© 2019 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 077/19 Mindesthaltbarkeitsdatum Nationaler Regelungsspielraum und fachwissenschaftliche Diskussion Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 2 Mindesthaltbarkeitsdatum Nationaler Regelungsspielraum und fachwissenschaftliche Diskussion Aktenzeichen: WD 5 - 3000 - 077/19 Abschluss der Arbeit: 28. August 2019 Fachbereich: WD 5: Wirtschaft und Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Begriffliche Vorklärung 6 3. Europarechtliche Festlegungen zum MHD in der LMIV 9 3.1. Grundsatz: Mindesthaltbarkeitsdatum als Pflichtangabe 9 3.2. Ausnahmen für bestimmte Lebensmittel 9 3.3. Ausnahmen für nicht vorverpackte Lebensmittel 9 4. Möglichkeiten und Grenzen nationaler Gestaltung 10 4.1. Grundsatz: EU-Vollharmonisierung im Bereich der Pflichtinformation des MHD 10 4.2. Ausnahme: Einzelstaatliche Vorschriften im Bereich MHD 11 4.2.1. Milch und Milcherzeugnisse 11 4.2.2. Nicht vorverpackte Lebensmittel 13 4.2.3. Deutschland 14 4.2.4. Österreich 15 5. Argumente für und gegen eine Änderung der MHD- Regelung 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 4 1. Einleitung Zentrale Bestimmungen zum Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) sind in der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 – Lebensmittel-Informationsverordnung (LMIV)1 enthalten. Das MHD2 zeigt an, bis zu welchem Datum sich ein verpacktes Lebensmittel mindestens lagern und verzehren lässt, ohne seine spezifischen Eigenschaften zu verlieren, d. h. Geruch, Geschmack , Beschaffenheit, Nährwert und Farbe. Bei korrekter Lagerung können Lebensmittel häufig auch über dieses Datum hinaus gelagert und – nach Prüfung von Geruch und Geschmack – verzehrt werden. Entsprechend durch das verkaufende Unternehmen geprüft, ist auch ein Verkauf über das MHD hinaus möglich.3 Davon abzugrenzen ist das Verbrauchsdatum4 (Ablaufdatum/Verfallsdatum), nach dem ein Lebensmittel weggeworfen werden sollte; es betrifft leicht verderbliche Lebensmittel wie z.B. Hackund Geflügelfleisch. Nach Ablauf dieses Verbrauchsdatums dürfen diese Lebensmittel nicht mehr zum Verkauf angeboten und sollten wegen bestehender Gesundheitsgefahr aufgrund von Keimbelastung auch nicht mehr verzehrt werden.5 Das MHD wird mit dem Hinweis auf verpackten Lebensmitteln „mindestens haltbar bis… “ – in der Regel unter Angabe von Tag, Monat und Jahr - dokumentiert. Bei einer Mindesthaltbarkeit von weniger als drei Monaten sind die Angabe von Tag und Monat ausreichend, bei einer Mindesthaltbarkeit von mehr als drei Monaten sind Monat und Jahr auszuweisen und bei länger als anderthalb Jahre währender Haltbarkeit reicht die Jahreszahl aus (mindestens haltbar bis Ende…“). Darüber hinaus sind mitunter besondere Haltbarkeitsbedingungen wie etwa die Lagertemperatur zu vermerken.6 1 VERORDNUNG (EU) Nr. 1169/2011 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 18), https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?qid=1544782804105&uri=CELEX:02011R1169-20180101. Dieser und alle weiteren in der Ausarbeitung aufgeführten wurden zuletzt am 28.08.2019 aufgerufen. 2 Siehe Art 9 Abs. 1 f) LMIV und Anhang X Nr. 1 LMIV. 3 Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), https://www.bvl.bund.de/Shared- Docs/GlossarEntry/M/Mindesthaltbarkeitsdatum.html?nn=1401078. 4 Siehe Art. 9 Abs. 1 f) LMIV und Anhang X Nr. 2 LMIV. 5 Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), https://www.bvl.bund.de/DE/01_Lebensmittel /03_Verbraucher/17_FAQ/MHD_Verbrauchsdatum/faq_MHD_node.html#doc12225648bodyText1. 6 Vgl. Anhang X Nr. 1 a) bis c) LMIVhttps://www.bvl.bund.de/SharedDocs/GlossarEntry/M/Mindesthaltbarkeitsdatum .html?nn=1401078. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 5 Das MHD ist grundsätzlich verpflichtend. Ausnahmen gelten z.B. für bestimmte Lebensmittel (wie etwa Zucker, Speisesalz und Wein7) und bestimmte Darreichungsformen (Stichwort: nicht vorverpackte Lebensmittel). Die Festlegung des MHD ist Aufgabe des verantwortlichen Lebensmittelunternehmers8 und wird von diesem nach bestem Wissen und Gewissen anhand von Studien oder mit Hilfe von Sachverständigen bestimmt.9 Das Datum soll so gewählt werden, dass gewährleistet ist, dass das Lebensmittel bis zum MHD bei sachgemäßer Lagerung und Transport seine spezifischen Eigenschaften behält. Der verantwortliche Lebensmittelunternehmer hat bei Festlegung des MHD zu beachten, dass es verboten ist, nicht sichere Lebensmittel (Art. 14 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 178/200210) 7 Gesamtauflistung der ausgenommenen Lebensmittel in Anhang X Nr. 1 d) LMIV, siehe hierzu auch Abschnitt 3.2 der Ausarbeitung. 8 Die Verantwortlichkeiten sind in Art. 8 Lebensmittel-Informationsverordnung (LMIV) geregelt. Hinsichtlich der Definition des „Lebensmittelunternehmers“ bzw. “Lebensmittelunternehmens“ wird in Art 2 Abs. 1 a) LMIV) auf die Begriffsbestimmung in Art. 3 Nr. 2 und 3 der VERORDNUNG (EG) Nr. 178/2002 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, (ABl. L 31 vom 1.2.2002 vom 21.2.1976, S. 1) (https://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32002R0178&from=DE) verwiesen: „Art. 3 (…) 2. „Lebensmittelunternehmen“ alle Unternehmen, gleichgültig, ob sie auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind oder nicht und ob sie öffentlich oder privat sind, die eine mit der Produktion , der Verarbeitung und dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausführen; 3. „Lebensmittelunternehmer“ die natürlichen oder juristischen Personen, die dafür verantwortlich sind, dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen erfüllt werden; (…)“ 9 Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)https://www.bvl.bund.de/DE/01_Lebensmittel /03_Verbraucher/17_FAQ/MHD_Verbrauchsdatum/faq_MHD_node.html#doc12225648bodyText1. 