© 2016 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 055/16 Mögliche Auswirkungen einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus nach § 19 Absatz 2 Stromnetzentgeltverordnung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 2 Mögliche Auswirkungen einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus nach § 19 Absatz 2 Stromnetzentgeltverordnung Aktenzeichen: WD 5 - 3000 - 055/16 Abschluss der Arbeit: 29. Juni 2016 Fachbereich: WD 5: Wirtschaft und Technologie; Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz; Tourismus Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Hintergründe zu den Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 4 2.1. Regulierung der Entgelte für die Nutzung des Stromnetzes in Deutschland und Sonderformen der Stromnetznutzung 4 2.2. Regelungen zu Sonderformen der Stromnetznutzung nach § 19 Abs. 2 StromNEV bis 2011 8 2.2.1. Atypische Netznutzung nach § 19 Abs. 2 S. 1 StromNEV 8 2.2.2. Stromintensive Netznutzung nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 8 2.2.3. Weitere Voraussetzungen für die netzentgeltliche Privilegierung bestimmter Netznutzer bis 2011 9 2.3. Neuregelung des § 19 Abs. 2 StromNEV durch die Novelle von 2011 9 2.3.1. Netzentgeltbefreiung bei stromintensiver Netznutzung und bundesweiter Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus 10 2.3.2. Konkretisierung des Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus durch die Bundesnetzagentur 11 2.3.3. Differenzierung der Höhe der § 19-Umlage nach Letztverbrauchergruppen im Sinne des § 9 Abs. 7 KWK-G 2009 13 2.3.4. Auswirkungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 und der Festlegung der Bundesnetzagentur zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus 13 2.4. Neufassung der Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung durch Änderungsverordnung 2013 und deren Auswirkungen 14 2.5. Weitere Änderung der Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung bis 2016 und Widerruf der Festlegung BK8-11-024 durch die Bundesnetzagentur 16 2.6. Höchstrichterliche Entscheidungen zu § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 17 2.6.1. BGH-Beschluss vom 6. Oktober 2015 – EnVR 32/13 17 2.6.2. BGH-Beschluss vom 12. April 2016 – EnVR 25/13 17 3. Mögliche Auswirkungen des BGH-Beschlusses vom 12. April 2016 – EnVR 25/13 auf die energiewirtschaftliche Praxis 19 3.1. Rechtliche Bedeutung der Feststellung der Nichtigkeit durch den BGH 19 3.1.1. Keine Bindungswirkung für andere Gerichte 19 3.1.2. Feststellung der Nichtigkeit nur „inter partes“ 20 3.2. Tätigwerden des Gesetz-/Verordnungsgeber erforderlich? 20 3.3. Auswirkung auf die laufende Erhebung der § 19-Umlage durch die Netzbetreiber 21 3.4. Rückabwicklung der Zahlungsflüsse der Vergangenheit 21 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung geht der Frage nach, wie sich der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12. April 2016 – EnVR 25/13 in der Praxis auswirken könnte.1 Mit dieser energiewirtschaftsrechtlichen Entscheidung beendet der BGH (vorerst) die jahrelangen Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Novellierung des § 19 Abs. 2 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV)2 durch das Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 20113 (§ 19 Abs. 2 StromNEV 2011). Um die Bedeutung dieser BGH-Entscheidung besser erläutern zu können, werden nachfolgend die erforderlichen Hintergründe, die Gesetzeshistorie des § 19 Abs. 2 StromNEV seit 2005 sowie die für die zu klärende Frage nach den Auswirkungen dieser Entscheidung wesentlichen, im Zusammenhang mit § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 ergangenen gerichtlichen Entscheidungen überblicksartig skizziert (2.). Im Anschluss werden die möglichen Konsequenzen aus der o. g. BGH- Entscheidung insbesondere für die energiewirtschaftsrechtliche Praxis erläutert (3.). 2. Hintergründe zu den Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV Die BGH-Entscheidung setzt sich mit Fragen im Zusammenhang mit einem 2011 eingeführten und mittels regulierungsbehördlicher Festlegung und weiterer Verordnungsänderungen in den Jahren 2013 bis 2016 konkretisierten rechtlichen Mechanismus auseinander, der dazu führt, dass finanzielle Belastungen, die aus netzentgeltlichen Privilegierungstatbeständen des § 19 Abs. 2 StromNEV resultieren, bundesweit ausgeglichen und auf sämtliche Stromverbraucher aufgeteilt werden. Nachfolgend werden die wesentlichen rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Hintergründe erläutert, deren Kenntnis für das Verständnis der BGH-Entscheidung vom 12. April 2016 unerlässlich ist. Dabei wird auch auf die zentralen Aussagen dieser sowie einer weiteren maßgeblichen BGH-Entscheidung eingegangen. 2.1. Regulierung der Entgelte für die Nutzung des Stromnetzes in Deutschland und Sonderformen der Stromnetznutzung Die Entgelte für die Nutzung des Stromnetzes (Netzentgelte) bilden mit etwa 20 % einen wesentlichen Bestandteil des Strompreises für Haushaltskunden.4 Vereinfacht gesagt, stellen sie den 1 Bundesgerichtshof (2016). Beschluss vom 12.04.2016 – EnVR 25/13. Zitiert nach juris. 2 Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen vom 25.07.2005, BGBl. I S. 2225; zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.2015, BGBl. I S. 2498. 3 BGBl. I S. 1554. Das Gesetz ist am 04.08.2011 in Kraft getreten. 4 Bundesnetzagentur/Bundeskartellamt (2015). Monitoringbericht 2015. Stand: 10.11.2015. Korrektur: 21.03.2016. S. 209. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Unternehmen _Institutionen/DatenaustauschundMonitoring/Monitoring/Monitoringberichte/Monitoring_Berichte _node.html (letzter Abruf: 28.06.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 5 Preis dar, den derjenige, der Strom aus einem Stromnetz entnimmt, anteilig für die Nutzung dieses Stromnetzes und sämtlicher vorgelagerter Netz- und Umspannebenen an denjenigen zu zahlen hat, der das Netz unterhält, wartet und ausbaut (Netzbetreiber). Dabei handelt es sich bei Stromnetzen in der Regel um so genannte natürliche Monopole.5 Und da der Zugang zu diesen Stromnetzinfrastrukturen wesentliche Voraussetzung ist, um auf den vor- und nachgelagerten Energiemärkten6 wirtschaftlich tätig sein zu können, ist es grundsätzlich erforderlich, den Zugang im Hinblick auf die Konditionen des Netzzugangs für Unternehmen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen zu regulieren.7 Dies betrifft insbesondere den Preis für den Netzzugang. Vor diesem Hintergrund sind die rechtlichen Vorgaben zur Ermittlung der konkreten Netzentgelte (Netzentgeltkalkulation) zu sehen. Dabei normieren die §§ 21, 21a Energiewirtschaftsgesetz8 (EnWG) die Grundsätze, wonach die Netzentgelte u. a. angemessen, diskriminierungsfrei, transparent und nicht ungünstiger als die Netzentgelte sein dürfen, die vom Netzbetreiber in vergleichbaren Fällen etwa von verbundenen oder assoziierten Unternehmen gefordert werden. Daneben enthält § 24 EnWG eine Reihe von Ermächtigungsgrundlagen für die Bundesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen im Zusammenhang mit der Netzentgeltkalkulation. Darin heißt es etwa: 5 So Monopolkommission (2015). Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende. Sondergutachten 71. Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 62 Abs. 1 EnWG. 2015. S. 160. Link: http://www.monopolkommission.de/images/PDF/SG/s71_volltext.pdf (letzter Abruf: 28.06.2016). Für weitere Erläuterungen zu natürlichen Monopolen in Netzwirtschaften siehe Gersdorf, Hubertus (2015). In: Spindler, Gerald/Schuster, Fabian (Hrsg.). Recht der elektronischen Medien. Kommentar. 3. Auflage 2015. München: C. H. Beck. TKG § 9 Rn. 25 ff. 6 Bei der energiewirtschaftlichen Wertschöpfungskette ist grundsätzlich zwischen den Stufen Produktion, Transport /Verteilung und Vertrieb/Verbrauch von Strom zu unterscheiden. Vgl. Theobald, Christian (2013). In: Schneider, Jens-Peter/Theobald, Christian (Hrsg.). Recht der Energiewirtschaft. Praxishandbuch. 4. Auflage. München: C. H. Beck. § 1 Rn. 5 f. 7 Coenen, Michael/Haucap, Justus (2012). Ökonomische Grundlagen der Anreizregulierung. Ordnungspolitische Perspektiven Nr. 35. November 2012. S. 5. Link: http://www.dice.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten /Wirtschaftswissenschaftliche_Fakultaet/DICE/Ordnungspolitische_Perspektiven/035_Coenen_Haucap.pdf (letzter Abruf: 28.06.2016). 8 Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung vom 07.07.2005, BGBl. I S. 1970, 3621; zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.02.2016, BGBl. I S. 254. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 6 „§ 24 – Regelungen zu den Netzzugangsbedingungen, Entgelten für den Netzzugang sowie zur Erbringung und Beschaffung von Ausgleichsleistungen Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates 1. die Bedingungen für den Netzzugang einschließlich der Beschaffung und Erbringung von Ausgleichsleistungen oder Methoden zur Bestimmung dieser Bedingungen sowie Methoden sowie Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang gemäß den §§ 20 bis 23 festzulegen, 2. […] 3. zu regeln, in welchen Sonderfällen der Netznutzung und unter welchen Voraussetzungen die Regulierungsbehörde im Einzelfall individuelle Entgelte für den Netzzugang genehmigen oder untersagen kann und […]. Insbesondere können durch Rechtsverordnungen nach Satz 1 […] 4. Regelungen zur Ermittlung der Entgelte für den Netzzugang getroffen werden, wobei vorgesehen werden kann, dass insbesondere Kosten des Netzbetriebs, die zuordenbar durch die Integration von dezentralen Anlagen zur Erzeugung aus erneuerbaren Energiequellen verursacht werden, bundesweit umgelegt werden können, […].“ Neben den allgemeinen Vorgaben des EnWG sind aber insbesondere die konkretisierenden Regelungen der StromNEV und der Anreizregulierungsverordnung9 (ARegV) für die Netzentgeltkalkulation von maßgeblicher Bedeutung. Sie verfolgen zum einen das Ziel, dass nur die Kosten in die Netzentgeltkalkulation einfließen, die tatsächlich aus dem Betrieb des Stromnetzes resultieren (Netzbetriebskosten) und den Kosten eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen. 10 Die Erfüllung dieser Voraussetzungen wird durch das periodisch wiederkehrende Kostenprüfungsverfahren nach § 6 ARegV i. V. m. §§ 4 ff. StromNEV sichergestellt.11 Zum anderen sollen die Netzbetreiber mit den in der ARegV geregelten Instrumenten dazu gebracht werden, ihre Kosten im Zeitverlauf zu senken, da sie andernfalls mit dem Netzbetrieb immer weniger Gewinne erwirtschaften können 9 Verordnung über die Anreizregulierung der Energieversorgungsnetze vom 29.10.2007, BGBl. I S. 2529; zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.2015, BGBl. I S. 2498. 10 Vgl. § 21 Abs. 2 EnWG. 11 Dazu auch Monopolkommission (2015). A. a. O. (Fn. 5). S. 160. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 7 (System der Anreizregulierung).12 Die Höhe der Netzentgelte, die ein Netzbetreiber für eine bestimmte zeitliche Periode dadurch erlösen darf, dass er sein Netz Dritten zur entgeltlichen Nutzung zur Verfügung stellt, wird dabei seitens der zuständigen Regulierungsbehörden vorgegeben (Festlegung der Erlösobergrenze).13 Die Höhe des Netzentgeltbetrags, den der jeweilige Netznutzer für die Stromentnahme14 innerhalb eines bestimmten Zeitraums insgesamt zu zahlen hat, hängt nach § 17 ARegV i. V. m. § 17 StromNEV von der Strommenge ab, die der Netznutzer innerhalb dieses Zeitraums aus dem Stromnetz entnommen hat.15 Nach § 17 Abs. 8 StromNEV sind andere als die in der StromNEV genannten Netzentgelte nicht zulässig. In diesem Zusammenhang sind die Vorgaben der §§ 18, 19 StromNEV zu sehen. Sie enthalten Spezialregelungen für die Ermittlung der Netzentgelte in bestimmten Konstellationen der Netznutzung. In der Vergangenheit standen dabei insbesondere die privilegierenden Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV im Fokus des Gesetz-/Verordnungsgebers, der Gerichte und der Öffentlichkeit . Wegen netzdienlichen und damit netzbetriebskostensenkenden Verbrauchsverhaltens gewähren diese Vorschriften bestimmten Stromverbrauchern einen Anspruch darauf, dass ihnen „ihr“ Netzbetreiber ein individuelles Netzentgelt anbietet, das im Ergebnis dazu führt, dass sie sich in geringerem Umfang an der Finanzierung der Stromnetze beteiligen müssen, als es ihrem Anteil an der aus dem Stromnetz entnommenen Strommenge eigentlich entsprechen würde. 12 Überblick bei Bundesnetzagentur (2015a). Die wesentlichen Instrumente der Anreizregulierung in Deutschland. Stand: 01.06.2015. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Unternehmen _Institutionen/Netzentgelte/Anreizregulierung/Instrumente_Anreizregulierung/instrumente_anreizeregulierung -node.html (letzter Abruf: 28.06.2016). Detaillierte Erläuterungen bei Coenen, Michael/Haucap, Justus (2012). A. a. O. (Fn. 7). S. 13 ff. 13 Vgl. § 54 Abs. 2 EnWG sowie §§ 4 ff. ARegV. 14 Nach § 15 Abs. 1 S. 3 StromNEV stellt die Stromeinspeisung keine netzentgeltpflichtige Netznutzung dar. 15 Nach § 17 Abs. 2 S. 1 StromNEV besteht das Netzentgelt pro Entnahmestelle aus einem Jahresleistungspreis in Euro pro Kilowatt und einem Arbeitspreis in Cent pro Kilowattstunde. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 8 2.2. Regelungen zu Sonderformen der Stromnetznutzung nach § 19 Abs. 2 StromNEV bis 2011 Unabhängig von den Veränderungen, die § 19 Abs. 2 StromNEV seit 2005 durchlief, privilegieren § 19 Abs. 2 S. 1 und S. 2 StromNEV seit jeher zwei bestimmte Sonderformen der Stromnetznutzung , die nachfolgend überblicksartig dargestellt werden.16 Im Anschluss werden weitere rechtliche Grundsätze erläutert, die die Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung bestimmter Netznutzer bis 2011 charakterisierten. 2.2.1. Atypische Netznutzung nach § 19 Abs. 2 S. 1 StromNEV So haben letztverbrauchende Stromnetznutzer seit 2005 einen Anspruch darauf, dass ihnen der Netzbetreiber ein individuelles Netzentgelt anbietet, wenn aufgrund vorliegender oder prognostizierter Verbrauchsdaten oder aufgrund sonstiger Gegebenheiten offensichtlich ist, dass der Höchstlastbeitrag des Letztverbrauchers erheblich von der zeitgleichen Jahreshöchstlast aller Entnahmen dieser Netz- oder Umspannebene abweicht (atypische Netznutzung). Letztverbraucher sind daher dann atypische Netznutzer im Sinne von § 19 Abs. 2 S. 1 StromNEV, wenn ihre Leistungsspitze außerhalb der Hochlastzeitfenster erheblich oberhalb ihrer Leistungsspitze innerhalb der Hochlastzeitfenster liegt17 und sie somit ihre Spitzenlast in die lastschwachen Nebenzeiten des Stromnetzes verlagern18. Privilegiert wird damit die verbrauchsseitige Entlastung des Stromnetzes . 2.2.2. Stromintensive Netznutzung nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV Demgegenüber verfolgen die Privilegierungsregelungen des § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV seit jeher einen anderen Ansatz. Bis zur Novelle im August 2011 hatten Letztverbraucher danach einen Anspruch darauf, dass ihnen die Netzbetreiber ein individuelles Netzentgelt anbieten, wenn ihre Stromabnahme für den eigenen Verbrauch an einer Abnahmestellen pro Kalenderjahr sowohl die Benutzungsstundenzahl von 7.500 bzw. 7.000 im Jahr19 erreicht als auch der Stromverbrauch an dieser Abnahmestelle im letzten Kalenderjahr zehn Gigawattstunden überstiegen hat. Die netzentgeltliche Privilegierung für besonders stromintensive Netznutzung folgt dabei der Grundidee, 16 Zur Frage, wie sich die Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV in der Praxis auswirken und ob und inwieweit die durch § 19 Abs. 2 StromNEV angereizte Verhaltensweisen vor dem Hintergrund tatsächlicher Veränderungen insbesondere im Bereich der Stromerzeugung noch zeitgemäß sind, vgl. Bundesnetzagentur (2015b). Evaluierungsbericht zu den Auswirkungen des § 19 Abs. 2 StromNEV auf den Betrieb von Elektrizitätsversorgungsnetzen . Evaluierungsbericht gemäß § 32 Abs. 11 StromNEV. Stand: 30.03.2015. Link: https://fragdenstaat.de/anfrage /evaluierungsbericht-zu-den-auswirkungen-des-19-abs-2-stromnev-auf-den-betrieb-von-elektrizitatsversorgungsnetzen / (letzter Abruf: 28.06.2016). 17 Bundesnetzagentur (2015b). A. a. O. (Fn. 16). S. 7. 18 Bundesnetzagentur (2015b). A. a. O. (Fn. 16). S. 5. 19 Ein Jahr hat 8.760 Stunden. Während die Stundenzahl in der Ursprungsfassung noch 7.500 Stunden betrug, galt seit 01.01.2011 die Benutzungsstundenzahl von 7.000. Vgl. die Änderungen des § 19 Abs. 2 StromNEV durch Art. 6 des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze vom 21.08.2009, BGBl. I S. 2870. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 9 dass stromintensive Unternehmen durch ihr gleichförmiges Abnahmeverhalten zur Stromnetzstabilität beitragen, dadurch die Auslastung des Netzes für den Netzbetreiber besser planbar sei und somit Kosten zur Stabilisierung des Stromnetzes optimiert und verringert werden können.20 2.2.3. Weitere Voraussetzungen für die netzentgeltliche Privilegierung bestimmter Netznutzer bis 2011 Lagen die genannten Voraussetzungen vor und wurde eine entsprechende privatrechtliche Vereinbarung über die Zahlung eines individuellen Netzentgelts zwischen dem betroffenen Netzbetreiber und dem Letztverbraucher abgeschlossen, war für die netzentgeltliche Privilegierung des Letztverbrauchers weiterhin erforderlich, dass diese Vereinbarung durch die zuständige Regulierungsbehörde genehmigt wurde.21 Bis zur behördlichen Genehmigung blieb die Vereinbarung schwebend unwirksam und wurde durch die Genehmigung von Anfang an wirksam.22 Neben den genannten tatbestandlichen Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 prüfte die Regulierungsbehörde das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 StromNEV. So war die Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts nur genehmigungsfähig, wenn das vereinbarte individuelle Netzentgelt einen bestimmten Prozentsatz des regulären Netzentgelts nicht unterschritt und sich die Netzentgelte aller übrigen Netznutzer dieser und aller nachgelagerten Netzund Umspannebenen durch die Gewährung des individuellen Netzentgelts nicht wesentlich erhöhten .23 Den Hintergrund dieser Wesentlichkeitsschwelle bildete der Umstand, dass bis 2011 die übrigen Netznutzer, deren Netznutzungsverhalten die Voraussetzungen von § 19 Abs. 2 S. 1 oder S. 2 StromNEV nicht erfüllte, die Netzentgelterlöse anteilig tragen mussten, die dem Netzbetreiber aufgrund der netzentgeltlichen Privilegierung der Netznutzer, deren Netznutzungsverhalten die genannten Voraussetzungen erfüllte und die daher nur das geringere individuelle Netzentgelt zu zahlen hatten, entgingen. 2.3. Neuregelung des § 19 Abs. 2 StromNEV durch die Novelle von 2011 Am 4. August 2011 trat das Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften und damit eine Neufassung des § 19 Abs. 2 StromNEV in Kraft, die die dargelegten Grundsätze 20 Dazu Bundesnetzagentur (2015b). A. a. O. (Fn. 16). S. 8. 21 Nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 EnWG sind grundsätzlich die Landesregulierungsbehörden zuständig, wenn an das konkrete Stromnetz weniger als 100.000 Kunden unmittelbar oder mittelbar angeschlossen sind und das Stromnetz nicht über das Gebiet eines Bundeslandes hinausreicht. Andernfalls ist die Bundesnetzagentur die zuständige Regulierungsbehörde. 22 So OLG Düsseldorf (2012). Beschluss vom 18.07.2012 – VI-3 Kart 111/11. Rn. 56 (zitiert nach juris). 23 Zur Wesentlichkeitsschwelle vgl. Bundesnetzagentur (2010). Leitfaden zur Genehmigung individueller Netzentgeltvereinbarungen nach § 19 Abs. 2 S. 1 und 2 StromNEV ab 2011. Stand: 29.10.2010. S. 6 f. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/cln_1431/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/Beschlusskammer 4/BK4_71_Individuelle_Netzentgelte_Strom/Leitfaeden/Leitfaden_indiv_Netzentgelte_2011/Leitfaden _ab2011_node.html (letzter Abruf: 28.06.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 10 teilweise änderte (§ 19 Abs. 2 StromNEV 2011). Dabei betrafen die Änderungen gegenüber den Vorgängerfassungen der Norm vor allem die Möglichkeit der Netzentgeltprivilegierung bei stromintensiver Netznutzung. 