Deutscher Bundestag Zum Streit über die Bewirtschaftung der Rehwildbestände Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 5 – 3000 - 226/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 2 Zum Streit über die Bewirtschaftung der Rehwildbestände Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 5 – 3000 - 226/10 Abschluss der Arbeit: 17. Dezember 2010 Fachbereich: WD 5: Wirtschaft und Technologie, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Tourismus Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ziele, Interessen, Rechtsbestand 5 3. Lösungsansätze 9 3.1. rechtliche und behördliche Ansätze: 9 3.2. waldbauliche Ansätze: 9 3.3. wildbiologische, jagdtechnische und jagdpolitische Ansätze: 9 3.4. weitere Vorschläge: 10 4. Fazit 10 5. Literatur 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 4 1. Einleitung Seit über 50 Jahren streiten Forstbehörden, Ökologen, Waldbesitzer und Jäger mit Inbrunst um das richtige Verhältnis von Wald und Wild. Je nach Interessenlage werden die Leitmotive „Wald vor Wild“ oder „Wald und Wild“ im Ringen um den richtigen Kompromiss in der Regulierung der lokalen Wildbestände gegeneinander gestellt. Gelegentlich wird auch den Jägern unterstellt, nach dem Motto „Wild vor Wald“ zu handeln. Schon 1943 sah sich aber der Reichsjägermeister veranlasst, in einem „Erlass zum Schutz der Weißtanne“ den verstärkten Abschuss von Rehwild zu verlangen, nachdem festgestellt worden war, dass die ausgebauten Hegepflichten des Reichsjagdgesetzes von 1934 zu Lasten der natürlichen Waldvegetation gingen. Das Bundesjagdgesetz von 1952 enthält das Postulat eines Gleichgewichts von Zielen des Waldbaus und der Hege. Das Postulat hat die Änderungen von 1976 und 2008 unbeschadet überstanden, musste aber in der öffentlichen Debatte, wie auch in der Rechtssetzung der Länder, allmählich einer Bevorzugung der forstlichen Belange Platz machen. Diese Entwicklung ist Ausfluss der Debatte um das Waldsterben , aus der das Leitbild des standortgerechten Laubmischwaldes als Modell der Zukunft hervorging. Dieser Trend verstärkte sich, nachdem Interessen des Naturschutzes und des Klimaschutzes immer stärker in den Vordergrund rückten. Diese Verschiebung der Wahrnehmung bewirkt u.a., dass sich die traditionelleren Teile der Jägerschaft mit ihrem Festhalten am Leitbild der „Harmonie von Wild und Vegetation“ immer mehr dem Vorwurf aussetzen, sie stellten das Bemühen um die Wiederherstellung einer standortgerechten (Misch-) Waldvegetation durch Naturverjüngung hinter ihren Interesse an repräsentativen Wildbeständen zurück. In der Forstwissenschaft wie in der Umweltforschung dominiert inzwischen die Auffassung, der unisono angestrebte Umbau der von Fichten und Kiefern dominierten Wälder durch Naturverjüngung käme nicht recht voran. Als Hauptursache wird allgemein der intensive Verbiss des Aufwuchses von ökologisch besonders wertvollen, aber auch von Rehen bevorzugten Baumarten wie Eiche und Tanne genannt. Die Jäger, so der Vorwurf, versäumten es fahrlässig oder auch absichtlich , die durch das attraktive Nahrungsangebot geförderte Vermehrung des Wildes einzudämmen und die kontrollierenden Behörden kämen ihren Aufgaben nicht effektiv nach. Die Forstwirtschaft beklagt die hohen Kosten der Verbissschäden bzw. der Schutzmaßnahmen, die häufig höher seien als die Einnahmen aus der Jagdverpachtung. Die Jägerschaft tritt diesen Positionen nicht geschlossen gegenüber. So setzt sich der Ökologische Jagdverein (ÖJV) vom eher traditionell orientierten und den Wortlaut des BJagdG vehement verteidigenden Deutschen Jagdschutzverband (DJV) ab, indem er das Motto „Wald vor Wild“ weitgehend in seine Verbandsziele übernimmt. Nachfolgend wird versucht, die Konfliktlinien nachzuzeichnen und Lösungsansätze aufzuzeigen, die in jüngster Zeit auf Länderebene und von wissenschaftlichen Einrichtungen erarbeitet worden sind. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 5 2. Ziele, Interessen, Rechtsbestand Der Titel eines am 05.12.2010 vorgestellten Gutachtens der forstwissenschaftlichen Lehrstühle der Universitäten Göttingen und München (TU)1 zur Verbiss-Situation in deutschen Wäldern lenkt die Aufmerksamkeit zunächst von dem bekannten Interessenstreit zwischen den Akteuren in Forstwirtschaft, Jagd und Naturschutz auf die nach Auffassung der Autoren grundlegend konfliktive Wechselbeziehung zwischen dem Zustand des Waldes und dem Wildbestand. Unter der Überschrift „Der Wald-Wild-Konflikt“ (Ammer 2010) wird in einer bis zur Epoche der Sammler und Jäger reichenden Rückschau auf die Situation der Wälder in Mitteleuropa zunächst dargelegt , dass der Waldzustand – abgesehen von direkten Eingriffen des Menschen wie Kahlschläge, Übernutzung durch Energiegewinnung, Anlage von Monokulturen u.a.m. – immer von zurückgehenden Wildbeständen profitiert habe und sich regelmäßig verschlechterte, wenn die (Schalen-) Wildbestände zunahmen. Die heutige Situation der Wälder sei trotz aller Plädoyers und gesetzlicher Maßnahmen zugunsten standortgerechter Laubmischwälder durch Monokulturen geprägt, in denen die Naturverjüngung wegen zunehmender Verbiss-Schäden durch zu hohen Wildbesatz kaum Chancen habe, sich durchzusetzen. Dies sei umso dramatischer zu werten, als die jüngeren Bestrebungen um Naturschutz und Eindämmung des Klimawandels die Bedeutung des seit 30 Jahren gültigen Leitbildes von der Multifunktionalität des Waldes noch unterstrichen hätten. Zwar sei im Rechtsbestand zur Schalenwildbewirtschaftung und zur Biodiversität auf Ebene der Länder eine eindeutige Priorisierung der Belange des naturnahen Waldes ablesbar, der sich die Belange der Hege unterzuordnen hätten. Hingegen sei das Bundesjagdgesetz (BjagdG) hinsichtlich der Vorschriften zur Wildschadensverhütung eher zurückhaltend. Offenbar sei der Gesetzgeber bei Erlass im Jahr 1952 und auch noch bei den Änderungen von 1976 und 2008 davon ausgegangen , dass Wildschäden mehr oder weniger unvermeidlich seien und habe deshalb die Kompensationspflicht der Jäger unabhängig vom Grad der Erfüllung des nach § 21 einzuhaltenden Abschussplans gestaltet. Auch sei der jeweilige Geschädigte nicht selbst zu Schutzmaßnahmen verpflichtet und müsse den Jagdinhabern kein Verschulden nachweisen. In dieser Abweichung vom gängigen Schuldprinzip sowie in der mangelhaften Kontrolle der Abschussverpflichtungen durch die Behörden sieht das Gutachten die Hauptursachen für die unverändert festzustellenden Missstände. Positiv hervorgehoben werden hingegen die teils von den Formulierungen des BJagdG abweichenden Regelungen in den Landesgesetzen, insbesondere die im Bayerischen Jagdgesetz (BayJG) enthaltene Vorgabe, nach der die Bejagung die natürliche Verjüngung der standortgemäßen Baumarten im Wesentlichen ohne Schutzmaßnahmen zu ermöglichen hat. Damit stelle das Gesetz schon bei der Zieldefinition ein geeignetes Kriterium für die Regelung der Abschussplanung und die Jagdnutzung insgesamt bereit. Durch die Festlegung des BayJG, wonach bei der Abschussplanung neben der körperlichen Verfassung des Wildes vorrangig der Zustand der Vegetation , hier insbesondere der Waldverjüngung, zu berücksichtigen ist, sei den Forstbehörden vor der periodischen Erstellung der Abschusspläne die Möglichkeit eingeräumt, sich auf der Grundlage eines forstlichen Vegetationsgutachtens über eingetretene Wildschäden im Wald zu äußern und ihre Auffassung zum Zustand der Waldverjüngung darzulegen. Zusammen mit der Kontroll- 1 Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Naturgemässe Waldwirtschaft (ANW), des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) und des Deutschen Forstwirtschaftsrats (DFWR). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 6 vorschrift des § 16 AVBayJG, die für die Frage der Abweichung von den Vorgaben der Abschussplanung für Rehwild auf die Ergebnisse des jeweils letzten forstlichen Gutachtens zur Verbissbelastung für das Gebiet einer Hegegemeinschaft abstellt, käme den forstlichen Gutachten die Funktion einer „Stellschraube“ zu, deren Wirksamkeit darauf beruht, dass die Erhebung auf die Ergebnisse des jeweils letzten forstlichen Gutachtens für das Gebiet einer Hegegemeinschaft abstellt , so dass zwischenzeitliche Abweichungen von den Vorgaben der Abschussplanung ggf. kumulieren. Um im Rahmen der vorgeschriebenen Hegeschauen an die erforderlichen Daten zur Wildschadenssituation zu gelangen, sind die Angehörigen der Forstbehörden befugt, fremde Grundstücke zu betreten und dort die erforderlichen Erhebungsmaßnahmen zu ergreifen. Auch dies ermögliche eine schlüssige Ausübung der Kontrollfunktion. Möglicherweise vermag die stringente Ausgestaltung des bayerischen Jagdrechts auch zu erklären , warum der beständige Konflikt zwischen Behörden und Jägerschaft in diesem Bundesland in den letzten Jahren mit besonderer Vehemenz ausgetragen wurde. Die würde wiederum die heftige Reaktion des Deutschen Jagdschutzverbandes (DJV) auf die Empfehlung zur Vereinheitlichung des Länderrechts unter Orientierung an den bayerischen Vorgaben und Verfahren erklären. Im Fazit seiner Stellungnahme erklärt der DJV: „Das Gutachten ist eine vertane Chance. Es konstruiert Konflikte, die es seit Jahren flächendeckend in dieser Form nicht mehr gibt, und wärmt eine für die Jägerschaft längst überwunden geglaubte Konfrontation zwischen Jagd und Forst unnötig wieder auf. Wo es wirklich Probleme gibt, ist die Jägerschaft bereit, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten und hat das durch ihr verantwortliches Handeln bereits hinlänglich bewiesen. Die Einseitigkeit des Gutachtens befremdet und ist bewusst nicht auf Dialog, sondern auf Konfrontation angelegt: es will damit offenbar den Gesetzgeber provozieren, sich zu unnötigen Aktivitäten hinreißen zu lassen. Wildschadensvermeidung sollte durch ein Wildtiermanagement geprägt sein, das den Lebensraum, seine Biotopkapazität, die Möglichkeiten der Lebensraumverbesserung und die Ansprüche der Leitwildart in den Blick nimmt. Dazu gehört auch eine an der Wildart orientierte Bejagungsmethode und Abschusshöhe.“ Der DJV wehrt sich insbesondere gegen die gutachterliche Wertung, wonach die bayerische Priorisierung nach dem Motto „Wald vor Wild“ bereits allgemeiner Rechtsbestand sei, den es nur noch zu respektieren gelte2, und bemängelt , dass das Gutachten „als Beispiel für das Landesrecht gerade die bayerischen Wald- und Jagdgesetze heranzieht, die den Vorstellungen der Verfasser von allen entsprechenden Landesgesetzen wohl am nächsten kommen. Hätten die Verfasser z.B. das nordrhein-westfälische Landesforstgesetz herangezogen, hätten sie zu einem anderen Ergebnis kommen müssen. Eine Betrachtung des Jagdrechts in NRW hätte zu einem anderen Ergebnis geführt.“(DJV 2010) Einen zentralen Ansatzpunkt zur Kritik sieht der DJV auch in der im Gutachten vorgenommenen Interpretation der Jagd als eine Nebennutzung des Grundeigentums, die sich den Belangen der forstlichen Hauptnutzung unterzuordnen habe. Die Verfasser hatten postuliert, „…es würde einen Verstoß gegen die grundgesetzliche Eigentumsgarantie darstellen, wenn der Gesetzgeber die Belange der jagdlichen Nebennutzung des Eigentums stärker gewichten würde als die Interessen der forstwirtschaftlichen Hauptnutzung des Eigentums“ (Ammer et al 2010: ). Demgegenüber vertritt der DJV die Auffassung, das Jagdrecht sei ein durch das Grundgesetz geschütztes Recht, untrennbar mit dem Eigentum verbunden und als Teil des Eigentums ebenfalls vom Grundgesetz 2 Dort heißt es wörtlich: „Aus den genannten Zielen des Jagd-, Wald- und Naturschutzrechts lässt sich ersehen, dass der Gesetzgeber den Wald-Wild-Konflikt im Wesentlichen zugunsten der Waldbewirtschaftung bzw. der in diesem Rahmen zu gewährleistenden und zu fördernden Biodiversität aufgelöst wissen will“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 7 geschützt. Es sei demnach den Eigentümern überlassen zu entscheiden, was Hauptnutzung und was Nebennutzung sei. Allenfalls im Staats- und Körperschaftswald könne man von der Jagd als Nebennutzung sprechen, sofern das Landesrecht dies so vorsieht.“ Demgegenüber fordert z.B. die Sektion Baden-Württemberg des ÖJV, „der Einfluss des Grundbesitzers auf die Jagdausübung ist zu stärken, insbesondere wenn er seiner Verpflichtung für die naturnahe Gestaltung und Nutzung der Natur nachkommt,“ und stellt sich ausdrücklich hinter das Motto „Wald vor Wild“ in der Rechtsetzung des Bundeslandes. In einem Positionspapier heißt es hierzu: “Der ÖJV fordert eine intensive Rehwildbejagung. Maßgeblich für die Rehwildbejagung ist der Zustand der Vegetation. Den Erfordernissen einer naturnahen Waldwirtschaft ist Rechnung zu tragen. Deshalb unterstützt der ÖJV das in Baden-Württemberg eingeführte Verfahren , bei dem die Festsetzung der Höhe des Rehwildabschusses ausschließlich nach Vegetationsweisern erfolgt. Wir favorisieren die Festsetzung eines Mindestabschussplanes…“ (ÖJV 2007). Einheitlich äußern sich die Waldbesitzer: Die private Forstwirtschaft – stellvertretend sei hier die Fürstlich Castellsche Forstabteilung zitiert – geht davon aus, dass die Fichte im Zuge der Klimaerwärmung keine Zukunftschance auf trockeneren Waldböden haben werde. Castell (2007) formuliert : „Wer das erkennt, wird keine Fichten mehr pflanzen. Wir müssen uns wieder auf die seit Jahrtausenden im Steigerwald beheimateten Baumarten besinnen. Diese Arten sind stark zurückgedrängt …Hier kommt nun die Aufgabe der Jagd. Wir können uns einen hohen Rehwildbestand nicht mehr leisten (…). Nach der Verringerung der Rehwilddichte samen sich bereits überall deutlich mehr Laubbäume an.“ Er räumt im weiteren Text ein nachvollziehbares Interesse der Jäger an der Wildbeobachtung ein, führt aber die scheinbare Ausdünnung weniger auf den intensiveren Abschuss in seinen Forsten zurück als auf die häufiger gewordenen Störungen durch Wanderer, Radfahrer und Pilzsammler3. In einer Pressemitteilung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes vom 22. November 2010 postuliert die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände Deutscher Kommunalwald: „Das erklärte Ziel, stabile, artenreiche, klimaangepasste und produktive Wälder zu erziehen, lässt sich nur dann erreichen, wenn die Belange der Forstwirtschaft klaren Vorrang vor den Belangen der Jagd erhalten. Überhöhte Wildbestände und fortwährende Wildschäden gefährden jedoch eine nachhaltige, naturnahe Bewirtschaftung der Wälder und führen bei den Waldeigentümern zu erheblichen finanziellen Mehraufwendungen und Mindererträgen, die häufig die Einnahmen aus der Jagdverpachtung überschreiten. Oberstes Ziel muss es daher sein, die Schalenwildbestände auf ein Maß zu regulieren, dass eine natürliche Verjüngung der Baumarten in den heimischen Wäldern ohne Schutzmaßnahmen möglich wird.“4 Lediglich aus dem Bereich der Holzwirtschaft sind Stimmen zu vernehmen, die sich kritisch zum verstärkten Rehwildabschuss äußern. Allerdings wendet sich der Autor eines Positionspapiers in 3 Der DJV nennt eben diese Störungen – zusammen mit dem steigenden Jagddruck durch behördliche Eingriffe – als eine der Hauptursachen des zunehmenden Verbisses in tiefer im Wald gelegenen Schonungen und weist deshalb die „Alleinschuld“ am Zustand der Naturverjüngungen von sich. 4 http://www.dstgb.de/dstgb/Pressemeldungen/Kommunale%20Waldbesitzer%20fordern%3A%20Spannungsfe ld%20von%20%E2%80%9EWald%20und%20Wild%E2%80%9C%20in%20Einklang%20bringen/ (Stand 17.12.2010) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 8 erster Linie aus ökonomischer Perspektive gegen das Leitbild des Laubmischwaldes: „Alles spricht dafür, dass die Fichte der unbestrittene Brotbaum unserer Breiten bleiben wird. Sollte sie sich dort wirklich klimabedingt verabschieden, bricht eher die Forstwirtschaft zusammen, als dass Laubbaumarten die wirtschaftliche Lücke schließen könnten.“ Er verweist darauf, dass die Fichte im Staatsforst derzeit auf der gesamten Fläche einen Anteil von rund 45% und die Buche von 16% aufweist, der Anteil der Fichte am Gesamtumsatz bei 81,5%, der der Buche nur bei 2,69% liege. (Schilcher 2010). Die in der Grundsatzdebatte und die interessenbezogene Auseinandersetzung vorgebrachten Argumente werden auf allen Seiten mit einer Vielzahl von Daten aus unterschiedlichsten Quellen sowie Methodenbetrachtungen unterlegt, deren Bewertung den Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung sprengen würde. Der Kernpunkt der Methodenkritik bezieht sich auf die Erfassung der Bestandszahlen einerseits und der aggregierten Verbissschäden andererseits. So moniert die Jägerschaft , die dem Gutachten „Der Wald-Wild-Konflikt“ zugrunde liegende Annahme gewachsener Rehwildbestände sei nicht belegt, da die Schätzung lediglich aus den Angaben zur Strecke in den Revieren bzw. Hegegemeinschaften rückgerechnet sei. Da es keine zuverlässige Methode flächendeckender Wildzählung gibt, wird die Rückrechnung (Faktor 3) aus den Abschussziffern in forstlichen Gutachten häufig zur Bestandsschätzung herangezogen . Demnach hätte sich der Schalenwildbestand z. B. in Brandenburg seit den fünfziger Jahren vervierfacht (Mehl 2010). Theoretisch ließe sich bei einer Vervierfachung der Streckenzahlen seit den fünfziger Jahren auch auf eine entsprechende Ausdünnung des Bestandes schließen. Dem widerspricht aber die leicht zunehmende Tendenz der gemessenen Verbissschäden. Gegen die Heranziehung der Verbissschäden (erhoben in % verbissener Bäume einer Art auf einer Messfläche) wendet sich denn auch der DJV, der einwendet, nur die absolute Anzahl der der Äsung entwachsenen Bäume (also ab 1,20 m Höhe) sei schließlich relevant für Erfolg oder Misserfolg der Naturverjüngung. Dem wird seitens der Forstwissenschaft mit dem Argument widersprochen , man brauche einen Frühindikator in Gestalt der Jungpflanzen, um Eingriffe zu planen, und könne nicht 10-20 Jahre untätig Ergebnisse abwarten. Speziell in Bayern widersetzen sich die Jäger häufig dem sog. Traktverfahren, bei dem in permanenten Aufnahmelinien mit einer Länge von 40 – 60 Metern und einer Breite von mindestens 30 Zentimetern von jeder Baumart fünfzig Pflanzen erfasst werden und die Verbisssituation jährlich erhoben wird. Es wird statuiert, die Erhebung in diesem Verfahren ignoriere häufig unverbissene Verjüngungen. Alternativ zum Traktverfahren stehen vor allem Vegetationsweiser wie z.B. Gatter zur Verfügung. Die Verbisssituation einer Waldfläche wird hier durch Abgleich des natürlichen Aufwuchses mit dem einer von Gatter geschützten Fläche ermittelt. Dieses Verfahren wird in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz angewandt. Die einschlägige Empfehlung des Gutachtens „Der-Wald-Wild-Konflikt“ bezieht sich nicht auf eines der verfügbaren Verfahren, sondern auf eine wünschenswerte bundesweite Vereinheitlichung . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 9 3. Lösungsansätze Der im Gutachten vorgeschlagene Katalog von Maßnahmen zur Lösung des sog. Wald-Wild- Konflikts ist umfangreich und wie folgt gegliedert: 3.1. rechtliche und behördliche Ansätze: Vorrang von Forst‐ und Landwirtschaft klarer formulieren („Wald vor Wild“) Instrumente zur Umsetzung, Kontrolle und Sanktionierung der jagd‐, wald‐ und naturschutzrechtlichen Vorgaben einer allgemeinwohlorientierten Jagdausübung verbessern (z. B. Möglichkeit der Ersatzvornahme im Fall unzureichender Abschusserfüllung, evtl. Zuständigkeit für die Abschussfestsetzung im Wald an die Forstbehörden übertragen) Abschaffung der Abschussplanung für Rehwild oder die Einführung eines Mindestabschussplans unter Berücksichtigung forstlicher Verjüngungsgutachten und Verwendung von Weisergattern , sowie die Einführung von Sanktionierungsmaßnahmen bei Verstößen mit besonderen Bestimmungen für geschützte Wälder gesetzliches Hervorheben des Vorrangs der Wildschadensvermeidung ( durch angepasste Dichte) vor Wildschadens-Ersatzmaßnahmen, Verbot von Fütterungen mit Ausnahme von behördlicherseits im Einzelfall bekanntgegebenen Notzeiten Angleichung der Jagdzeiten beim Rehwild Vereinfachung und Vereinheitlichung von Schadensersatz im Wald, Einführung von Musterpachtverträgen mit Regelungen zum Abschuss und zur Kontrolle des Abschusses, die Abschaffung einer staatlichen Förderung von künstlichen Maßnahmen zum Schutz der Waldverjüngung (insbesondere Zaunkosten, evtl. mit Ausnahme von Weisergattern) 3.2. waldbauliche Ansätze: Vermeidung großflächiger Kahlflächen, Förderung heterogener Bestandsstrukturen 3.3. wildbiologische, jagdtechnische und jagdpolitische Ansätze: Förderung des Problembewusstseins bei der Jägerschaft, Entzug der Zertifizierung PEFC Jagdpachtvertrag5 (jährlicher Waldbegang, Festlegung der Hauptbaumarten, Wildschadenersatz im gesetzlichen Umfang, Durchsetzung angemessener Abschussplanung, Vertragsstrafe bei Nichterfüllung des Abschusses unterhalb einer bestimmten Schwelle (z.B. 80 %), in Abhängigkeit vom Gefährdungsgrad des vegetationskundlichen Gutachtens vorzeitiges Kündigungsrecht bei mangelhafter Abschusserfüllung Alternative zur Verpachtung: jährlich kündbare Pirschbezirke 5 Pan European Forest Certification Council (PEFCC) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 10 3.4. weitere Vorschläge: Hat sich der DJV in seiner Stellungnahme zum Gutachten „Der Wald-Wild-Konflikt“ auf die Kritik konzentriert und sich weiterführender Empfehlungen enthalten, so haben inzwischen einzelne Vertreter des Verbands an anderen Stellen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vorgeschlagen , die seiner Analyse entsprechen und weitestgehend ohne Gesetzesänderung auskommen sollen; so z. Bsp. der Präsident des Niedersächsischen Landesjägerschaft anlässlich der Fachtagung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Dezember d.J.(Tamke, 2010): Gesellschaft und Politik Gezielte Besucherlenkung, z.B. gezielte Planung von Wanderwegen, Mountainbikestrecken , Geocachinggebieten Ausweisung von Wildruhezonen, in denen periodische Jagdruhe und allgemeines Betretungsverbot gelten sollten. Forst Objektive Beurteilung von Wildverbiss (Wildschaden muss am verbleibenden und nicht am ausscheidenden Bestand gemessen werden; Wildverbiss sollte keiner kurzfristigen Betrachtung unterzogen werden; regionale Betrachtungsweiseseit entscheidend; Zusammenhang zwischen Verbissdruck undAbsterben der Bäume sei entscheidend) Lebensraumverbessernde Maßnahmen durchführen (Ersatzäsung schaffen, großflächige Kahlschläge sollten vermieden werden) Ziele müssen klar definiert werden Jagd Gezielte Bejagung (Schwerpunktbejagung durchführen, Bejagungsintervalle) Veränderte Lebensraumsituation berücksichtigen Zäunung erhöht den Druck auf die erbleibenden Flächen Flächendeckende Bejagung muss gewährleistet bleiben, keine Jagdverbote in NSG, Nationalparks etc. Ultima Ratio: Körperlicher Nachweis Jägerschaft muss ihrem eigenen Motto „Wald und Wild“ gerecht werden. 4. Fazit Bei näherer Befassung mit dem sog. Wald-Wild-Konflikt wird sichtbar, dass er - entgegen dem Motto - nicht eine Konfrontation von Pflanzen und Tieren bezeichnet, sondern dass die Wildsituation den Zielen der Waldbesitzer zuwiderläuft und /oder diese daran hindert, ihre Pflichten im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums einzulösen. Offenbar ist die Position der Waldbesitzer im Jagdrecht unzureichend verankert und damit im Verhältnis gegenüber den Jagdpächtern zu schwach. Deren Position - sofern sie sich auf möglichst unveränderte Bewahrung des vorhandenen Rechtsbestands und seiner Interpretation im Sinne eines Harmoniemodells beschränkt - wird gegenüber Forstwissenschaft, -behörden und –wirtschaft in dem Maße geschwächt, in dem die Ziele des Natur- und Klimaschutzes in der Öffentlichkeit aufgewertet werden. Unterhalb der in Kapitel 3 aufgezeigten Lösungsansätze, für deren Diskussion erheblicher Bedarf zu bestehen scheint und die z.T. den Gesetzgeber im Bund fordern, sind Möglichkeiten zur Entschärfung des Konflikts zwischen den Akteuren im Ländermaßstab durchaus bereits sichtbar. So Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 11 haben Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unlängst die verpflichtende Abschussplanung eingeschränkt bzw. abgeschafft und durch Abschussvereinbarungen ersetzt, die zwischen Waldbesitzern und Jagdpächtern auszuhandeln sind6. Der staatliche Eingriff beschränkt sich in diesem Stadium auf den Vorhalt eines Mindestabschussplans. Damit kommen die Jagdeigentümer verstärkt ins Spiel. Die Jäger werden in die Rolle eines Verhandlungs- und Vertragspartners versetzt und müssen sich nicht als Vollzugsgehilfen behördlicher Verordnungen empfinden. Dies allein wird den gesellschaftlichen Grundkonflikt nicht zu lösen vermögen. Es kann aber die Bereitschaft der verschiedenen Akteure zur Suche nach lokal angepassten und situationsadäquaten Kompromissen fördern und zur Versachlichung der Fachdebatte beitragen. 6 Das am 9. Juli 2010 beschlossene Landesjagdgesetz Rheinland-Pfalz sieht anstelle der behördlichen Abschussfestsetzung eine Vereinbarung zwischen Verpächtern und Pächtern vor. Nur noch, wenn es zu viel oder zu wenig Schalenwild im Revier gibt, kommt es zu einer jagdbehördlichen Abschussplanfestsetzung, verbunden mit der Auflage , die erlegten Stücke nachzuweisen (körperlicher Nachweis). Der Vorrang Wald vor Wild ist im Gesetz festgeschrieben . In Baden-Württemberg nehmen inzwischen über 1630 Reviere 80 21 % der Landesfläche) an einem Pilotversuch zur Rehwildbewirtschaftung ohne behördlichen Abschussplan (RobA). Während es bislang noch keine signifikanten Veränderungen bei Wildbeständen und Verbissschäden gibt, wird über eine Verbesserung des Verhälznisses zwischen Akteuren und Behörden – z.B. gemeinsame Waldbegehungen -berichtet (Bauch,2010) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 – 3000 - 226/10 Seite 12 5. Literatur Ammer, Vor, Knocke, Wagner (2010): Der Wald-Wild-Konflikt; Analysen und Lösungsansätze vor dem Hintergrund rechtlicher, ökologischer und ökonomischer Zusammenhänge. Gutachten im Auftrag von BfN, ANW, DFWR und der Hatzfeldt-Wildenburg’schen Verwaltung, Göttingen, München, 2010 www.anw-deutschland.de/.../Gutachten%20Der%20Wald-Wild-Konflikt_final%2021_04_2010.pdf Deutscher Jagdschutz-Verband (2010):Stellungnahme zum Gutachten “Der Wald-Wild-Konflikt“ http://www.jagd-online.de/news/?meta_id=2069 Ökologischer Jagdverein Baden-Württemberg (2007): ÖJV-Positionen zur Jagd auf Rehwild http://www.oejv.de/landesverbaende/bawue/pospap/ Bauch, WFS Aulendorf (2010): Rehwildbewirtschaftung ohne behördlichen Abschussplan, WFS- Mitteilungen Nr. 3/2010 Fürst zu Castell-Castell (2007): Wald vor Wild: Wir müssen umdenken und handeln www.lwf.bayern.de/veroeffentlichungen/lwf.../62/LWFaktuell_62-21.pdf Schilcher (2010): Bedrohen Rehe unsere Mischwälder? Ein simples Thema in den Mühlrädern von Politik, Verwaltung, Pseudowissenschaft und Ideologie. http://www.holzwurmpage .de/blog/bedrohen-rehe-unsere-mischwaelder-teil-i.htm Mehl (2010): Jagdrechtlicher Handlungsbedarf aus Sicht der Forstwirtschaft, Vortrag beim Fachgespräch der Fraktion Bündnis 90/Die grünen, Berlin 08. Dezember 2010, www.gruenebundestag .de/cms/wald/dok/364/364158.der_wald_braucht_eine_jagdrechtsreform.html