anpassungsqualifizierung auszugleichen, wenn wesentliche Unterschiede zwischen den nachgewiesenen Berufsqualifikationen und der entsprechenden inländischen Berufsbildung vorliegen (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BQFG). Sie erfolgt in der Regel in der Form eines Praktikums. Die zuständige Anerkennungsstelle legt im Rahmen eines Zwischenbescheids nach dem BQFG Ausbildungsinhalt und erforderliche Dauer des Praktikums auf der Grundlage der beruflichen Ausbildungsordnungen fest.2 Ähnliches gilt bei reglementierten Berufen , bei denen fehlende berufspraktische Kenntnisse im Rahmen eines Anpassungslehrgangs erworben werden müssen (§ 11 BQFG). Dem aktuellen Bericht der Bundesregierung zum Anerkennungsgesetz zufolge lag 2014 der Anteil der Anträge auf Feststellung der Gleichwertigkeit, bei denen ein Nachqualifizierungsbedarf festgestellt wurde, bei gut 30 Prozent.3 2. Gemeinsame Auslegung der Exekutive 2.1. Berichterstattung Anfang Januar 2017 berichteten mehrere Zeitungen4 über ein von den Bundesministerien für Arbeit und Soziales (BMAS), für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Finanzen (BMF) verfasstes Papier mit dem Titel „Gemeinsame Auslegung und Praxishinweise zur Anwendung des Mindestlohngesetzes [MiLoG] im Kontext der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen “, wonach betriebliche Phasen einer Anpassungsqualifizierung nach dem BQFG wie Pflichtpraktika nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG zu werten sein und wie diese nicht unter die Min- 1 Artikel 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen vom 6. Dezember 2011, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2015 (Umsetzung der EU-Richtlinie 2013/55/EU). 2 Vgl. dazu näher das Internetportal des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zum BQFG: https://www.bq-portal.de/de/seiten/rechtliche-grundlagen-0 (letzter Abruf: 10. Januar 2017). 3 Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016, S. 31, abrufbar im Internetauftritt des BMBF: https://www.bmbf.de/pub/Bericht_zum_Anerkennungsgesetz_2016.pdf (letzter Abruf: 10. Januar 2017). 4 Vgl. z.B. Öchsner, Thomas: 8,84 Euro Mindestlohn – aber nicht immer, in Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 2017, S. 5; Siems, Dorothea: Einschränkungen für Flüchtlinge beim Mindestlohn, in Die Welt vom 3. Januar 2017, S. 11; Doehmens, Karl: Ausnahmen beim Mindestlohn?, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Januar 2017, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 5 destlohnpflicht fallen sollen. Die Anforderungen an die Ausnahme vom Mindestlohn werden dabei anhand von Beispielsfällen aufgeführt. Das bisher unveröffentlichte Papier sei nach Auskunft einer Sprecherin des BMAS noch nicht endgültig abgestimmt.5 Den Presseberichten zufolge kritisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die gemeinsame Auslegung, weil sie die missbräuchliche Ausnutzung von Migranten durch die Unternehmen als billige Arbeitskräfte fördere. In ähnlichem Sinne wird auch der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der AfD Georg Pazderski zitiert, der hierin eine Entwicklung zum Nachteil deutscher Arbeitnehmer erkenne. Die Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Sahra Wagenknecht lehnt das Papier danach ebenfalls ab; es lade zu Lohndumping ein und schüre fremdenfeindliche Ressentiments. Demgegenüber wird die gemeinsame Auslegung von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) grundsätzlich begrüßt, die jedoch die Auffassung vertritt, es dürfe insoweit kein Sonderrecht für Flüchtlinge geben. Auch die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag Brigitte Pothmer wandte sich der Berichterstattung zufolge gegen eine Sonderauslegung des MiLoG für Flüchtlinge . 