2.3.1. Netzentgeltbefreiung bei stromintensiver Netznutzung und bundesweiter Ausgleichsund Wälzungsmechanismus Lagen die insoweit unveränderten Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 für eine netzentgeltliche Privilegierung bei stromintensiver Netznutzung vor24, konnte der entsprechende Letztverbraucher nunmehr vollständig von der Pflicht zur Zahlung der Netzentgelte befreit werden . Voraussetzung war wiederum die entsprechende Genehmigung durch die zuständige Regulierungsbehörde . Mit der Einführung der Möglichkeit für Großabnehmer von Strom, sich vollständig von den Netzentgelten befreien zu lassen, wurde gleichzeitig ein System installiert, das dazu führen sollte, dass Erlöse, die dem Netzbetreiber aufgrund einer Netzentgeltbefreiung eines Letztverbrauchers entgingen, nicht von den übrigen Netznutzern dieses Stromnetzes getragen werden mussten. In der entsprechenden Begründung zur Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Technologie heißt es dazu: „Örtliche Gegebenheiten sollen keine Rolle spielen für die Frage der Befreiung von den Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV. Zur Vermeidung überproportionaler regionaler Belastungen wird ein bundesweiter Ausgleich installiert.“25 In Folge dessen wurde mit § 19 Abs. 2 S. 6 und 7 StromNEV 2011 i. V. m. dem zum damaligen Zeitpunkt geltenden § 9 des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes 200926 (KWK-G 2009) ein Ausgleichs - und Wälzungsmechanismus normiert. Die Regelungen lauteten: 24 Benutzungsstundenzahl an einer Abnahmestelle mindestens 7.000 Stunden und Stromverbrauch an dieser Abnahmestelle größer 10 Gigawattstunden. 25 Deutscher Bundestag (2011). Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie u. a. zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 29.06.2011. BT- Drs. 17/6365. S. 34. 26 Gesetz über die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung vom 19.03.2002; zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.07.2011, BGBl. I S. 1634. Im Zeitpunkt der Erstellung der vorliegenden Arbeit gilt das KWK-G 2009 nicht mehr. Es wurde ersetzt durch das am 01.01.2016 in Kraft getretene Gesetz für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung vom 21.12.2015, BGBl. I S. 2498. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 11 „§ 19 Sonderformen der Netznutzung (1) […] (2) […] Die Betreiber von Übertragungsnetzen[27] sind verpflichtet, entgangene Erlöse, die aus individuellen Netzentgelten nach Satz 1 und Befreiungen von Netzentgelten nach Satz 2 resultieren, nachgelagerten Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen zu erstatten. Sie haben diese Zahlungen sowie eigene entgangene Erlöse durch individuelle Netzentgelte nach Satz 1 und Befreiungen von den Netzentgelten nach Satz 2 über eine finanzielle Verrechnung untereinander auszugleichen; § 9 des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes findet entsprechende Anwendung. […]“ 2.3.2. Konkretisierung des Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus durch die Bundesnetzagentur Zur Konkretisierung dieser rechtlichen Vorgaben erließ die Beschlusskammer 8 der Bundesnetzagentur am 14. Dezember 2011 eine Festlegung28, mit der diese gegenüber allen Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen bestimmte Einzelheiten der „§ 19 StromNEV-Umlage in Abweichung von § 17 Abs. 8 StromNEV“ geregelt hat (BK8-11-024).29 So enthält die Entscheidung der Bundesnetzagentur zahlreiche Detailregelungen, die die konkrete Abwicklung der Zahlungsflüsse zwischen den Beteiligten betreffen. Auszugsweise lautete der Tenor der Entscheidung: „1. […] 2. Die Übertragungsnetzbetreiber summieren somit gesamthaft die prognostizierten entgangenen Erlöse ggf. zuzüglich sich aus dem Ist-Abgleich ergebender Differenzen auf. Sie bestimmen daraus die Höhe der § 19-Umlage unter Verwendung der Letztverbräucherabsätze gemäß Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (im Folgenden KWKG). Im Anschluss ist die sich ergebende Höhe der jeweiligen § 19-Umlage zu veröffentlichen. […] 27 Im Hinblick auf die „Stromnetzhierarchie“ sind in Deutschland vier Spannungs- sowie drei Umspannebenen zu unterscheiden, auf denen Strom transportiert wird: Höchstspannung (HöS), Umspannebene HöS/HS, Hochspannung (HS), Umspannebene HS/MS, Mittelspannung (MS), Umspannebene MS/NS und Niederspannung (NS). Die Netzbetreiber, die die Stromnetze der Höchstspannung betreiben, werden Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) genannt. In Deutschland sind vier ÜNB tätig: Tennet TSO, 50Hertz Transmission, Amprion, TransnetBW. Jeder dieser ÜNB verantwortet das Höchstspannungsnetz in einem bestimmten Teil Deutschlands (sog. Regelzone), so dass grundsätzlich jeder Betreiber eines Hoch-, Mittel- oder Niederspannungsnetzes mit diesem Netz letztlich unmittelbar oder mittelbar an das Höchstspannungsnetz eines ÜNB angeschlossen ist. 28 Zum Begriff der Festlegung vgl. § 29 EnWG. 29 Bundesnetzagentur (2011). Beschluss wegen Festlegung der § 19 StromNEV-Umlage in Abweichung von § 17 Abs. 8 StromNEV vom 14.12.2011. BK8-11-024. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/DE/Service-Funktionen /Beschlusskammern/1BK-Geschaeftszeichen-Datenbank/BK8- GZ/2011/2011_0001bis0999/2011_001bis099/BK8-11-024/BK8-11-024_Entscheidung.pdf?__blob=publication- File&v=1 (letzter Abruf: 28.06.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 12 3. Die Netzbetreiber sind verpflichtet, die gemäß Ziffer 2 Satz 3 veröffentlichte § 19-Umlage von allen Letztverbrauchern bzw. Lieferanten[30] zu erheben und an den jeweiligen Übertragungsnetzbetreiber monatlich weiterzuleiten. […] 10. Die Vorgaben aus der Festlegung für die § 19-Umlage sind ab dem 01.01.2012 umzusetzen . Entgangene Erlöse aus dem Kalenderjahr 2011 werden nicht von dem Umlagemechanismus erfasst. […] Verteilnetzbetreiber können keine Mindererlöse nach § 19 Abs. 2 StromNEV für das Jahr 2011 gegenüber den Übertragungsnetzbetreibern geltend machen .“31 Nach Auffassung der Bundesnetzagentur war eine „§ 19-Umlage […] zur Wahrung gleichwertiger wirtschaftlicher Verhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einheitlich zu regeln. Die § 19-Umlage führt in den einzelnen Letztverbraucherkategorien zu einheitlichen, verbrauchsabhängigen und wirtschaftlichen Belastungen der einzelnen Letztverbraucher. Die § 19-Umlage schafft eine einheitliche Vorgehensweise, die für alle Energiemarktakteure im gesamten Bundesgebiet gleiche Verhältnisse schafft und dabei größtmögliche Transparenz gewährleistet. […] Die Entscheidung zur Festlegung der § 19-Umlage ist erforderlich und geboten, um die Verteilung von Lasten einheitlich und transparent umzusetzen. Die Bundesnetzagentur besitzt gem. § 30 Abs. 2 Nr. 6 StromNEV eine Festlegungskompetenz zur Definition zusätzlich zulässiger Entgelte. Sie macht von ihrem Aufgreifermessen Gebrauch und legt die Abwicklung der § 19-Umlage fest.