10 VERORDNUNG (EG) Nr. 178/2002 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, (ABl. L 31 vom 1.2.2002 vom 21.2.1976, S. 1), https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/ALL/?uri=CELEX%3A32002R0178. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 6 sowie Lebensmittel mit irreführenden Angaben (Art. 7 Abs.1 LMIV, § 11 Absatz 1 Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuch(LFGB11) in den Verkehr zu bringen.12 Der nachfolgenden Ausarbeitung liegt zum einen die Frage zugrunde, welchen Regelungsspielraum der deutsche Gesetzgeber im Bereich des MHD bei Fertigpackungen bzw. verpackten Lebensmitteln im Hinblick auf die europarechtlichen Normierungen in der LMIV - auch mit Blick auf unverarbeitete Lebensmittel - hat. An dieser Stelle wird zudem auf bereits geltende nationale Vorschriften in Deutschland hingewiesen sowie in Ergänzung der Fragestellung des Auftrags auf Wunsch des Auftraggebers zudem die Rechtslage in Österreich angerissen. Abschließend gibt die Ausarbeitung einen Überblick über das Für und Wider, das u.a. in der lebensmittelwissenschaftlichen Diskussion hinsichtlich einer Veränderung der bestehenden MHD-Regelungen vorgetragen wird. 2. Begriffliche Vorklärung Untersucht werden soll der nationale Regelungsspielraum in Bezug auf das MHD im Bereich „Fertigpackungen bzw. verpackte Lebensmittel“. Der Begriff der „Fertigpackung" findet sich etwa in § 42 Abs. 1 (Mess- und Eichgesetz - MessEG)13 in Umsetzung des Art. 2 RL 76/211/EWG14.15 Danach sind Fertigpackungen im Sinne dieses Gesetzes „Verpackungen beliebiger Art, in die in Abwesenheit des Käufers Erzeugnisse abgepackt und die in Abwesenheit des Käufers verschlossen werden, wobei die Menge des darin enthaltenen Erzeugnisses ohne Öffnen oder merkliche Änderung der Verpackung nicht verändert werden kann.“ Die LMIV, die die maßgeblichen Regelungen zur hier in Rede stehenden Mindesthaltbarkeit enthält , verwendet diese Terminologie nicht. „Verpackte Lebensmittel“ ist ebenfalls keine rechtliche Kategorie im Sinne der LMIV. Vielmehr wird in der LMIV zwischen „vorverpackten“ und „nicht vorverpackten Lebensmitteln “ begrifflich unterschieden und regulatorisch differenziert. 11 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Juni 2013 (BGBl. I S. 1426), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. April 2019 (BGBl. I S. 498) geändert worden ist, https://www.gesetze-im-internet.de/lfgb/BJNR261810005.html. 12 Siehe hierzu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Kurzinformation, Frist für das Inverkehrbringen von gefrorenen tierischen Erzeugnissen, WD 5 – 3000 – 035/19, https://www.bundestag.de/resource /blob/637508/de3345cd71110715087c9deb010cd7be/WD-5-035-19-pdf-data.pdf. 13 Mess- und Eichgesetz vom 25. Juli 2013 (BGBl. I S. 2722, 2723), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. April 2016 (BGBl. I S. 718) geändert worden ist, https://www.gesetze-im-internet.de/messeg /BJNR272300013.html. 14 RICHTLINIE DES RATES vom 20. Januar 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Abfüllung bestimmter Erzeugnisse nach Gewicht oder Volumen in Fertigpackungen (76/21 1 /EWG) (ABl. L 46 vom 21.2.1976, S. 1), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A31976L0211. 15 Vgl. auch Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht; Werkstand: 173. EL März 2019: Kommentar zu § 43 MessEG Rn. 13, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 7 Der Begriff „vorverpacktes Lebensmittel“ ist in Art. 2 Abs. 2 e) LMIV definiert: „(2) Ferner bezeichnet der Ausdruck (…) e) „vorverpacktes Lebensmittel“ jede Verkaufseinheit, die als solche an den Endverbraucher und an Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten verpackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt; Lebensmittel, die auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, werden von dem Begriff „vorverpacktes Lebensmittel“ nicht erfasst.“ Die Einschränkung „von auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf den unmittelbaren Verkauf vorverpackt“, die Lebensmittel zu nicht vorverpackten im Rechtssinne macht, stellt eine wichtige Unterscheidung zum Begriff der Fertigpackung dar. Der Begriff der Fertigpackung ist insgesamt weiter, weil er alle Fälle, in denen die Verpackung in Abwesenheit des Käufers vorgenommen wird, umfasst. Dieser Käufer muss anders als beim „vorverpackten Lebensmittel“ zudem nicht Endverbraucher oder Gemeinschaftsverpfleger sein. Der Begriff der „Fertigpackung“ umfasst vielmehr ebenso im gewerblichen Bereich vertriebene Produkte und bezieht sich darüber hinaus auch auf andere Konsumgüter, wie z. B. Kosmetika.16 Da der Begriff des „vorverpackten Lebensmittels“ nach alledem enger ist als der der „Fertigpackung , sind sämtliche vorverpackte Lebensmittel gleichzeitig auch Lebensmittel in Fertigpackungen .17 Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf den in der LMIV verwendeten Begriff des „vorverpackten Lebensmittels“. Des Weiteren können die nach allgemeinem Sprachgebrauch als „verpackte Lebensmittel“ bezeichnete Lebensmittel vorverpackt gemäß Art. 2 Abs. 2 LMIV sein oder im rechtlichen Sinne auch als nicht vorverpackt gelten, weil sie auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt wurden. Diese Unterscheidung ist im weiteren Verlauf bei der Frage nach dem nationalen Regelungsspielraum bedeutsam. Im Rechtssinne nicht vorverpackte Lebensmittel sind z.B. tagesfrisch abgepackte Produkte im Lebensmitteleinzelhandel oder auf Wochenmärkten. In diesem Bereich hat der nationale Gesetzgeber einen Gestaltungspielraum,18 was im Folgenden noch näher auszuführen sein wird. 16 Grube, in: Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 2 Rn. 45 f., beck-online . 17 Grube, in: Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV, , 2. Auflage 2016, Art. 2 Rn. 48 f., beckonline . 18 Grube, in: Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 2 Rn. 44, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 8 Soweit im Auftrag die Rechtslage zu „unverarbeiteten Lebensmitteln“ erfragt wird, ist auf die Definitionen des Art. 2 Abs. 1 b) LMIV „Verarbeitung“, „unverarbeiteten Erzeugnissen“ und Verarbeitungserzeugnissen “ gemäß der EU-Lebensmittelhygieneverordnung19 zu verweisen. So lautet Art. 2 Abs. 1 b) LMIV: „(1) Für die Zwecke dieser Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen: (…) b) die Begriffsbestimmungen für „Verarbeitung“, „unverarbeitete Erzeugnisse“ und „Verarbeitungserzeugnisse “ in Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben m, n und o der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene .“ Art. 2 Abs. 1 der Lebensmittelhygieneverordnung lautet: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck (…) m) „Verarbeitung“ eine wesentliche Veränderung des ursprünglichen Erzeugnisses, beispielsweise durch Erhitzen, Räuchern, Pökeln, Reifen, Trocknen, Marinieren, Extrahieren, Extrudieren oder durch eine Kombination dieser verschiedenen Verfahren; n) „unverarbeitete Erzeugnisse“ Lebensmittel, die keiner Verarbeitung unterzogen wurden, einschließlich Erzeugnisse, die geteilt, ausgelöst, getrennt, in Scheiben geschnitten, ausgebeint, fein zerkleinert, enthäutet, gemahlen, geschnitten, gesäubert, garniert, enthülst, geschliffen, gekühlt, gefroren, tiefgefroren oder aufgetaut wurden; o) „Verarbeitungserzeugnisse“ Lebensmittel, die aus der Verarbeitung unverarbeiteter Erzeugnisse hervorgegangen sind; diese Erzeugnisse können Zutaten enthalten, die zu ihrer Herstellung oder zur Verleihung besonderer Merkmale erforderlich sind.“ In Bezug auf das MHD stellen die in diesem Sinne unverarbeiteten Lebensmittel keine eigene begriffliche Kategorie dar. Allerdings sind bestimmte unverarbeitete Lebensmittel von der Kennzeichnungspflicht des MHD bereits europarechtlich nach der LMIV ausgenommen (z. B. frisches Obst und Gemüse, siehe hierzu Abschnitt 3.2 der Ausarbeitung). 19 VERORDNUNG (EG) Nr. 852/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene (ABl. L 139, 30.4.2004, S.1), https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?uri=celex%3A02004R0852-20090420. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 9 3. Europarechtliche Festlegungen zum MHD in der LMIV 3.1. Grundsatz: Mindesthaltbarkeitsdatum als Pflichtangabe Nach Art. 9 Abs. 1 f) LMIV zählt das MHD zu den Angaben über Lebensmittel, die nach Maßgabe der Art. 10 bis 35 LMIV und vorbehaltlich der in Kapitel IV der LMIV vorgesehenen Ausnahmen verpflichtend sind. 3.2. Ausnahmen für bestimmte Lebensmittel Nach Art. 24 Abs. 2 LMIV ist das MHD gemäß Anhang X der Verordnung auszudrücken. Dieser Anhang regelt in Nr. 1 a) bis c) die weiteren Einzelheiten zur Angabe des MHD und unter d), dass die Angabe des MDH „vorbehaltlich der Unionsvorschriften, in denen andere Datumsangaben vorgeschrieben sind,“ bei bestimmten Lebensmitteln nicht erforderlich ist: „— frischem Obst und Gemüse — einschließlich Kartoffeln —, das nicht geschält, geschnitten oder auf ähnliche Weise behandelt worden ist; diese Ausnahmeregelung gilt nicht für Keime von Samen und ähnliche Erzeugnisse, wie Sprossen von Hülsenfrüchten; — Wein, Likörwein, Schaumwein, aromatisiertem Wein und ähnlichen Erzeugnissen aus anderen Früchten als Weintrauben sowie aus Weintrauben oder Traubenmost gewonnenen Getränken des KN-Codes 2206 00; — Getränken mit einem Alkoholgehalt von 10 oder mehr Volumenprozent; — Backwaren, die ihrer Art nach normalerweise innerhalb von 24 Stunden nach der Herstellung verzehrt werden; — Essig; — Speisesalz; — Zucker in fester Form; — Zuckerwaren, die fast nur aus Zuckerarten mit Aromastoffen und/oder Farbstoffen bestehen; — Kaugummi und ähnlichen Erzeugnissen zum Kauen.“ 3.3. Ausnahmen für nicht vorverpackte Lebensmittel Eine weitere bereits europarechtlich formulierte Ausnahme von der Angabe des MHD nach Art. 9 Abs. 1 f) LMIV enthält Art. 44 Abs. 1 b) 1. HS. LMIV. Art . 44 Abs. 1 b) LMIV lautet: „(1) Werden Lebensmittel Endverbrauchern oder Anbietern von Gemeinschaftsverpflegung ohne Vorverpackung zum Verkauf angeboten oder auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt, so (…) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 10 b) sind die Angaben gemäß den Artikeln 9 und 10 nicht verpflichtend, es sei denn, die Mitgliedstaaten erlassen nationale Vorschriften, nach denen einige oder alle dieser Angaben oder Teile dieser Angaben verpflichtend sind.“ Hinsichtlich des in Art. 44 Abs. 1 b) 2. HS. LMIV formulierten Spielraums für nationale Regelungen wird auf Abschnitt 4.2.2 der Ausarbeitung verwiesen. 4. Möglichkeiten und Grenzen nationaler Gestaltung 4.1. Grundsatz: EU-Vollharmonisierung im Bereich der Pflichtinformation des MHD Art. 38 Abs. 1 LMIV stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten „in Bezug auf speziell durch diese Verordnung harmonisierte Aspekte einzelstaatliche Vorschriften weder erlassen noch aufrechterhalten werden“ dürfen, „es sei denn, dies ist nach dem Unionsrecht zulässig. Diese einzelstaatlichen Vorschriften dürfen nicht den freien Warenverkehr behindern, beispielsweise durch die Diskriminierung von Lebensmitteln aus anderen Mitgliedstaaten.“ Art. 38 Abs. 2 LMIV gestattet nationale Vorschriften in nicht vollharmonisierten Bereichen, „sofern diese Vorschriften den freien Verkehr der Waren, die dieser Verordnung entsprechen, nicht unterbinden, behindern oder einschränken.“ Diejenigen Bereiche, die durch die LMIV bereits abschließend geregelt und damit europarechtlich vollharmonisiert sind, sind einer nationalen Gesetzgebung nicht zugänglich. Welche das im Einzelnen sind, ist durch einen Blick auf die in weiteren Regelungen des Kapitels VI, Art. 39 bis Art. 44 LMIV, zu ermitteln. Diese Bestimmungen beinhalten Sonderregelungen zur Erlaubnis mitgliedstaatlicher Regelungen, so auch für die hier in Rede stehende Pflichtinformation des MHD in Art. 9 Abs. 1 f) LMIV, d.h. im Umkehrschluss, dass jenseits dieser eigens klar umgrenzten Ausnahmen kein Platz für nationale Gesetzgebung ist.20 In dieser Weise äußert sich auch die Bundesregierung zu etwaigen Änderungen der Regelungen des MHD durch den deutschen Gesetzgeber. Zur Frage, ob die Bundesregierung plane, das MHD durch ein Verfallsdatum zu ersetzen (Datum, ab dem Lebensmittel nicht mehr genießbar sind bzw. gesundheitsschädlich werden), oder sie es in Erwägung ziehe, lediglich das MHD für bestimmte langlebige Produkte wie Nudeln, Reis, Kaffee oder Tee abzuschaffen, antwortet der zuständige Parlamentarische Staatssekretär Michael Stübgen auf die Mündliche Frage der Abgeordneten Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nach der sogenannten Lebensmittel-Informationsverordnung (EU) Nr. 1169/2011 auf vorverpackten Lebensmitteln grundsätzlich verpflichtend anzugeben. Diese Verpflichtung kann von einem einzelnen Mitgliedstaat nicht geändert oder abgeschafft werden .“21 20 Vgl. auch Voit, in: Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung - LMIV, , 2. Auflage 2016, Art. 38 Rn. 4, beck-online. 21 51. Sitzung, 26. September 2018, BT-Plpr 19/51, S. 5393 A (Frage 80), http://dipbt.bundestag .de/dip21/btp/19/19051.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 11 Zur weiteren Frage der Abgeordneten Künast, bis wann genau die Bundesregierung die von ihr angekündigte Überprüfung des MHD durchführen werde und mithilfe welcher Maßnahmen (siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Seite 90 und „Bild“-Zeitung vom 14. September 2018, www.bild.de/geld/ wirtschaft/wirtschaft/spd-fordert-nach-bild-bericht-datumdermindesthaltbarkeit -abschaffen-57259344.bild.html), antwortet der Parlamentarische Staatssekretär Stübgen: „Die Pflicht zur Angabe eines Mindesthaltbarkeitsdatums ist EU-Recht. Daher wird die Frage, ob die Aufnahme weiterer Lebensmittel in die MHD-Ausnahmeliste des Anhang X der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (LMIV) durch weitere lange haltbare Lebensmittel ergänzt werden sollte, auf EU-Ebene geprüft. Die Beratungen dauern an.“22 4.2. Ausnahme: Einzelstaatliche Vorschriften im Bereich MHD Wie bereits unter 4.1 erwähnt, eröffnen Art. 39 bis 44 LMIV unter den dort genannten Voraussetzungen für die EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit, von bestimmten in der LMIV niedergelegten Regelungen über Pflichtinformationen abweichendes Recht zu schaffen. Abweichende nationale Regelungen in Bezug auf die Pflichtinformation des MHD gemäß Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 f) LMIV sind nach Art. 40 und 44 LMIV zulässig. 4.2.1. Milch und Milcherzeugnisse Nach Art. 40 S. 1 LMIV können die Mitgliedstaaten „für Milch und Milcherzeugnisse in Glasflaschen , die zur Wiederverwendung bestimmt sind, Maßnahmen erlassen, die von Artikel 9 Absatz 1 und Artikel 10 Absatz 1 abweichen.“ Art. 40 LMIV bezieht sich auf Kennzeichnungsvorschriften für Milch und Milcherzeugnisse, die in Mehrwegflaschen aus Glas vertrieben werden. Nach dieser Bestimmung ist es den Mitgliedstaaten gestattet, so gut wie alle Bestandteile der Pflichtinformationen für die genannten Produkte für entbehrlich zu erklären oder auf einzelne Kennzeichnungen zu begrenzen.23 Diese Ausnahmevorschrift betrifft nur „Milch- und Milcherzeugnisse“. Die Definition richtet sich nach Anhang VII Teil III GMO-VO (VO (EU) 1308/201324: 22 51. Sitzung, 26. September 2018, BT-Plpr 19/51, S. 5393 B (Frage 81), http://dipbt.bundestag .de/dip21/btp/19/19051.pdf. 23 Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 173. EL März 2019, Art. 40 LMIV (Stand: Juli 2017 EL 167) Rn. 2, beck-online. 24 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007, ABl. L 347, vom 20.12.2013, S. 671, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32013R1308. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 12 „Milch und Milcherzeugnisse 1. Der Ausdruck "Milch" ist ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten. Jedoch kann die Bezeichnung "Milch" a) für Milch verwendet werden, die einer ihre Zusammensetzung nicht verändernden Behandlung unterzogen worden ist, wie auch für Milch, deren Fettgehalt gemäß Teil IV standardisiert worden ist; b) zusammen mit einem oder mehreren Worten verwendet werden, um den Typ, die Qualitätsklasse , den Ursprung und/oder die vorgesehene Verwendung der Milch zu bezeichnen oder um die physikalische Behandlung, der die Milch unterzogen worden ist, oder die in der Zusammensetzung der Milch eingetretenen Veränderungen zu beschreiben, sofern diese Veränderungen lediglich in dem Zusatz und/oder dem Entzug natürlicher Milchbestandteile bestehen. 2. "Milcherzeugnisse" im Sinne dieses Teils sind ausschließlich aus Milch gewonnene Erzeugnisse , wobei jedoch für die Herstellung erforderliche Stoffe zugesetzt werden können, sofern diese nicht verwendet werden, um einen der Milchbestandteile vollständig oder teilweise zu ersetzen. Folgende Bezeichnungen sind ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehalten: a) auf allen Vermarktungsstufen folgende Bezeichnungen: i) Molke, ii) Rahm, iii) Butter, iv) Buttermilch, v) Butteroil, vi) Kaseine, vii) wasserfreies Milchfett, viii) Käse, ix) Joghurt, x) Kefir, xi) Kumys, xii) viili/fil, Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 13 xiii) smetana, xiv) fil, xv) rjaženka, xvi) rūgušpiens; b) die tatsächlich für Milcherzeugnisse verwendeten Bezeichnungen im Sinne von Artikel 5 der Richtlinie 2000/13/EG bzw. Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011.“ Außerdem bezieht sich die Ermächtigung nur auf Milch und Milcherzeugnisse „in Glasflaschen, die zur Wiederverwendung bestimmt sind“. Damit fallen Plastikflaschen oder Einwegflaschen aus dem Bereich der nationalen Regelungshoheit heraus.25 Deutschland hat – soweit ersichtlich - auf der Grundlage von Art. 40 Abs. 1 S. 1 LMIV keine abweichenden Vorschriften erlassen.26 4.2.2. Nicht vorverpackte Lebensmittel Für nicht vorverpackte Lebensmittel (siehe zur Definition Abschnitt 2. der Ausarbeitung) bestehen nach Art. 44 Abs. 1 b) 2. HS LMIV und Art. 44 Abs. 2 LMIV weitreichende nationale Regelungsspielräume .27 Nach Art. 44 Abs. 1 Abs. 1 2. HS. LMIV können die für nicht vorverpackte Lebensmittel grundsätzlich nicht verpflichtenden Angaben nach Art. 9 und 10 LMIV (Art. 44 Abs. 1 1. HS LMIV, siehe zum Wortlaut der Vorschrift Abschnitt 3.3. der Ausarbeitung) durch nationale Bestimmungen für verpflichtend erklärt werden. Nach Art. 44 Abs. 2 LMIV haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nationale Vorschriften darüber erlassen, „in welcher Form der Angabe und Darstellung die Angaben oder Teile der Angaben nach Absatz 1 bereitzustellen sind.“ Im Bereich des MHD gilt danach: Auf der Basis der dargestellten Vorschrift ist der Weg für mitgliedstaatliche Regelungen frei, die das MHD für nicht vorverpackte Lebensmittel für verpflichtend erklären (das betrifft z.B. das Bereitstellen von zum Verkauf vorverpackten Lebensmitteln an Selbstbedienungstheken28). Zudem ist dem nationalen Gesetzgeber nach Art. 44 Abs. 2 LMIV die 25 Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 173. EL März 2019, Art. 40 LMIV (Stand: Juli 2017 EL 167) Rn. 4, beck-online. 26 Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 173. EL März 2019, Art. 40 LMIV (Stand: Juli 2017 EL 167) Rn. 6, beck-online. 27 Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 173. EL März 2019, Art. 44 LMIV (Stand: Juli 2017 EL 167) Rn. 11, beck-online. 28 Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 173. EL März 2019, Art. 44 LMIV (Stand: Juli 2017 EL 167) Rn. 13, beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 14 Gestaltung der Form und Darstellung der Angaben nach Absatz 1 der Vorschrift überlassen, womit auch das MHD erfasst ist. 4.2.3. Deutschland Mit der am 13. Juli 2017 in Kraft getretenen Verordnung zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an die Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel vom 5. Juli 201729 hat Deutschland nationale Spielräume gemäß LMIV genutzt und die Lebensmittelinformations-Durchführungsverordnung (LMIDV) als Ergänzung zu den Bestimmungen der LMIV geschaffen sowie darüber hinaus weitere Änderungen in speziellen lebensmittelrechtlichen Verordnungen (z.B. Aromenverordnung, Verordnung über tiefgefrorene Lebensmittel und Konfitürenverordnung) vorgenommen. § 4 Abs. 1 LMIDV ist eine Einzelvorschrift im Sinne Art. 44 Abs. 1 b) 2. HS LMIV, die eine besondere nationale Vorschrift für die Kennzeichnung von nicht vorverpackten Lebensmitteln beim Inverkehrbringen oder Abgeben beinhaltet. Diese Vorschrift betrifft die im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackten und Endverbrauchern zur Selbstbedienung angebotenen Lebensmittel. Für diese ist nach § 4 Abs. 1 S. 1 LMIDV auch das MHD verpflichtend anzugeben . Satz 2 der Vorschrift regelt den Fall der Automatenabgabe, Satz 3 bestimmt Ausnahmen. Nach § 6 Abs. 4 LMIDV stellt ein Verstoß gegen die Kennzeichnungspflicht nach § 4 Abs. 1 S. 1 LMIV eine Ordnungswidrigkeit dar. § 4 LMIDV lautet wie folgt: „(1) Lebensmittel, die im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt und Endverbrauchern zur Selbstbedienung angeboten werden, dürfen durch den Verantwortlichen nach Artikel 8 Absatz 1 oder Absatz 4 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 nur in den Verkehr gebracht werden oder durch den Verantwortlichen nach Artikel 8 Absatz 3 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 nur abgegeben werden, wenn sie mit den Angaben nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a bis d und f bis k und nach Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 gekennzeichnet sind. Bei Lebensmitteln, die über Automaten oder automatisierte Anlagen in den Verkehr gebracht werden, können die Angaben nach Satz 1 auf einem Schild an dem oder in der Nähe des Automaten oder der automatisierten Anlage angebracht werden. Satz 1 gilt nicht 1. für Dauerbackwaren und Süßwaren, die in der Verkaufsstätte im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, sofern die Unterrichtung des Verbrauchers über die Angaben nach Satz 1 auf andere Weise gewährleistet ist, und 2. für Lebensmittel, die zu karitativen Zwecken abgegeben werden.“ 29 BGBl. 2017 Teil I Nr. 45, 2272, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s2272.pdf%27%5D #__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s2272.pdf%27%5D__1565872254034. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 15 4.2.4. Österreich Die frühere30 österreichische Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz hat zur Frage nach nationalen Gestaltungsspielräumen bei der Regelung des MHD im Rahmen einer Antwort auf eine schriftliche parlamentarische Anfrage31 betreffend „Lebensmittelverschwendung “ Stellung genommen. Gefragt war u.a.: „19) Sehen Sie einen juristischen Spielraum, der es erlaubt, das Mindesthaltbarkeitsdatum abzuschaffen ? 20) Welche Möglichkeiten gibt es? Warum werden sie ergriffen bzw. warum nicht?“ Die Antwort auf diese Fragen lautet: „Das Lebensmittelkennzeichnungsrecht stellt harmonisiertes Recht dar und wird durch die Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (kurz auch als LMIV bezeichnet) geregelt. Wie ich bereits zur Frage 5 ausgeführt habe, werden Fragestellungen zum MHD in Zusammenhang mit der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung derzeit im Rahmen der EU Plattform „Food Losses und Food Waste“ diskutiert.“ Die Antwort32 enthält auch weitere Ausführungen zu dieser Plattform: „Auf Europäischer Ebene wurde eine Plattform zum Thema „Food Losses und Food Waste“33 eingerichtet , an der die Mitgliedstaaten sowie die beteiligten Verkehrskreise teilnehmen können. Aus lebensmittelrechtlicher Sicht setzt sich Österreich vor allem für eine verbesserte Information der Konsumentinnen und Konsumenten über das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) sowie für weitere Ausnahmen von der Kennzeichnung des MHD ein (schon derzeit benötigen z.B. Essig, Salz oder Zucker kein MHD). Im Rahmen der Plattform wurde für Fragestellungen zum MHD in Zusammenhang mit einer Vermeidung von Lebensmittelverschwendung eine eigene Unter-Arbeitsgruppe eingerichtet.“ 30 Seit 03.06.2019 hat Österreich bis zu den für den 29.09.2019 angesetzten Neuwahlen des Nationalrates eine Übergangsregierung; amtierende Bundesministerin im Bereich Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz ist Mag. Dr. Brigitte Zarfl (siehe: https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_05426/index.shtml). 31 Anfragebeantwortung durch die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz Mag. Beate Hartinger-Klein zu der schriftlichen Anfrage (2959/J) der Abgeordneten Erwin Preiner, Kolleginnen und Kollegen an die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz betreffend Lebensmittelverschwendung , Drs. 2908/AB vom 25.04.2019, Anfrage und Antwort abzurufen unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/J/J_02959/index.shtml. 32 Zu Frage 5 und 12 der Anfrage. 33 Anmerkung durch Verfasser der Ausarbeitung: Weitere Informationen zur Plattform unter: https://ec.europa .eu/food/safety/food_waste/eu_actions/eu-platform_en. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 16 Abweichende nationale Bestimmungen zum MHD sind in Österreich in der Allergeninformationsverordnung 34 zu finden. Dort heißt es: „Abgabe in Selbstbedienung § 6. Für im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf verpackte Lebensmittel, die in Selbstbedienung abgegeben werden, sind die Angaben gemäß den Art. 9 Abs. 1 lit. a bis h und Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 verpflichtend.“ Österreich hat also ebenso wie Deutschland für Lebensmittel, die im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf (vor-)verpackt wurden, abweichendes nationales Recht nach Art. 44 Abs. 1 b) 2. HS LMIV in Bezug auf das MHD (Art. 9 Abs. 1 f) LMIV) geschaffen und dessen Angabe für solche Lebensmittel, die in Selbstbedienung abgegeben werden, für verpflichtend erklärt. § 7 Allergeninformationsverordnung lautet: „Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums § 7. Eine Verlängerung der Mindesthaltbarkeitsfrist ist bei verpackten Lebensmitteln nicht zulässig . Ist die Mindesthaltbarkeitsfrist bereits abgelaufen, ist beim Inverkehrbringen auf diesen Umstand deutlich und allgemein verständlich hinzuweisen.“ Zu Satz 2 führt die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz in der oben bereits zitierten Antwort auf eine schriftliche parlamentarische Anfrage betreffend „Lebensmittelverschwendung“35 wie folgt aus36: „In meinem Zuständigkeitsbereich habe ich dafür gesorgt, dass das Inverkehrbringen von Lebensmitteln auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums - unter der Voraussetzung der Kenntlichmachung dieses Umstandes - erlaubt ist, sofern alle sonstigen lebensmittelrechtlichen Anforderungen erfüllt sind. Die entsprechende Bestimmung findet sich in der Verordnung über die 34 Verordnung des Bundesministers für Gesundheit über die Weitergabe von Informationen über unverpackte Lebensmittel , die Stoffe oder Erzeugnisse enthalten, die Allergien oder Unverträglichkeiten auslösen können und über weitere allgemeine Kennzeichnungsbestimmungen für Lebensmittel (Allergeninformationsverordnung) BGBLA_2014_II_175, https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Gesamtabfrage&Dokumentnummer =BGBLA_2014_II_175&SearchInErlaesse=&SearchInGbk=&SearchInBvwg=&SearchInLvwg=&SearchIn- LgblAuth=. 35 Anfragebeantwortung durch die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz Mag. Beate Hartinger-Klein zu der schriftlichen Anfrage (2959/J) der Abgeordneten Erwin Preiner, Kolleginnen und Kollegen an die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz betreffend Lebensmittelverschwendung , Drs. 2908/AB vom 25.04.2019, Anfrage unter: https://www.parlament .gv.at/PAKT/VHG/XXVI/J/J_02959/index.shtml und Antwort unter: https://www.parlament .gv.at/PAKT/VHG/XXVI/AB/AB_02908/index.shtml abzurufen. 36 Die Frage lautete: „15) Gibt es nach Ansicht der Bundesregierung eine eindeutige Rechtslage bei Abgabe bzw. Verkauf abgelaufener Lebensmittel (bitte in tabellarischer Form mit Auflistung der nationalen und europäischen Regelungen hinsichtlich der Abgabe von Lebensmitteln, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, beantworten)?“, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/J/J_02959/index.shtml. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 17 Weitergabe von Informationen über unverpackte Lebensmittel, die Stoffe oder Erzeugnisse enthalten , die Allergien oder Unverträglichkeiten auslösen können und über weitere allgemeine Kennzeichnungsbestimmungen für Lebensmittel (Allergeninformationsverordnung), BGBl. II Nr. 175/2014, geändert mit BGBl. II Nr. 249/2017.“ Aus § 9 der Allergeninformationsverordnung ergibt sich explizit, dass Österreich mit der Verordnung nationale Regelungsspielräume nach Art. 44 LIV genutzt hat. Hierin heißt es zu den Rechtsgrundlagen der nationalen Einzelvorschriften: „Schlussbestimmungen § 9. Durch diese Verordnung werden Durchführungsbestimmungen gemäß Art. 44 Abs. 1 lit. a und b und Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel, ABl. Nr. L 304 vom 22. November 2011, geändert durch die delegierte Verordnung (EU) Nr. 78/2014, ABl. Nr. L 27 vom 30. Jänner 2014, erlassen.“ 5. Argumente für und gegen eine Änderung der MHD-Regelung Für die Einführung des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) war nach Angaben der Bundesregierung im Februar 1980 „die Erwägung maßgebend, dass die Datumskennzeichnung eine für die Kaufentscheidung wichtige Unterrichtung des Verbrauchers darstellt.“37 Und sie wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die EG-Kennzeichnungs-Richtlinie die Möglichkeit zulasse, die Dauer der Mindesthaltbarkeit, z.B. auch durch die Angabe des Herstelldatums in Verbindung mit einem bestimmten Zeitraum auszudrücken. Falls ein entsprechendes Bedürfnis von den betroffenen Kreisen geäußert würde, hieß es im Jahr 1980, werde dies im Rahmen der Umsetzung der EG-Kennzeichnungs-Richtlinie in nationales Recht in die Überlegungen einbezogen werden.38 Im Oktober 2014 äußerte die damalige Bundesregierung, das MHD stelle für die Verbraucher ein Kriterium zur Begutachtung der Qualität eines Lebensmittels dar.39 37 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU. Mindesthaltbarkeitsdatum für Bier nach der EG-Lebensmittelkennzeichnungsrichtlinie, BT-Drs. 8/3672 vom 13.02.1980. http://dipbt.bundestag .de/doc/btd/08/036/0803672.pdf. 38 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU. Mindesthaltbarkeitsdatum für Bier nach der EG-Lebensmittelkennzeichnungsrichtlinie, BT-Drs. 8/3672 vom 13.02.1980. http://dipbt.bundestag .de/doc/btd/08/036/0803672.pdf. 39 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Maßnahmen der Bundesregierung gegen Lebensmittelverschwendung, BT-Drs. 18/2978 vom 24.10.2014. http://dipbt.bundestag .de/doc/btd/18/029/1802978.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 18 Auch nach Einschätzung der Verbraucherzentrale bietet das MHD „eine unverzichtbare Orientierung beim Einkauf und der Lagerung von verarbeiteten und verpackten Lebensmitteln.“40 Als Wegwerfgrund habe das MHD einen geringeren prozentualen Anteil konstatiert die Bundesregierung im September 2018 und führt aus: „Das BMEL hat im Jahr 2018 die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, die die Gesellschaft für Konsumforschung41 in den Jahren 2016 und 2017 im Auftrag des BMEL in Privathaushalten durchgeführt hat. Dies ist bundesweit die erste repräsentative und wiederholbare Studie in privaten Haushalten und beruht auf der Führung von Haushaltstagebüchern. Laut Studienergebnissen wird das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) mit einem Anteil von 6,8 Prozent als Wegwerfgrund für Lebensmittel aufgeführt.“42 Bereits zuvor waren Wissenschaftler des Max Rubner-Instituts (MRI) anhand von Daten des Nationalen Ernährungsmonitorings (NEMONIT) der Jahre 2012 und 2013 u.a. der Frage nachgegangen , wie Verbraucher mit dem MHD umgehen und kamen ebenfalls zu folgendem Ergebnis: „Im Kontext der gesamten Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten scheinen Lebensmittel mit abgelaufenem MHD allerdings nur eine marginale Rolle zu spielen: Etwa die Hälfte der Befragten gab an, dass abgelaufene Lebensmittel gar keinen Anteil an den in ihrem Haushalt weggeworfenen Lebensmitteln haben. Den Hauptteil der Lebensmittelabfälle machen ihren Angaben zufolge verdorbene Lebensmittel aus.“43 Im Arbeitsbericht „Obsoleszenz44 – auch ein Thema bei Lebensmitteln. Ergebnisse einer Expertenbefragung “45, einer Veröffentlichung des Institutes für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche 40 https://www.lebensmittelklarheit.de/informationen/das-mindesthaltbarkeitsdatum-ist-kein-verfallsdatum. 41 Schmidt, Thomas; Schneider, Felicitas; Claupein, Erika, Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten in Deutschland - Analyse der Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung 2016/2017 von GfK SE -. Thünen-Institut für Ländliche Räume, Thünen-Institut für Marktanalyse, Max Rubner-Institut, Thünen Working Paper 92, Braunschweig /Germany, April 2018. https://www.thuenen.de/media/publikationen/thuenen-workingpaper/Thuenen- WorkingPaper_92.pdf. 42 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der AfD. Reduktion der Lebensmittelverschwendung in Deutschland, BT-Drs. 19/4643 vom 26.09.2018, http://dip21.bundestag .de/dip21/btd/19/046/1904643.pdf. 43 MRI, Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbraucherverhalten, Pressemitteilung vom 07.03.2017, https://www.mri.bund.de/de/presse/pressemitteilungen/presse-einzelansicht /?tx_news_pi1%5Bnews%5D=185&cHash=eac756cd63381bc6c4437a5125dff223. 44 Bezogen auf Lebensmittel lassen sich „geplanter Verschleiß“ oder „geplante Obsoleszenz“ wie folgt definieren: „Strategien und Vorgehensweisen der Hersteller und des Handels, um durch Verkürzungen der Nutzungszyklen den Neukauf von Produkten [zu] beschleunigen“. (http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte /2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf, S. 21). 45 Gebhardt, Beate; Ding, Jana-Lisa; Feisthauer, Philipp, Obsoleszenz – auch ein Thema bei Lebensmitteln. Ergebnisse einer Expertenbefragung, 2018, http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte/2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 19 Marktlehre der Universität Hohenheim vom Dezember 2018, heißt es in der Zusammenfassung u.a. zum MHD: „Es fehlen genaue rechtliche Vorgaben. Die Festlegung von Seiten der Hersteller wird damit willkürlich. Fehlinterpretationen der Verbraucher machen es Herstellern und Handel möglich , diese Angabe gezielt zur Mengen- und Gewinnsteigerung einzusetzen.“46 Im Arbeitsbericht heißt es weiter: „Das MHD und das Verbrauchsdatum sind Empfehlungen des Herstellers, die dieser aufgrund von Daten aus Haltbarkeits- und Stabilitätsstudien oder alleine aufgrund ihrer Kenntnisse der Produkteigenschaften festlegen (…). Die Angabe liegt in der Verantwortung der Hersteller . Das MHD dient der Lebensmittelsicherheit und dem Verbraucher als Orientierung, so kommuniziert es auch der Lebensmittelhandel (…). Eine lange Restlaufzeit sieht der Lebensmittelhandel demnach als ein „Gütezeichen für Qualität“ (…). Befürchtet wird, dass die Angabe des MHD die menschlichen Sinne ersetzt und Lebensmittel mit abgelaufenen MHD ohne eigene Genusskontrolle entsorgt werden, auch wenn sie noch verzehrstauglich wären (...).“47 Eine sachgerechte Festsetzung des Haltbarkeitsdatums wird von einigen für den Arbeitsbericht befragten Experten48 gefordert: „Die Willkür bei der Festsetzung des Haltbarkeitsdatums von Seiten der Hersteller ist ein ebenfalls kritisierter Punkt. „Mitunter kann das MHD einfach festgelegt werden. Das heißt, es können Untersuchungen gemacht werden, aber [man] kann es auch einfach festlegen. So kann man die Haltbarkeit künstlich verkürzen“, gibt V2 zu bedenken (ähnlich L2, E4). Auch Experte E3 spricht im Zusammenhang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum von „Fantasiedaten , die auf das Produkt gedruckt werden, die aber gar nicht der Wirklichkeit entsprechen“. Die Gründe dafür sind vielfältig: „Beispielsweise können die Laufzeiten während Erntespitzen oder auch bei saisonalen Produkten verkürzt werden“ (K2). „Wenn es viel Überschuss von einem Produkt gibt, macht man schon viel mit dem MHD“, bestätigt Landwirt L3. Das ist auch bei Christstollen der Fall: „Wenn sie früh im Jahr produziert werden, also im September, bekommen sie ein Mindesthaltbarkeitsdatum von sechs Monaten. Und je weiter es auf Weihnachten zugeht, desto kürzer wird auch das Mindesthaltbarkeitsdatum, weil der Handel [..] möchte, dass die Christstollen nach Weihnachten abverkauft werden“ (E1). Des Weiteren hat Experte E1 in der eigenen Studie feststellen können, dass der Handel für Milchprodukte immer eine gewisse Restlaufzeit fordert. Wenn diese Restlaufzeit überschritten ist, gelangen die Produkte gar nicht mehr in den Handel, obwohl sie noch bedenkenlos zum Verzehr geeignet 46 Gebhardt, Beate; Ding, Jana-Lisa; Feisthauer, Philipp, Korrektiv der Verantwortung von Verbrauchern für Lebensmittelabfälle : Geplante Obsoleszenz bei Lebensmitteln?, 2018, https://www.researchgate.net/publication /329238849_Korrektiv_der_Verantwortung_von_Verbrauchern_fur_Lebensmittelabfalle_Geplante_Obsoleszenz _bei_Lebensmitteln. 47 http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte/2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf. 48 Die 19 Teilnehmer der Expertenbefragung aus Landwirtschaft (L), Verarbeitung (V), Handel (H) und Konsumenten (K) siehe S. 107, http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte/2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 20 wären. Zudem konnte in dieser Studie beobachtet werden, dass Verbraucher oftmals das Produkt mit der längsten Haltbarkeit wählen. Aus diesem Grund „vergibt das Unternehmen für die gleiche Charge zwei verschiedene Haltbarkeitsdaten, damit der Handel den Verbrauchern ja vortäuschen kann, dass es eben ein frischeres Produkt ist“ (E1). Auch Experte H1 hat ähnliche Beobachtungen machen können. Seiner Meinung nach ist das MHD eine „absolute Machtgeschichte der Handels“, um damit den Konsum der Verbraucher zu steuern: „Nudeln, Reis und Müsli sind alles Produkte, bei denen das MHD total sinnlos ist. Hier wird das Datum nur zur Mengensteuerung eingesetzt“ (H1).“49 Des Weiteren heißt es dort: „Die Rolle des Gesetzgebers wird vor allem im Zusammenhang mit der Konkretisierung des Mindesthaltbarkeitsdatums bemüht (V2, H1, K1, K2, E1, E2, E3, E5, E6). Dessen „[..] Festlegung [..] müsste transparenter gemacht werden“ (V2). Hierzu könnten beispielsweise Kontrollen eingeführt werden, die eine sachgerechte Festlegung des Mindesthaltbarkeitsdatums garantieren (K1). Außerdem wird mehrfach die Forderung ausgesprochen, das Mindesthaltbarkeitsdatum in ein Produktionsdatum umzuwandeln, so dass die Entscheidung bezüglich der Haltbarkeit des Lebensmittels dem Konsumenten nicht automatisch abgenommen werde (E9). Auch wird vorgeschlagen, das Mindesthaltbarkeitsdatum für Trockenprodukte abzuschaffen (E1).“50 Die Autoren des Arbeitsberichts erklären u.a. die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung rechtlicher Regelungen, insbesondere der zum MHD. Zudem wird von weiterem Forschungsbedarf ausgegangen. Bereits Göbel, Christine et al. (2012) wiesen darauf hin, dass das MHD und die vom Handel geforderte MHD-Restlaufzeit, neben seiner ursprünglichen Funktion in der Qualitätssicherung, von den Unternehmen auch als Organisationsinstrument für die Mengensteuerung und als Marketinginstrument verwendet werde.51 Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es aktuell technische Projekte gibt, die sich noch in der Entwicklungsphase befinden, wie z.B. den Food-Scanner zur schnellen Qualitätsbewertung von 49 http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte/2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf. 50 http://opus.uni-hohenheim.de/volltexte/2018/1561/pdf/haa27_Online.pdf. 51 Göbel, Christine et al., Verringerung von Lebensmittelabfällen – Identifikation von Ursachen und Handlungsoptionen in Nordrhein-Westfalen. Studie für den Runden Tisch „Neue Wertschätzung von Lebensmitteln“ des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein- Westfalen, März 2012, https://www.fh-muenster.de/isun/downloads/Studie_Verringerung_von_Lebensmittelabfaellen .pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 077/19 Seite 21 Lebensmitteln52 oder das vom Bundesforschungsministerium geförderte Projekt „FreshIndex“, das ein dynamisches Haltbarkeitsdatum (DHD) entwickelt.53 *** 52 https://www.ivv.fraunhofer.de/de/lebensmittel/qualitaet/foodscanner.html; https://www.scinexx.de/news/technik /frische-scanner-fuer-lebensmittel/. 53 http://freshindex.org/.