2.2. Rechtswirkung Hervorzuheben ist, dass für die verbindliche Entscheidung der Rechtsfrage, ob ein Praktikum zur Anpassungsqualifizierung im Rahmen des BQFG (im Folgenden: Anpassungspraktikum) wie ein Pflichtpraktikum dem Mindestlohnprivileg des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG unterfällt, nach der Verfassungsrechtsordnung allein die Arbeitsgerichte zuständig sind, die autonom die Auslegung des Ausnahmetatbestands vornehmen und auf die jeweiligen Umstände im zu entscheidenden Sachverhalt anwenden. Die in dem zitierten Papier wiedergegebene gemeinsame Auffassung der Exekutive zu dieser Rechtsfrage bindet die unabhängigen Arbeitsgerichte nicht. Es bleibt vielmehr abzuwarten, wie die Arbeitsgerichte die Rechtslage im Rahmen einschlägiger Rechtsstreitigkeiten im Einzelfall bewerten. 3. Betriebliche Anpassungspraktika als Pflichtpraktika Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MiLoG gelten auch Praktikantinnen und Praktikanten im Sinne des § 26 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne des MiLoG und haben damit Anspruch auf den Mindestlohn. § 22 Abs. 1 Satz 3 MiLoG enthält zudem eine Legaldefinition für Praktika. Praktikantin oder Praktikant ist danach „unabhängig von der Bezeichnung des Rechtsverhältnisses, wer sich nach der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses für eine begrenzte Dauer zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Erfahrungen einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit zur Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit unterzieht, ohne dass es sich dabei um eine Berufsausbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes oder um eine damit vergleichbare praktische Ausbildung handelt.“ 5 Das Papier lag dem Fachbereich in der Fassung vom 13. Dezember 2016 vor. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 6 Die Tatsache, dass die Antragsteller nach dem BQFG bereits Ausbildungen im Ausland abgeschlossen haben, führt nicht zu der Annahme, es handele sich bei den betrieblichen Phasen der Anpassungsqualifizierungen nicht um Praktika. Denn im Rahmen einer betrieblichen Anpassungsqualifikation sollen fehlende berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen erworben werden, die eine Gleichstellung mit einem deutschen Berufsabschluss erst ermöglichen. Eine Anpassungsqualifikation stellt andererseits auch keine einer Berufsausbildung vergleichbare Ausbildung dar. „Eine vergleichbare Ausbildung liegt vor, wenn die Ausbildung qualitativ und quantitativ einer Berufsausbildung im Sinne des BBiG nahekommt. Dies wird der Fall sein, wenn die Ausbildung zumindest zwei Jahre dauert.“6 Im Rahmen einer betrieblichen Anpassungsqualifikation soll nicht eine komplette Ausbildung durchgeführt oder nachgeholt werden; das Anpassungspraktikum dient vielmehr lediglich dem Ziel, im Rahmen der nachgewiesenen ausländischen Ausbildung fehlende Kenntnisse, Fähigkeiten und berufliche Erfahrungen zu erwerben, und stellt sich somit als Praktikum im Sinne dieser Definition dar. Vom Mindestlohn ausgenommen sind nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 - 4 MiLoG nur bestimmte Arten von Praktika; eine ausdrückliche Ausnahme für Anpassungspraktika im Kontext des BQFG enthält das MiLoG nicht. Zu den Ausnahmen zählen nach Nr. 1 aber Praktika, die auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie verpflichtend zu leisten sind (sog. Pflichtpraktika). Zu prüfen ist daher im Folgenden, ob ein Praktikum im Rahmen der Anpassungsqualifikation für die Anerkennung eines im Ausland erworbenen Berufsabschlusses unter den so definierten Begriff des Pflichtpraktikums fallen bzw. in entsprechender Anwendung der Regelung vom Mindestlohn ausgenommen sein kann. Dies muss im Wege der Auslegung ermittelt werden, im Rahmen derer vom Wortlaut der Bestimmung ausgehend die Gesetzessystematik, der gesetzgeberische Wille sowie Sinn und Zweck der Regelung herangezogen werden. 3.1. Wortlaut Nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG sind von der Regelung Praktika erfasst, die „auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie “ verpflichtend zu leisten sind. Schulische oder studentische Pflichtpraktika sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bereits von den Vorschriften des BBiG ausgenommen (vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 1 BBiG); insoweit kommt der Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 6 Riechert, Christian / Nimmerjahn, Lutz, Mindestlohngesetz, 1. Aufl. 2015, § 22 Rn. 39 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 7 Nr. 1 MiLoG lediglich deklaratorische Bedeutung zu.7 Die Formulierung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG ist aber detaillierter als die Bestimmung im BBiG.8 Grundlage von Pflichtpraktika können nach der Kommentarliteratur nicht nur Schulordnungen sowie Studien- und Prüfungsordnungen der Hochschulen sein, sondern z. B. auch § 5a Abs. 3 Satz 2 des Deutschen Richtergesetzes ,9 der zur Erlangung der Befähigung zum Richteramt ein dreimonatiges Praktikum im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Studiums vorschreibt. Durch den Begriff „Bestimmung“ wird verdeutlicht, „dass keine Regelung im Rahmen eines Gesetzes im materiell-rechtlichen Sinne gegeben sein muss.“10 Die abschließend formulierte Regelung beschränkt sich aber auf den Bereich der schulischen und studentischen Ausbildung sowie der Berufsbildung. Erfordernis sowie Inhalt und Umfang eines Anpassungspraktikums sind aber nicht durch eine schul- oder hochschulrechtliche Bestimmung oder durch eine Ausbildungsordnung festgelegt, sondern werden im Rahmen eines Verfahrens der Berufsqualifikationsfeststellung auf der Grundlage des BQFG von der Anerkennungsstelle bestimmt . Hinsichtlich Inhalt und Umfang orientieren sich die Anerkennungsstellen zwar an den Ausbildungsordnungen für die einzelnen Berufe, ohne dass sich die Anpassungsmaßnahmen jedoch unmittelbar danach richten. Dem Wortlaut nach sind mithin derartige Praktika nicht vom Ausnahmetatbestand erfasst. 3.2. Systematik § 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG bezieht zunächst grundsätzlich auch Praktikantinnen und Praktikanten ausdrücklich in den persönlichen Geltungsbereich des MiLoG ein. Ausnahmen von diesem Grundsatz („es sei denn“) sind in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 MiLoG ausdrücklich und abschließend 11 geregelt. Diese Systematik legt zunächst den Schluss nahe, dass auch die aufgezählten Ausnahmen restriktiv auszulegen sind. Das entspricht dem in der Gesetzesbegründung genannten Ziel, „den Missbrauch des sinnvollen Instruments des Praktikums einzuschränken“.12 7 Pötters, Stephan, in Thüsing: Mindestlohngesetz (MiLoG) und Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), Kommentar , 2. Auflage 2016, § 22 MiLoG Rn. 19; Riechert/Nimmerjahn (Fn. 6), § 22 Rn. 43 mit Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung des BAG. 8 Schubert, Jens / Jerchel, Kerstin, in Düwell/Schubert: Mindestlohngesetz, Handkommentar, 2. Auflage 2017, § 22 Rn. 29. 9 Forst, Gerrit, in Boecken/Düwell/Diller/Hanau: Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 22 MiLoG Rn. 12. 10 Pötters in Thüsing (Fn. 7), § 22 MiLoG Rn. 20; vgl. auch Greiner, Stefan, in Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht , 42. Edition, Stand 1. Dezember 2016, § 22 MiLoG, Rn. 25. 11 Vgl. Pötters in Thüsing (Fn. 7), § 22 MiLoG Rn. 7. 12 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz ), Bundestagsdrucksache 18/1558 vom 28. Mai 2014, S. 42; kritisch dazu wohl Pötters in Thüsing (Fn. 7), § 22 MiLoG Rn. 6 mit weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 8 Auch der systematische Ansatz spricht daher nicht für eine Einbeziehung von Anpassungspraktika im Kontext des BQFG. 3.3. Gesetzgeberischer Wille Aus der Historie des Gesetzgebungsverfahrens wird jedoch andererseits ersichtlich, dass der Gesetzgeber bestrebt war, die Anforderungen an die Annahme eines Pflichtpraktikums nicht zu eng zu fassen. Während nach dem Regierungsentwurf lediglich Praktika vom Mindestlohn ausgenommen sein sollten, die „verpflichtend im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung “ zu leisten sind, erweitert die Gesetz gewordene Fassung den Wortlaut und privilegiert Praktika, die „verpflichtend auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung , einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie“ zu leisten sind. Über den im Regierungsentwurf vorgesehen Bereich der Schul-, Ausbildungs- und Studienordnungen hinaus sollten mithin auch weitere Praktika in die Ausnahme einbezogen werden, „die durch öffentlich-rechtliche Vorschriften vorgeschrieben sind“13. Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung: „Die neue Formulierung der Nummer 1 stellt klar, dass Pflichtpraktika, die auf schul- oder hochschulrechtlichen Bestimmungen beruhen, nicht unter den Mindestlohn fallen. Der Begriff „Schulordnung“ wird durch die umfassendere Formulierung „schulrechtliche Bestimmung “ ersetzt. Damit werden insbesondere auch Praktika zur Erlangung eines schulischen Abschlusses mit erfasst. An die Stelle des Begriffs „Studienordnung“ tritt der umfassend zu verstehende Begriff der hochschulrechtlichen Bestimmung. Unter diesen Begriff fallen etwa neben Studien- und Prüfungsordnungen auch Zulassungsordnungen, welche die Absolvierung eines Praktikums als Voraussetzung zur Aufnahme eines bestimmten Studiums verpflichtend vorschreiben. Ferner sind damit auch Praktika umfasst, die auf der Grundlage des jeweiligen Hochschulgesetzes eines Landes erfolgen. Ein Praktikum wird ebenso verpflichtend auf Grund einer hochschulrechtlichen Bestimmung geleistet, wenn es im Rahmen von Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen und Unternehmen erfolgt. Damit können insbesondere auch Praktika, die im Rahmen von dualen Studiengängen absolviert werden, vom Anwendungsbereich des Mindestlohns ausgenommen sein. Ebenfalls vom Mindestlohn ausgenommen sind Praktika, die im Rahmen der Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie geleistet werden.“14 13 Forst in Boecken/Düwell (Fn. 9), § 22 MiLoG Rn. 12. 14 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) a) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 18/1558 - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) b) zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 18/590 - Mindestlohn in Höhe von 10 Euro pro Stunde einführen, Bundestagsdrucksache 18/2010 (neu) vom 2. Juli 2014, S. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 9 Daraus ergibt sich zwar einerseits, dass der Begriff der (hoch)schulrechtlichen Bestimmungen weit auszulegen ist,15 weil dem Gesetzgeber seiner Begründung zufolge daran gelegen war, mit der Formulierung alle gleichartigen Praktika zu erfassen. Die zitierte Begründung beweist aber andererseits, dass der Gesetzgeber sehr detaillierte Vorstellungen darüber entwickelt hat, welche weiteren Pflichtpraktika im Zusammenhang mit gesetzlich geregelten Ausbildungen von der Ausnahme erfasst werden müssten. Praktische Phasen einer Anpassungsqualifizierung im Kontext des BQFG, das zum Zeitpunkt der Beratungen mehr als zwei Jahre in Kraft war, finden in den Gesetzesmaterialien keine Erwähnung. Ausgehend von der Gesetzesbegründung werden Nachqualifizierungspraktika auch von der Kommentarliteratur zum Mindestlohngesetz übereinstimmend nicht erwähnt. Die im Duktus eines abschließenden Katalogs gefasste Aufzählung lässt kaum interpretatorischen Spielraum für die Annahme eines gesetzgeberischen Willens zur Einordnung auch solcher Praktika unter den Begriff des Pflichtpraktikums. 3.4. Sinn und Zweck Hinweise darauf, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die in Rede stehenden Anpassungspraktika bewusst nicht unter den Begriff der Pflichtpraktika fallen sollten und die Regelung insofern abschließend sein soll, sind aus der Begründung aber ebenfalls nicht ersichtlich, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass hier eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Dies ist dann der Fall, wenn die fehlende Regelung „dem sich aus den Materialien ergebenden gesetzgeberischen Plan oder zumindest der sich aus einer höherrangigen Norm ergebenden Wertung“ widerspricht .16 In einer solchen Situation kann es der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung gebieten, die Lücke durch analoge Anwendung der Vorschrift auf diese Sachverhalte zu schließen . Allerdings handelt es sich bei der Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG, wie festgestellt, um eine Ausnahmebestimmung zu der grundsätzlichen Erstreckung der Mindestlohnpflicht auf Praktika. „Die Rechtsprechung hat den Grundsatz entwickelt, dass eine Analogie zu Ausnahmevorschriften grundsätzlich unzulässig sei. […] Dahinter steht die Überlegung, dass Ausnahmefälle nur ganz besonders gelagerte Sonderfälle regeln wollen und deshalb grundsätzlich nicht auf andere Sachverhalte übertragbar sind. Die Ausnahme soll nicht im Wege der Analogie zur Regel werden. […] Sind der in der Ausnahme geregelte Sonderfall und der nicht geregelte Fall wesensmäßig gleich gelagert, kann bei Ausnahmevorschriften gleichwohl eine Analogie in Betracht kommen.“17 15 Vgl. unter Verweis auf die Begründung Franzen in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 17. Auflage 2017, § 22 MiLoG Rn. 10; Greiner in Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht (Fn. 10), § 22 MiLoG, Rn. 25; Riechert /Nimmerjahn (Fn. 6), § 22 Rn. 45. 16 Beaucamp, Guy: Zum Analogieverbot im öffentlichen Recht, in AöR 2009, S. 83-105 (84) mit Nachweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 17 Kohler-Gehrig, Eleonore: Einführung in das Recht: Technik und Methoden der Rechtsfindung, Stuttgart 2010, S. 85 f. mit Nachweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 10 Gemeinsames Merkmal der von § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG erfassten Praktika ist der Umstand , dass sie durch öffentlich-rechtliche Bestimmungen vorgeschrieben sind und ein angestrebter Bildungsabschluss ohne Ableistung eines solchen Praktikums nicht erreicht werden kann. Ebenso liegt es auch bei den betrieblichen Anpassungspraktika. Die Anerkennung eines im Ausland erworbenen Abschlusses und die rechtliche Gleichstellung mit einem inländischen Abschluss ist wesentliche Bedingung für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Eine Anerkennung des ausländischen Abschlusses ist ohne Nachweis der praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten, die im Rahmen der betrieblichen Anpassungsqualifizierung erfolgt, ebenso wenig möglich wie in den ausdrücklich geregelten Fällen die Erlangung eines Abschlusses ohne die Ableistung eines vorgeschriebenen Pflichtpraktikums. Vor dem dargelegten Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass die geregelten Pflichtpraktika und die praktischen Phasen von Anpassungsqualifikationen im Kontext des BQFG wesensmäßig gleich sind. Die Erstreckung des Mindestlohngesetzes auf Praktika dient nach der Gesetzesbegründung der Einschränkung des Missbrauchs dieses an sich „sinnvollen Instruments“. Die in den in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG geregelten Ausnahmen von der Mindestlohnpflichtigkeit stellen demgegenüber sicher, dass für den Abschluss einer Ausbildung unabdingbare Praktika auch weiterhin in hinreichendem Umfang angeboten und nicht durch Mindestlohnpflichtigkeit künstlich verknappt werden. In Anbetracht der festgestellten wesensmäßigen Gleichheit muss dies nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes auch für die Anpassungsmaßnahmen im Rahmen der Anerkennung eines ausländischen Berufsabschlusses nach dem BQFG gelten. Im Falle der Pflichtpraktika nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG „wird Missbrauchsfällen bereits durch die (hoch)schulrechtliche oder anderweitige abstrakt-generelle Anordnung und Ausgestaltung des Praktikums vorgebeugt. Die Entscheidung des Gesetz- bzw. Ordnungsgebers, ein Pflichtpraktikum als Bestandteil der jeweiligen Ausbildung vorzusehen, stellt sicher, dass die Entscheidung über Durchführung, Ausgestaltung und zeitliche Begrenzung des Praktikums der Einflussnahme durch Praktikum und Praktikumsgeber entzogen ist.“18 Inhalt und Dauer eines erforderlichen Anpassungspraktikums sind nicht im BQFG festgelegt, sondern werden von den zuständigen Anerkennungsstellen in förmlichen Verfahren auf der Grundlage der individuellen Defizite der Antragsteller und unter Heranziehung der jeweils einschlägigen Ausbildungsordnung bestimmt . Da es sich bei den Anerkennungsstellen aber um öffentlich-rechtliche Stellen handelt, sind ihre Entscheidungen inhaltlich dem Einfluss sowohl der Praktikanten als auch der Praktikumsgeber ebenso entzogen wie eine abstrakt-generelle Regelung aufgrund eines Gesetzes. Damit erscheint ein Praktikumsmissbrauch wie in den durch § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG ausdrücklich geregelten Fällen ausgeschlossen. Da die Unternehmen an der Festlegung der Praktikumsdauer nicht beteiligt sind, dürfte die im politischen Raum geäußerte Sorge, durch eine mindestlohnrechtliche Behandlung von Anpassungspraktika im Kontext der Anerkennung ausländischer beruflicher Qualifikationen wie Pflichtpraktika werde die missbräuchliche Ausnutzung von Migranten als billige Arbeitskräfte gefördert, unbegründet sein. Insgesamt erscheint daher die Annahme vertretbar, dass Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung eine Mindestlohnfreiheit von Anpassungspraktika in analoger Anwendung des § 22 Abs. 1 Satz 2 18 Greiner in Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht (Fn. 10), § 22 MiLoG, Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 002/17 Seite 11 Nr. 1 MiLoG nahelegt. Die Gefahr, dass damit der Ausnahmefall der Mindestlohnfreiheit zum Normalfall würde, ist nicht erkennbar. 4. Fazit Betriebliche Phasen der Anpassungsqualifikationen im Kontext der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse können grundsätzlich als Praktika im Sinne der Definition des § 22 Abs. 1 Satz 3 MiLoG angesehen werden. Sie sind nach Wortlaut und Systematik nicht von der Ausnahmeregelung für Pflichtpraktika nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG erfasst. Der Wille des Gesetzgebers lässt sich aus der Gesetzesgenese nicht zweifelsfrei ableiten. Jedoch sind sie den in der der Ausnahmeregelung ausdrücklich erwähnten Pflichtpraktika im Hinblick auf ihren Zweck, die Interessenlage der Beteiligten und ihre fehlende Missbrauchsanfälligkeit wesentlich gleich gelagert, so dass Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung für deren Einbeziehung in § 22 Abs. 1 Satz Nr. 1 MiLoG im Wege der Analogie sprechen, wie sie in dem vorliegenden Entwurf der gemeinsamen Auslegung der Exekutive vorgeschlagen wird. In Anbetracht des Umstandes, dass der Auffassung der Exekutive insoweit keine Bindungswirkung gegenüber der unabhängigen Arbeitsgerichtsbarkeit zukommt, kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese Auslegung von der Rechtsprechung geteilt wird. Im Sinne der Rechtssicherheit wäre daher eine ausdrückliche Aufnahme der Anpassungspraktika in das MiLoG durch eine entsprechende Gesetzesänderung einer Erstreckung der Ausnahmenregelung im Wege der Analogie vorzuziehen. ***