“32 30 Viele Stromlieferverträge sind so genannte „All-inclusive-Verträge“, die zwischen einem Letztverbraucher und einem Lieferanten abgeschlossen werden. In diesem Fall ist aus der Perspektive der Netzbetreiber der Lieferant als Netznutzer anzusehen. In diesen Konstellationen schuldet der Lieferant dem Netzbetreiber die § 19-Umlage. Dabei sind Regelungen, die das Rechts zur Weitergabe der § 19-Umlage vom Lieferanten an den Letztverbraucher grundsätzlich Bestandteil der entsprechenden Stromlieferverträge. Vgl. Dazu etwa de Wyl, Christian/Thole, Christian/Bartsch, Alexander (2013). In: Schneider, Jens-Peter/Theobald, Christian (Hrsg.). Recht der Energiewirtschaft . Praxishandbuch. 4. Auflage. München: C. H. Beck. § 16 Rn. 332 f. sowie de Wyl, Christian/Soetebeer , Jörg (2013). In: Schneider, Jens-Peter/Theobald, Christian (Hrsg.). Recht der Energiewirtschaft. Praxishandbuch . 4. Auflage. München: C. H. Beck. § 11 Rn. 2 ff., 61. 31 Bundesnetzagentur (2011). A. a. O. (Fn. 29). S. 14 f. 32 Bundesnetzagentur (2011). A. a. O. (Fn. 29). S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 13 Zum Zeitpunkt der Einführung des Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus führt die Bundesnetzagentur aus: „Die § 19-Umlage ist ein Mechanismus, der nur ganzjährig greifen kann. Daher kann dieser erstmalig nur mit Wirkung zum 01.01.2012 eingeführt werden.“33 2.3.3. Differenzierung der Höhe der § 19-Umlage nach Letztverbrauchergruppen im Sinne des § 9 Abs. 7 KWK-G 2009 Aufgrund der Verweisung in § 19 Abs. 2 S. 7 StromNEV 2011 auf § 9 KWK-G 2009 galt jedoch von dem Grundsatz, dass alle Letztverbraucher die § 19-Umlage in gleicher Höhe zu zahlen haben , folgende Ausnahme: Bis zu einem Stromverbrauch an einer Abnahmestelle von jährlich 100.000 Kilowattstunden (kWh) war die § 19-Umlage als Aufschlag auf die zu zahlenden Netzentgelte für alle Letztverbraucher gleich hoch (Letztverbrauchergruppe A). Für darüber hinausgehende Stromverbräuche pro Jahr war jedoch zu differenzieren: Handelte es sich bei den Letztverbrauchern um Unternehmen des produzierenden Gewerbes oder um Unternehmen des schienengebundenen Verkehrs sowie Eisenbahninfrastrukturunternehmen, deren Stromkosten im vorangegangenen Kalenderjahr 4 Prozent des Umsatzes überstiegen, durfte die § 19-Umlage für über 100.000 kWh hinausgehende Stromlieferungen maximal 0,025 ct/kWh betragen (Letztverbrauchergruppe C). Bei Nichtvorliegen dieser kumulativen Voraussetzungen durfte die § 19-Umlage für Stromverbräuche über 100.000 kWh pro Jahr nicht höher sein als 0,05 ct/kWh (Letztverbrauchergruppe B).34 2.3.4. Auswirkungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 und der Festlegung der Bundesnetzagentur zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus Ab dem 1. Januar 2012 sollten somit sämtliche aufgrund der Privilegierungen nach § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 entgangenen Erlöse35 den Netzbetreibern nicht mehr von den übrigen Netznutzern , sondern von ihren vorgelagerten Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) erstattet werden. Die ÜNB sollten diese Zahlungen untereinander ausgleichen, bis die Belastungen zwischen allen ÜNB aufgeteilt waren. Zur Kompensation ihrer Ausgleichszahlungen an die von den Privilegierungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 betroffenen Netzbetreiber sollten die ÜNB im Anschluss einen Betrag ermitteln, den sämtliche Netzbetreiber auf die Netzentgelte aufschlagen mussten, 33 Bundesnetzagentur (2011). A. a. O. (Fn. 29). S. 22. 34 Dazu auch Bundesnetzagentur (2011). A. a. O. (Fn. 29). S. 24. 35 Der Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus betraf sowohl die entgangenen Erlöse aufgrund der Gewährung individueller Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 S. 1 StromNEV 2011 als auch die entgangenen Erlöse aufgrund der Netzentgeltbefreiung nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 14 die sie von ihren Netznutzern erhoben (§ 19-Umlage). Selbst Letztverbraucher, die von den Netzentgelten befreit wurden, mussten diese Umlage an „ihre“ Netzbetreiber zahlen.36 Die von den Letztverbrauchern gezahlte § 19-Umlage mussten die Netzbetreiber ihrerseits an die ÜNB weiterreichen . Bei der Frage nach der Höhe der § 19-Umlage je verbrauchter Kilowattstunde Strom war danach zu differenzieren, ob der jährliche Stromverbrauch des einzelnen Letztverbrauchers über 100.000 kWh lag und wenn ja, ob es sich bei dem Letztverbraucher um ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes, des schienengebundenen Verkehrs oder um ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen handelte. 2.4. Neufassung der Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung durch Änderungsverordnung 2013 und deren Auswirkungen Am 22. August 2013 trat die Verordnung zur Änderung von Verordnungen auf dem Gebiet des Energiewirtschaftsrechts vom 14. August 201337 (teilweise) in Kraft. Mit dieser Änderungsverordnung wurden auch die Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung in der StromNEV vollständig neu gefasst (§ 19 Abs. 2 StromNEV 2013). So wurde zum einen die Möglichkeit der Netzentgeltbefreiung bei stromintensiver Netznutzung im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 abgeschafft und durch Regelungen ersetzt, wonach Netzbetreiber stromintensiven Netznutzern bei Vorliegen der Voraussetzungen ein individuelles Netzentgelt anzubieten hatten, welches allerdings einen bestimmten Prozentsatz des regulären Netzentgelts nicht unterschreiten durfte. Auch im Hinblick auf den bundesweiten Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus enthielt die Neufassung bedeutende Änderungen. So lauteten die entscheidenden Regelungen in § 19 Abs. 2 S. 12 bis 15 StromNEV 2013: „§ 19 Sonderformen der Netznutzung (1) […] (2) […] Die Betreiber von Übertragungsnetzen haben entgangene Erlöse, die aus individuellen Netzentgelten nach den Sätzen 1 und 2 resultieren, nachgelagerten Betreibern von Elektrizitätsverteilernetzen zu erstatten. Sie haben diese Zahlungen sowie eigene entgangene Erlöse aus individuellen Netzentgelten nach den Sätzen 1 und 2 durch Verrechnung untereinander auszugleichen. Die Kosten nach den Sätzen 12 und 13 können als Aufschlag auf die Netzentgelte anteilig auf die Letztverbraucher umgelegt werden; § 9 des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes vom 19. März 2002 (BGBl. I S. 1092), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 12. Juli 2012 (BGBl. I S. 1494) geändert worden ist [KWK-G 36 Bundesnetzagentur (2011). A. a. O. (Fn. 29). S. 20 sowie Bundesnetzagentur (2012). Leitfaden zur Genehmigung von Befreiungen von den Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV. Stand: Dezember 2012. S. 4. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/1BK-Geschaeftszeichen-Datenbank /BK4-GZ/2012/2012_1000bis1999/2012_1600bis1699/BK4-12-1656_BKV/Leitfaden_BF.pdf?__blob=publication File&v=2 (letzter Abruf: 28.06.2016). 37 BGBl. I S. 3250. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 15 201238], ist in der jeweils geltenden Fassung entsprechend anzuwenden mit der Maßgabe, dass die Belastungsgrenzen in dessen Absatz 7 Satz 2 und 3 erst ab einem Jahresverbrauch von mindestens 1000000 Kilowattstunden[39] und nur auf Strombezüge oberhalb von 1000000 Kilowattstunden anzuwenden sind. Der Umlagemechanismus nach Satz 14 ist erstmalig zum 1. Januar 2012 anzuwenden.“ Grundsätzlich ließen die Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 2013 den 2011 eingeführten Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus zwar unverändert. Im Detail ergaben sich aber zwei entscheidende Unterschiede zu den Regelungen des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011: So wurde mit § 19 Abs. 2 S. 14 StromNEV 2013 die Belastungsgrenze von vormals 100.000 kWh auf 1 GWh erhöht. Und nach § 19 Abs. 2 S. 15 StromNEV 2013 trat diese Änderung rückwirkend zum 1. Januar 2012 in Kraft. In der Folge musste die § 19-Umlage, die auf Grundlage der Regelungen des § 19 Abs. 2 Strom- NEV 2011 erhoben wurde, für die Jahre 2012 und 2013 zwischen den Beteiligten rückabgewickelt werden. Gleichzeitig musste die § 19-Umlage für diese Jahre unter Berücksichtigung der Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen neu erhoben werden.40 Auf der von den ÜNB betriebenen Internetseite, die u. a. der Veröffentlichung der Höhe der § 19- Umlage dient, heißt in diesem Zusammenhang: „Um eine den energiewirtschaftlichen Grundsätzen entsprechende Abwicklung zu ermöglichen und die Abrechnungsmodalitäten zwischen Netzbetreibern und Netzkunden sowie Übertragungsnetzbetreibern und Verteilnetzbetreibern so gering wie möglich zu halten, wird die Korrekturabrechnung der Umlagen der Jahre 2012 und 2013 zwischen den Netzbetreibern mit der Erhebung der Umlage für das Jahr 2014 ebenfalls im Jahr 2014 erfolgen .“41 38 Einschub und Hervorhebung durch den Autor. 39 1.000.000 kWh = 1 Gigawattstunde (GWh). 40 Weitere und sehr detaillierte Informationen zur Rückabwicklung der § 19-Umlage wegen der Verordnungsänderungen 2013 sind auf der von den ÜNB betriebenen Internetseite www.netztransparenz.de abrufbar. Link: https://www.netztransparenz.de/de/Rueckabwicklung.htm (letzter Abruf: 28.06.2016). 41 Weitere und sehr detaillierte Informationen zur Rückabwicklung der § 19-Umlage wegen der Verordnungsänderungen 2013 sind auf der von den ÜNB betriebenen Internetseite https://www.netztransparenz.de/de/Rueckabwicklung .htm abrufbar (letzter Abruf: 28.06.2016). Insbesondere sei auf eine Präsentation hingewiesen, in der die ÜNB sowie der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ihren Vorschlag zur Rückabwicklung der § 19-Umlage für die Jahre 2012 und 2013 näher erläutern. Link: https://www.netztransparenz .de/de/file/19-Rueckabwicklung.pdf (letzter Abruf: 28.06.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 16 2.5. Weitere Änderung der Regelungen zur netzentgeltlichen Privilegierung bis 2016 und Widerruf der Festlegung BK8-11-024 durch die Bundesnetzagentur Am 1. Januar 2014 trat eine Neuregelung in Kraft, die bereits mit der Änderungsverordnung vom 14. August 2013 verkündet wurde. Die Änderungen betrafen allerdings ausschließlich die netzentgeltliche Privilegierung bei stromintensiver Netznutzung und hatten für den Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus nur insoweit Bedeutung, als dass die entscheidenden Vorgaben nunmehr in § 19 Abs. 2 S. 13 bis 16 StromNEV 2014 geregelt sind. Mit Beschluss vom 3. Dezember 2014 und mit Wirkung ab dem 1. Januar 2015 widerrief die Bundesnetzagentur die nach ihrer Auffassung rechtmäßige o. g. Festlegung vom 14. Dezember 2011 mit der sie die Einzelheiten der „§ 19 StromNEV-Umlage in Abweichung von § 17 Abs. 8 Strom- NEV“ gegenüber allen Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen geregelt hatte.42 Als Begründung führt die Bundesnetzagentur aus, dass „sich in der Zwischenzeit die Grundprinzipien des Umlagemechanismus für die Abwicklung der Umlage im Markt etabliert haben und dass diese von den Marktakteuren angenommen worden sind. […] Die Beschlusskammer geht davon aus, dass die Marktteilnehmen auch weiterhin das in der Festlegung beschriebene Prozedere zur Bestimmung und Erhebung der Umlage nach § 19 Abs. 2 StromNEV einhalten werden, ohne dass es hierzu der fortdauernden hohen Eingriffstiefe einer Festlegung bedarf.“43 Am 1. Januar 2016 trat das Gesetz zur Neuregelung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes44 (KWK- G 2016) in Kraft, welches u. a. die Verweisung der Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus in der StromNEV auf den Ausgleichsmechanismus im KWK-G 2016 veränderte. Da § 26 Abs. 2 KWK-G 2016 andere Begrenzungsbeträge für die maximale Erhöhung der Netzentgelte durch die Umlage nach KWK-G normiert, als die, die in der Parallelregelung des § 9 Abs. 7 KWK- G 2012 enthalten waren und diese Änderung nicht zuletzt wegen der in § 19 Abs. 2 S. 16 Strom- NEV 2014 angeordneten Rückwirkung zum 1. Januar 2012 hätte problematisch werden können45, wurden die Begrenzungsbeträge aus § 9 Abs. 7 KWK-G 2012 in § 19 Abs. 2 S. 15 StromNEV 2014 übernommen. 42 Bundesnetzagentur (2014). Beschluss vom 03.12.2014 wegen Widerrufs der Festlegung der § 19 StromNEV-Umlage in Abweichung von § 17 Abs. 8 StromNEV mit Wirkung ab dem 01.01.2015. BK8-11-024. Link: http://www.bundesnetzagentur.de/DE/Service-Funktionen/Beschlusskammern/1BK-Geschaeftszeichen-Datenbank /BK8-GZ/2011/2011_0001bis0999/2011_001bis099/BK8-11-024/BK8-11-024_Widerruf_der_Festlegung .pdf;jsessionid=8E3E0FD3EFC4281CBC46B5282D7C2A06?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf: 28.06.2016). 43 Bundesnetzagentur (2014). A. a. O. (Fn. 42). S. 6 f. 44 Gesetz vom 21.12.2015, BGBl. I S. 2498. 45 Vgl. die Ausführungen bei 2.4. zu den Problemen, die mit der rückwirkenden Erhöhung der Belastungsgrenzen von 100.000 kWh auf 1 GWh durch die Änderungsverordnung 2013 einhergingen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 17 2.6. Höchstrichterliche Entscheidungen zu § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 Insbesondere regulierungsbehördliche Entscheidungen im Kontext des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 führten zu häufigen Rechtsstreitigkeiten. Nachfolgend wird die höchstrichterliche Entscheidung dargestellt, in der sich der BGH mit den rechtlichen Grundlagen für die Befreiung stromintensiver Netznutzer von den Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 auseinandersetzte . Im Anschluss werden die zentralen Aussagen der BGH-Entscheidung vom 12. April 2016 erläutert. 2.6.1. BGH-Beschluss vom 6. Oktober 2015 – EnVR 32/13 Mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 entschied der BGH, dass § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 nichtig sei.46 Damit bestätigte der BGH die Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren47 vom Mai 2013.48 Den Hintergrund bildete eine Genehmigung der Bundesnetzagentur zur Befreiung eines stromintensiven Unternehmens von den Netzentgelten, welche die betroffene Netzbetreiberin mit der Beschwerde angriff. Das Beschwerdegericht und auch der BGH als Rechtsbeschwerdegericht vertraten die Auffassung, dass die Genehmigung schon deshalb rechtswidrig gewesen sei, weil § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 nichtig sei. Dies ergebe sich daraus, dass eine Befreiung von den Netzentgelten nicht von der o. g. Ermächtigungsgrundlage in § 24 S. 1 Nr. 1 oder 3 EnWG gedeckt sei. Der BGH führt im Beschluss aus, dass diese „Vorschriften […] lediglich zu Regelungen zur näheren Ausgestaltung von Netzentgelten, nicht aber zur Befreiung bestimmter Nutzer von solchen Entgelten [ermächtigen].“49 Da aber § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 eine unentgeltliche Netznutzung durch stromintensive Unternehmen vorsehe und die Norm sich insoweit nicht in den von der Ermächtigungsgrundlage gesetzten Grenzen halte und damit mit höherrangigem Recht nicht vereinbar sei, sei sie nichtig. Insofern fehle der angegriffenen Genehmigung der Bundesnetzagentur eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage . 2.6.2. BGH-Beschluss vom 12. April 2016 – EnVR 25/13 An diese Entscheidung knüpfte der BGH ausdrücklich an, als er mit Beschluss vom 12. April 2016 entschied, dass auch die Regelungen zum Ausgleichs- und Umwälzungsmechanismus im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 6 und 7 StromNEV 2011, § 19 Abs. 2 S. 12 bis 15 StromNEV 2013 sowie § 19 Abs. 2 S. 13 bis 16 StromNEV 2014 nichtig seien und darüber hinaus die Festlegung der 46 Bundesgerichtshof (2015). Beschluss vom 06.10.2015 – EnVR 32/13. Zitiert nach juris. 47 Vgl. §§ 75 ff. EnWG. 48 Vgl. OLG Düsseldorf (2013a). Beschluss vom 08.05.2013 - VI-3 Kart 178/12 (V). Zitiert nach juris. 49 Bundesgerichtshof (2015). A. a. O. (Fn. 46). Rn. 11. Zitiert nach juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 18 Bundesnetzagentur vom 14. Dezember 2011 zur „§ 19 StromNEV-Umlage in Abweichung von § 17 Abs. 8 StromNEV“ aufhob. Den Hintergrund bildete ein Beschwerdeverfahren eines Übertragungsnetzbetreibers gegen die oben erläuterte Festlegung der Bundesnetzagentur vom 14. Dezember 2011 (BK8-11-024).50 Im März 2013 hob das OLG Düsseldorf die Festlegung mit dem Argument auf, sie sei rechtswidrig, da die gesamte Regelung des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011, die die wesentliche Ermächtigungsgrundlage für die streitgegenständliche Festlegung bilde, nichtig sei. Dies wiederum ergebe sich u. a. daraus, dass der Verordnungsgeber mit der Einführung der Netzentgeltbefreiung nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 die von der Ermächtigungsgrundlage des § 24 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 EnWG gezogenen Grenzen überschritten habe, u. a. weil es sich bei der in der Neuregelung des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 vorgesehenen Netzentgeltbefreiung nicht um ein individuelles Netzentgelt im Sinne des § 24 EnWG handele.51 Dies führe zur Gesamtnichtigkeit der Neuregelung des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 und damit auch dazu, dass die Festlegung der Bundesnetzagentur vom 14. Dezember 2011, die der Umsetzung des mit der Neuregelung eingeführten Ausgleichsund Wälzungsmechanismus diene, ebenfalls vollumfänglich aufzuheben sei.52 Der BGH bestätigte in dem Beschluss vom 12. April 2016 die Rechtsauffassung des OLG Düsseldorf im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Festlegung und die Nichtigkeit der Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus nach § 19 Abs. 2 S. 6 und 7 StromNEV 2011. Dass die Regelung zur Netzentgeltbefreiung nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV zur Gesamtnichtigkeit von § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 führe, ergebe sich daraus, dass der 2011 eingeführte Ausgleichsund Wälzungsmechanismus konzeptionell untrennbar mit der Regelung des § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV 2011 verbunden sei.53 Darüber hinaus entschied der BGH, dass auch die späteren Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus nach den § 19 Abs. 2 S. 13 bis 15 Strom- NEV 2013 bzw. § 19 Abs. 2 S. 13 bis 16 StromNEV 2014 nichtig seien. Dies ergebe sich daraus, dass die Regelung eines Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus in der Verordnung nicht durch die Ermächtigungsgrundlage in § 24 EnWG gedeckt sei. Zum einen sei die Umlage selbst kein Netzentgelt im Sinne von § 24 S. 1 Nr. 1 oder 3 EnWG.54 Darüber hinaus ermächtige § 24 S. 2 Nr. 4 EnWG den Verordnungsgeber zwar zum Erlass von Regelungen, mit denen „insbesondere“ Kosten des Netzbetriebs umgelegt werden können, die zuordenbar durch die Integration bestimmter erneuerbarer Stromerzeugungsanlagen verursacht wurden. Aus dem Wort „insbesondere“ ergebe sich, dass sich die Ermächtigung nur auf solche Kostenarten erstrecke, die mit der konkreten Regelung strukturell vergleichbar seien. Diese Voraussetzungen erfüllen die mit dem Ausgleichsund Wälzungsmechanismus bundesweit umzulegenden Kompensationszahlungen der ÜNB nach 50 OLG Düsseldorf (2013b). Beschluss vom 06.03.2013 – VI-3 Kart 43/12 (V). Zitiert nach juris. 51 OLG Düsseldorf (2013b). A. a. O. (Fn. 50). Rn. 45, 63, 79. Zitiert nach juris. 52 OLG Düsseldorf (2013b). A. a. O. (Fn. 50). Rn. 94. Zitiert nach juris. 53 Bundesgerichtshof (2016). A. a. O. (Fn. 1). Rn. 14 ff. Zitiert nach juris. 54 Bundesgerichtshof (2016). A. a. O. (Fn. 1). Rn. 22 f. Zitiert nach juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 19 Auffassung des BGH jedoch nicht. Der BGH führt dazu aus, dass die Ermächtigung des § 24 S. 2 Nr. 4 EnWG auf der Erwägung beruhe, dass „die zunehmende Integration von Anlagen zur Energieerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im gesamtgesellschaftlichen Interesse und von Vorteil ist und regional unterschiedliche Kosten deshalb gleichmäßig verteilt werden sollen (BT-Drucks. 17/6365, S. 33). Auf eine intensive, durch hohen Verbrauch und hohe Benutzungsstundenzahl gekennzeichnete Nutzung des Netzes trifft diese Erwägung nicht zu. Die Mindererlöse aufgrund von individuellen Netzentgelten können zwar ebenfalls regional unterschiedlich verteilt sein. Das für die Ermäßigung des Entgelts erforderliche Nutzungsverhalten liegt aber nicht in vergleichbarer Weise im gesamtgesellschaftlichen Interesse wie die – vom Gesetzgeber auch anderweit geförderte – Integration von Anlagen zur Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen.55 In der Konsequenz hob der BGH die Festlegung der Bundesnetzagentur „mit Wirkung für alle Netzbetreiber“ auf.56 3. Mögliche Auswirkungen des BGH-Beschlusses vom 12. April 2016 – EnVR 25/13 auf die energiewirtschaftliche Praxis Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen sich aus dieser BGH-Entscheidung allgemein und für die energiewirtschaftliche Praxis im Besonderen ergeben könnten. Mangels anderer Quellen basiert die Darstellung der möglichen Folgen für die Energiewirtschaftsbranche ausschließlich auf den Veröffentlichungen der benannten energiewirtschaftsrechtlichen Beratungsunternehmen. 3.1. Rechtliche Bedeutung der Feststellung der Nichtigkeit durch den BGH 3.1.1. Keine Bindungswirkung für andere Gerichte Wie gezeigt, prüfte der BGH in der Entscheidung vom 12. April 2016 die Frage der Vereinbarkeit der verordnungsrechtlichen Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus mit der Ermächtigungsgrundlage im EnWG und somit mit höherrangigem Recht als Vorfrage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Festlegung der Bundesnetzagentur vom 14.12.2011 und stellte deren Nichtigkeit fest. Diese Entscheidung besitzt jedoch keine Bindungswirkung für andere Gerichte wie etwa Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz 57. 55 Bundesgerichtshof (2016). A. a. O. (Fn. 1). Rn. 27. Zitiert nach juris. 56 Siehe Leitsatz Nr. 3 bei Bundesgerichtshof (2016). A. a. O. (Fn. 1). Zitiert nach juris. 57 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 11.08.1993, BGBl. I S. 1473; zuletzt geändert durch Verordnung vom 31.08.2015, BGB. I S. 1474. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 20 Nach Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz58 (GG) sind Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen . Diese Unabhängigkeit äußert sich auch darin, dass Richter grundsätzlich nicht daran gehindert sind, auch dann eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und ihren Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte, auch die im Rechtszug übergeordneten, den gegenteiligen Standpunkt einnehmen.59 Insoweit ist es nicht ausgeschlossen, dass andere Gerichte die Frage nach der Vereinbarkeit der verordnungsrechtlichen Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus mit der Ermächtigungsgrundlage im EnWG und somit mit höherrangigem Recht anders beurteilen. 3.1.2. Feststellung der Nichtigkeit nur „inter partes“ Während der BGH die Festlegung der Bundesnetzagentur vom 14. Dezember 2011 explizit „mit Wirkung für alle Netzbetreiber“ aufhob, hat die Feststellung der Nichtigkeit nur Bedeutung für das konkrete Rechtsbeschwerdeverfahren. Da die Regelungen zum Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus in der StromNEV enthalten sind, stellen sie so genannte untergesetzliche Regelungen dar, zu deren Rechtmäßigkeitsprüfung jedes Gericht berufen ist. Anders als bei Gesetzen60 lässt das Gericht, das eine untergesetzliche Rechtsnorm für rechtswidrig und damit nichtig61 hält, diese unangewendet. Diese Entscheidung des Gerichts wirkt nur zwischen den Parteien (inter partes).62 3.2. Tätigwerden des Gesetz-/Verordnungsgeber erforderlich? Gleichwohl werden die Feststellungen des BGH faktisch voraussichtlich dazu führen, dass Gerichte , die mit der Frage nach der Vereinbarkeit der Regelungen zum Ausgleich- und Wälzungsmechanismus nach § 19 Abs. 2 StromNEV 2011/2013/2014 mit höherrangigem Recht befasst sind, der BGH-Entscheidung vom 12. April 2016 folgen werden. 58 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung; zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.12.2014, BGBl. I S. 2438. 59 So Detterbeck, Steffen (2014). In: Sachs, Michael (Hrsg.). Grundgesetz. Kommentar. 7. Auflage 2014. München: C. H. Beck. Art. 97 Rn. 15. 60 Vgl. Art. 100 GG. 61 Zu dieser Rechtsfolge Sommermann, Karl-Peter (2010). In: Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.). Kommentar zum Grundgesetz. 6. Auflage 2010. München: Verlag Franz Vahlen. Art. 20 Rn. 271. 62 Sommermann, Karl-Peter (2010). A. a. O. (Fn. 61). Rn. 272. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 21 Insofern stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie der Gesetzgeber dem begegnen wird. Unter den energiewirtschaftsrechtlichen Beratern wird die Variante favorisiert, dass der Gesetzgeber möglichst zeitnah rückwirkend eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage im EnWG für diese Regelungen erlässt.63 3.3. Auswirkung auf die laufende Erhebung der § 19-Umlage durch die Netzbetreiber Nach Auffassung einiger energiewirtschaftsrechtlicher Berater folge aus der BGH-Entscheidung, dass die Erhebung der § 19-Umlage gegenüber Netznutzern/Letztverbrauchern von Beginn an unwirksam gewesen sei.64 Sollte sich ein Lieferant/Letztverbraucher der Pflicht zur Zahlung der laufenden § 19-Umlage verweigern und daraufhin (trotz der BGH-Entscheidung) von seinem Netzbetreiber gerichtlich auf Zahlung in Anspruch genommen werden, erscheint es vor dem Hintergrund der BGH-Entscheidung vom 12. April 2016 daher durchaus denkbar, dass das Gericht die Zahlungsklage unter Verweis auf die o. g. Entscheidungen des BGH abweist. 3.4. Rückabwicklung der Zahlungsflüsse der Vergangenheit Eine in der Energiewirtschaftsbranche viel diskutierte Frage ist, ob in Folge der BGH-Entscheidung vom 12. April 2016 die umfassende Rückabwicklung sämtlicher Zahlungen der Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Ausgleichs- und Wälzungsmechanismus zwischen ÜNB, Verteilnetzbetreibern , Lieferanten und Letztverbrauchern drohe. Nach Auffassung einiger energiewirtschaftsrechtlicher Berater führe die BGH-Entscheidung schließlich dazu, dass sämtliche in der Vergangenheit geleisteten Zahlungen als rechtsgrundlos anzusehen seien.65 Sollte der Gesetzgeber nicht tätig werden, drohe die Energiewirtschaft gar in einer entsprechenden Prozessflut zu ertrinken.66 Die grundsätzliche Frage, ob entsprechende gerichtliche Verfahren zwischen den Beteiligten auf Rückzahlung von in der Vergangenheit geleisteten § 19-Umlage-Beträgen Aussicht auf Erfolg haben , kann nicht pauschal und ohne Kenntnis des Einzelfalls beantwortet werden. Aspekte, die in 63 Vgl. etwa Becker Büttner Held (2016). §-19-StromNEV-Umlage – