© 2020 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 114/19 Die Beförderung Schwerbehinderter und Auszubildender in einem kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Barrierefreiheit 10 6. Fazit 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 4 1. Einleitung Gefragt ist nach den möglichen Auswirkungen der Einführung eines für alle kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) auf die Beförderung schwerbehinderter Menschen und den Ausbildungsverkehr. Die Einführung einer solchen Unentgeltlichkeit ist Gegenstand der aktuellen politischen Diskussion.1 Schwerbehinderte haben einen rechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Nutzung des ÖPNV. Des Weiteren kann Auszubildenden die Möglichkeit eingeräumt werden, den ÖPNV zu ermäßigten Tarifen oder kostenlos in Anspruch zu nehmen (Ausbildungsverkehr). Die Verkehrsunternehmen erhalten für die damit einhergehenden Einnahmeausfälle Ausgleichszahlungen der öffentlichen Hand. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Einführung eines (für alle Fahrgäste) kostenlosen ÖPNV zu Einschränkungen beim Umfang oder der Qualität der Beförderung Schwerbehinderter und Auszubildender führen könnte. Zur Beantwortung werden zunächst die einschlägigen Regelungen zur kostenlosen Beförderung von schwerbehinderten Menschen und zum Ausbildungsverkehr sowie zur allgemeinen Beförderungspflicht der Verkehrsunternehmer dargestellt. Darauf folgt eine Untersuchung des rechtlichen Maßstabs für die den Ländern obliegende Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV2. Der ÖPNV wird gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 Personenbeförderungsgesetz (PBefG)3 als die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen4, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr definiert,5 die überwiegend dazu bestimmt ist, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen. Auch die Beförderung mit Kraftfahrzeugen im Gelegenheitsverkehr6 gehört gemäß § 8 Abs. 2 PBefG zum ÖPNV, sofern sie der Ergänzung, Ersetzung oder Verdichtung der in § 8 Abs. 1 PBefG genannten Verkehrsarten dient. 1 Vgl. z. B. Tagesschau, Kostenloser Nahverkehr – Wer soll das bezahlen?, 12. März 2019, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/inland/oeffentlicher-nahverkehr-kostenlos-101.html; vgl. auch den Vorschlag der Partei DIE LINKE, abrufbar unter https://www.die-linke.de/themen/oepnv/konzept-fuer-kostenfreien-oepnv/ (diese sowie die nachfolgenden Internetquellen sind zuletzt am 7. Januar 2020 abgerufen worden). 2 Vgl. § 1 Regionalisierungsgesetz vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378, 2395), das zuletzt durch Artikel 19 Absatz 23 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/regg/RegG.pdf. 3 Vgl. Personenbeförderungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. August 1990 (BGBl. I S. 1690), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 14 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/pbefg/PBefG.pdf. 4 Dazu zählen nach § 4 Abs. 2 PBefG auch Hoch- und Untergrundbahnen. 5 Zu den Definitionen der Verkehrstypen siehe §§ 4 sowie 42f. PBefG. 6 Zu der Definition der Verkehrskategorie siehe §§ 4 Abs. 4, 46 PBefG (Taxen- und Mietwagenverkehr). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 5 2. Beförderung schwerbehinderter Menschen Nach § 228 Abs. 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX)7 werden Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im Nahverkehr im Sinne des § 230 Abs. 1 SGB X unentgeltlich befördert; die unentgeltliche Beförderung verpflichtet zur Zahlung eines tarifmäßigen Zuschlages bei der Benutzung zuschlagpflichtiger Züge des Nahverkehrs. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. Nach § 228 Abs. 2 SGB IX wird die Wertmarke gegen Entrichtung eines Betrages von 80 Euro für ein Jahr oder 40 Euro für ein halbes Jahr ausgegeben. Auf Antrag kann eine für ein Jahr gültige Wertmarke unter bestimmten Voraussetzungen auch kostenfrei an schwerbehinderte Personen ausgegeben werden (§ 228 Abs. 4 SGB IX). Die Wertmarke wird nicht ausgegeben, solange eine Kraftfahrzeugsteuerermäßigung in Anspruch genommen wird (§ 228 Abs. 5 S. 1 SGB IX). Die Beförderung einer Begleitperson eines schwerbehinderten Menschen ist ebenfalls kostenfrei, wenn die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson nachgewiesen und dies im Ausweis des schwerbehinderten Menschen eingetragen ist (§ 228 Abs. 6 Nr. 1 SGB IX). Der Anspruch auf kostenfreie Beförderung umfasst die Mitnahme eines Handgepäcks, eines mitgeführten Krankenfahrstuhles , soweit die Beschaffenheit des Verkehrsmittels dies zulässt, sonstiger orthopädischer Hilfsmittel und eines Führhundes. Das Gleiche gilt für einen Hund, den ein schwerbehinderter Mensch mitführt, in dessen Ausweis die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson nachgewiesen ist (§ 228 Abs. 6 Nr. 2 SGB IX). Für den Transport von schwerbehinderten Menschen steht dem Beförderer ein Anspruch auf Erstattung der Fahrgeldeinnahmen nach § 231 SGB IX zu. 3. Ausbildungsverkehr Nach § 45a Abs. 1 Personenbeförderungsgesetz (PBefG)8 wird Verkehrsunternehmen, die an Schüler, Studenten und Auszubildende9 ermäßigte Zeitfahrausweise im öffentlichen Linienverkehr (Ausbildungsverkehr) ausgeben, unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Zahlung von Kostendeckungsbeiträgen gewährt. Diese Zahlung ist zu beantragen. Der Anspruch be- 7 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 8. Juli 2019 (BGBl. I S. 1025) geändert worden ist, abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet .de/sgb_9_2018/. 8 Vgl. Personenbeförderungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. August 1990 (BGBl. I S. 1690), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 14 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/pbefg/PBefG.pdf. 9 Vgl. zum Kreis der Berechtigten § 1 der Verordnung über den Ausgleich gemeinwirtschaftlicher Leistungen im Straßenpersonenverkehr vom 2. August 1977 (Personenbeförderungs-Ausgleichs-Verordnung, PBefAusGlV) (BGBl. I S. 1460), die zuletzt durch Artikel 5 Nummer 3 des Gesetzes vom 23. März 2005 (BGBl. I S. 931) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/pbefausglv/index.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 6 steht, wenn der Ertrag aus den Beförderungsentgelten der Auszubildenden zur Deckung der verkehrsspezifischen Kosten für den Ausbildungsverkehr nicht ausreicht und der Unternehmer innerhalb eines angemessenen Zeitraums die Zustimmung zu einer Anpassung der im Ausbildungsverkehr erhobenen Beförderungsentgelte an die Ertrags- und Kostenlage beantragt hat (§ 45a Abs. 1 SGB IX). Im Gegensatz zu § 228 Abs. 1 SGB IX enthält § 45a PBefG keine Verpflichtung des Beförderers zu einer Tarifermäßigung bzw. Tariffreistellung. Die Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass der Beförderer eine solche gewährt hat.10 Auf eine Vergünstigung des Ausbildungsverkehres kann aber über § 39 PBefG hingewirkt werden. Nach § 39 Abs. 1 S. 1 PBefG bedürfen Beförderungsentgelte und deren Änderung der Zustimmung der Genehmigungsbehörde. Die Genehmigungsbehörde kann durch ihren Zustimmungsvorbehalt für die Beförderungsentgelte dahingehend auf den Beförderer einwirken, dass dieser in der Tarifgestaltung beispielsweise für den Ausbildungsverkehr Tarifermäßigungen anbieten soll.11 Der Beförderer darf nur zu einer Tarifgestaltung veranlasst werden, bei der die Kosten seiner Verkehrsleistungen trotz Ermäßigung der Tarife für Schüler und Auszubildende durch die im Übrigen zu erhebenden Entgelte zusammen mit den staatlichen Ausgleichsleistungen (vgl. § 45a SGB IX) gedeckt bleiben.12 Die staatliche Förderung des Ausbildungsverkehrs beschränkt sich nicht auf Ausgleichsleistungen nach Bundesrecht. Zusätzlich wird die Schülerbeförderung nach Landesrecht nach Maßgabe des individuellen Beförderungsbedarfs durch Erstattung von Entgelten (Entgeltanteilen) für konkret -individuelle Beförderungsleistungen gefördert.13 Durch die Einfügung des § 64a ins PBefG können die Länder mit Wirkung ab dem 1. Januar 2007 § 45a PBefG sowie die diese Vorschrift konkretisierende Personenbeförderungs-Ausgleichs-Verordnung 14 durch Landesrecht ersetzen.15 Daneben wird insbesondere die Schülerbeförderung nach Landesrecht nach Maßgabe des individuellen Beförderungsbedarfs durch Erstattung von Entgelten für konkret-individuelle Beförderungsleistungen gefördert.16 10 Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, PBefG § 45a Rn. 19 und 31. 11 Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, PBefG § 45a Rn. 21. 12 Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, PBefG § 45a Rn. 21 und 22. 13 Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, PBefG § 45a Rn. 3. 14 Vgl. FN 9. 15 Vgl. dazu und zu unterschiedlichen Regelungsmodellen der Länder, Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz , 2. Auflage 2014, § 45a Rn. 11 und 12. 16 Fiedler in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, § 45a Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 7 4. Beförderungspflicht nach § 22 PBefG Die Verkehrsunternehmer sind nach § 22 PBefG grundsätzlich dazu verpflichtet, jeden Fahrgast zu befördern.17 Die Norm enthält diesbezüglich keine besonderen Vorschriften oder Einschränkungen für Schwerbehinderte oder Auszubildende. In § 22 PBefG heißt es wörtlich: „Der Unternehmer ist zur Beförderung verpflichtet, wenn 1. die Beförderungsbedingungen eingehalten werden, 2. die Beförderung mit den regelmäßig eingesetzten Beförderungsmitteln möglich ist und 3. die Beförderung nicht durch Umstände verhindert wird, die der Unternehmer nicht abwenden und denen er auch nicht abhelfen kann.“18 Die Norm verpflichtet das jeweilige Verkehrsunternehmen, jeden Antrag eines Fahrgastes auf Abschluss eines Beförderungsvertrages nach Maßgabe der dafür geltenden öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Vorschriften anzunehmen, sofern nicht die Voraussetzungen des § 22 Nr. 1 bis 3 PBefG vorliegen („Kontrahierungszwang“).19 Der Verkehrsunternehmer ist jedoch insbesondere gemäß § 22 Nr. 1 PBefG von seiner Beförderungspflicht entbunden, wenn die Beförderungsbedingungen nicht eingehalten werden können. Darunter fallen vorrangig Bestimmungen in der Verordnung über Allgemeine Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BefBedV)20, der Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr (BOKraft)21 sowie der Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab)22. So sind z. B. in §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 5 BefBedV Beförderungsausschlüsse gelistet. Gemäß § 3 Abs. 1 BefBedV ist 17 Vgl. zu dieser Thematik die Ausarbeitung des Fachbereichs WD 5 „Fragen zur Beförderungspflicht von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im öffentlichen Personennahverkehr“ vom 18. Juni 2019 (WD 5 - 3000 - 054/19), abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/651308/- a00bd11a69ee8b2d0133ad0ced5eca92/WD-5-054-19-pdf-data.pdf. 18 Hervorhebung durch Verfasser. 19 Lampe, in: Erb/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 226. Ergänzungslieferung August 2019, § 22 PBefG Rn. 1 und 8; Heinze, in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Auflage 2014, § 22 Rn. 6. 20 Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 27. Februar 1970 (BGBl. I S. 230), die zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 21. Mai 2015 (BGBl. I S. 782) geändert worden ist, abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet .de/befbedv/BefBedV.pdf. 21 Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr vom 21. Juni 1975 (BGBl. I S. 1573), die zuletzt durch Art. 483 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist, abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/bokraft_1975/BOKraft.pdf. 22 Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung vom 11. Dezember 1987 (BGBl. I S. 2648), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 1. Oktober 2019 (BGBl. I S. 1410) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetzeim -internet.de/strabbo_1987/BOStrab.pdf. . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 8 etwa die Beförderung von Personen ausgeschlossen, die eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Betriebs oder der Fahrgäste darstellen. Auch die Beförderung von Sachen (z. B. Hilfsmittel für mobilitätseingeschränkte Menschen) ist gemäß § 2 S. 2 in Verbindung mit § 11 Abs. 1 BefBedV nur durchzuführen, wenn dadurch keine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Betriebs oder der Fahrgäste entsteht. Im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgaben finden sich in §§ 13 bis 15 BOKraft. Auf unionsrechtlicher Ebene finden sich weitere Vorschriften in der Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr23. Der Anspruch auf Beförderung im Linienverkehr insbesondere von mobilitätseingeschränkten Menschen inklusive etwaigen Mobilitätshilfen ist hier in Art. 9 der Verordnung (EU) Nr. 181/2011normiert. Ausnahmen enthält Art. 10 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 181/2011, „a) um geltenden Sicherheitsanforderungen nachzukommen, die durch Vorschriften des internationalen Rechts, des Unionsrechts oder des nationalen Rechts festgelegt sind, oder um Gesundheits - und Sicherheitsanforderungen nachzukommen, die von den zuständigen Behörden erlassen wurden; „b) wenn es wegen der Bauart des Fahrzeugs oder der Infrastruktur, einschließlich der Busbahnhöfe und Bushaltestellen, physisch nicht möglich ist, den Einstieg, den Ausstieg oder die Beförderung des behinderten Menschen oder der Person mit eingeschränkter Mobilität auf sichere und operationell durchführbare Weise vorzunehmen.“24 Die Beförderungspflicht des Unternehmers entfällt weiterhin gemäß § 22 Nr. 2 PBefG, wenn sie nicht mit den regelmäßig eingesetzten Beförderungsmitteln, das heißt den gewöhnlich zur Verfügung stehenden und bei durchschnittlichem Verkehrsaufkommen zahlen- und beschaffenheitsmäßig ausreichenden Fahrzeugen, möglich ist.25 Auch ist der Verkehrsunternehmer gemäß § 22 Nr. 3 PBefG nicht zur Beförderung verpflichtet, wenn diese durch Umstände verhindert wird, die er nicht abwenden und denen er auch nicht abhelfen kann. In Betracht kommen hier neben Naturereignissen auch betriebsinterne Ereignisse (z. B. Ausfall der Stromversorgung).26 23 Vgl. Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (Abl. L 55 vom 28.2.2011, S. 1), abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/- ?uri=CELEX:32011R0181&qid=1578389012539&from=DE. 24 Hervorhebungen durch Verfasser. 25 Lampe, in: Erb/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 226. Ergänzungslieferung August 2019, § 22 PBefG, Rn. 6. 26 Lampe, in: Erb/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 226. Ergänzungslieferung August 2019, § 22 PBefG, Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 9 5. Frage des Zusammenhangs zwischen Kostenfreiheit, der Beförderung schwerbehinderter Menschen und dem Ausbildungsverkehr - Rechtlicher Maßstab für ein ausreichendes Verkehrsangebot Die Wahl eines bestimmten Finanzierungsmodells, wie z. B. einer Entgeltfreiheit, lässt die oben dargestellten Vorschriften in ihrem rechtlichen Bedeutungsgehalt unberührt. Soweit der ÖPNV für alle entgeltfrei wird, profitieren von dieser Entgeltfreiheit sämtliche Verkehrsteilnehmer , also auch Auszubildende und teilweise auch schwerbehinderte Menschen (Wertmarke). Die oben unter den Kapiteln 2 und 3 dargestellten Vorschriften haben dann im Zuständigkeitsbereich jener Körperschaften, welche ihren ÖPNV als entgeltfrei ausgestaltet haben, für schwerbehinderte Menschen und Auszubildende teilweise, d. h. was eine Tarifbefreiung bzw. eine Tarifermäßigung angeht, keine Relevanz mehr. Die Verpflichtung der Verkehrsunternehmen, grundsätzlich sämtliche Gruppen von Fahrgästen - d. h. einschließlich schwerbehinderter Menschen und Auszubildender - zu befördern, gilt unter den oben unter 4. aufgezeigten Voraussetzungen auch in einem kostenlosen ÖPNV. Ein kostenloser ÖPNV könnte theoretisch dazu führen, dass weniger finanzielle Mittel für das Verkehrsangebot im ÖPNV zur Verfügung stehen und dies bei Umfang (z. B. Streichung weniger lukrativer Strecken, geringere Fahrplandichte etc.) und Qualität des Angebots zu Einschränkungen führen würde. Dies würde sich auch auf die Beförderung Auszubildender und Schwerbehinderter auswirken. Theoretisch könnten die fehlenden Einnahmen der Verkehrsunternehmen jedoch auch anderweitig ausgeglichen werden. Unabhängig von solchen Überlegungen bleibt der rechtliche Maßstab für die Gewährleistung eines ausreichenden Verkehrsangebots bei der Einführung einer Kostenfreiheit unverändert. Dieser Maßstab soll im Folgenden erörtert werden. 5.1. Ausreichende Verkehrsbedienung Die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV ist nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (RegG)27 eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Nach § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG sind die von den Ländern benannten Behörden (Aufgabenträger) mit dieser Aufgabe betraut. Bei der Konkretisierung der ausreichenden Verkehrsbedienung kommt dem Aufgabenträger ein weites Planungsermessen zu. Dabei hat er das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der gerechten Planung zu beachten. Dieses ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattgefunden hat, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss, wenn das Gewicht der betroffenen Belange öffentlichen und privaten Belange verkannt worden oder aber der Ausgleich zwischen den Belangen in einer Weise vorgenommen worden ist, die zur 27 Regionalisierungsgesetz vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378 ,2395), das zuletzt durch Artikel 19 Absatz 23 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, abrufbar unter http://www.gesetzeim -internet.de/regg/RegG.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 10 objektiven Bedeutung der Belange außer Verhältnis steht.28 Ein Angebot, dass der Aufgabenträger unter Zugrundlegung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen sowie der landesgesetzlichen Ziele und Leitlinien konzipiert hat, stellt eine ausreichende Bedienung dar.29 Die im Einzelfall berührten öffentlichen Belange sind zu ermitteln. Dabei können z. B. bestimmte soziale Belange eine hervorgehobene Rolle bezüglich bestimmter Verkehrsrelationen spielen. Dies sind solche, auf die besondere (benachteiligte) Nutzergruppen regelmäßig angewiesen sind, wie beispielsweise zwischen einem Krankenhaus oder einem Altersheim und der Innenstadt bzw. einem Bahnhof.30 Auch wird in der Literatur teilweise vertreten, dass die willkürliche Einstellung einer bisher geleisteten Verkehrsbedienung einer ausreichenden Versorgung widerspricht .31 Im Rahmen des wirtschaftlich machbaren bzw. der finanziellen Leistungsfähigkeit des Aufgabenträgers ist zu bestimmen, welche Belange vorrangig zu verwirklichen sind.32 Das Niveau der ausreichenden Verkehrsbedienung wird somit begrenzt durch die finanzielle Leistungsfähigkeit des Aufgabenträgers.33 5.2. Barrierefreiheit Nach § 8 Abs. 3 S. 3 und 4 PBefG haben die zuständigen Behörden der Länder in einem Nahverkehrsplan die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des ÖPNV bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Nach § 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)34 sind insbesondere bauliche oder sonstige Anlagen, Verkehrsmittel sowie andere gestaltete Lebensbereiche barrierefrei , 28 Vgl. Ellner/Pfeifer/Schumacher: Die Mobilitätszentrale aus öffentlich-rechtlicher Perspektive, in ZUR 2019, 137 (139); Arnold/Brenner, Rechtsnatur und Rechtmäßigkeit von Nahverkehrsplänen im Sinne des § 8 III PBefG, in NVwZ 2015, 385 (387); jeweils unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 12. Dezember 1969, Az.: IV C 105.66, BVerwGE 34, 301 (309), Barth in: Baumeister, Recht des ÖPNV, Praxishandbuch für den Nahverkehr , Band 2, 1. Auflage 2013, S. 275 (Rn. 41) sowie S. 306 (Rn. 75). 29 Vgl. Barth in: Baumeister, Recht des ÖPNV, Praxishandbuch für den Nahverkehr, Band 2, 1. Auflage 2013, S. 276 (Rn. 42). 30 Vgl. Barth in: Baumeister, Recht des ÖPNV, Praxishandbuch für den Nahverkehr, Band 2, 1. Auflage 2013, S. 367 (Rn. 152). 31 Vgl. dazu Heinze in: Heinze/Fehling/Fiedler, Personenbeförderungsgesetz, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 28. 32 Vgl. Barth in: Baumeister, Recht des ÖPNV, Praxishandbuch für den Nahverkehr, Band 2, 1. Auflage 2013, S. 288 (Rn. 53) sowie S. 367 (Rn. 153). 33 Vgl. Barth in: Baumeister, Recht des ÖPNV, Praxishandbuch für den Nahverkehr, Band 2, 1. Auflage 2013, S. 288 (Rn. 53). 34 Vgl. Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 10. Juli 2018 (BGBl. I S. 1117) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-iminternet .de/bgg/BGG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 114/19 Seite 11 „wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei sind die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“ Kann die Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit bis zum Jahr 2022 nicht erreicht werden, sind Ausnahmen zu formulieren. Solche Ausnahmen können entweder im Nahverkehrsplan (vgl. § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG) oder durch den Landesgesetzgeber (vgl. § 62 Abs. 2 PBefG) festgelegt werden . Sie sind in der Regel zu befristen. Die Gründe für eine Ausnahme können in tatsächlichen Hindernissen liegen, die nur unter Einsatz unverhältnismäßiger Mittel aus dem Weg geräumt werden können. Hierzu gehören die technische oder wirtschaftliche Unumgänglichkeit (vgl. § 62 Abs. 2 PBefG). In der Literatur wird zudem vertreten, dass auch die fehlende Finanzierbarkeit Grund für eine Ausnahme sein kann.35 6. Fazit Die Einführung eines für alle Fahrgäste unentgeltlichen ÖPNV lässt die in § 22 PBefG normierte grundsätzliche rechtliche Verpflichtung der Verkehrsunternehmen, zur Beförderung aller Gruppen von Fahrgästen, einschließlich Auszubildender und Schwerbehinderter, unberührt. Inwieweit die Einführung eines für alle kostenlosen ÖPNV Umfang und Qualität des Verkehrsangebots (mit mittelbaren Auswirkungen auch für Schwerbehinderte und Auszubildende) schmälert , ist in erster Linie eine tatsächliche und keine rechtliche Frage. Der rechtliche Maßstab als solcher ist von der Wahl eines bestimmten Finanzierungsmodelles für den ÖPNV unabhängig, d. h. er ist beim entgeltlichen und unentgeltlichen ÖPNV gleich. Die Finanzierbarkeit stellt dabei, wie in den Abschnitten 5.1. und 5.2. erörtert, einen bei der Ausgestaltung des Angebots zu berücksichtigenden Belang dar. *** 35 Vgl. dazu sowie zur Barrierefreiheit im ÖPNV insgesamt Linke/Niemann, Barrierefreiheit im ÖPNV – zwischen Mindestanforderungen und Unmöglichkeit, in DVBl. 2016, 344 (439) m. w. N.; vgl. auch Sachstand des Fachbereichs WD 5 „Regelungen zur Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer im öffentlichen Personennahverkehr und Fernverkehr mit Bussen in Deutschland“ (WD 5 - 3000 - 036/17), abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/508958/878bc162564abe299cf00192b9098d96/WD-5-036-17-pdf-data.pdf.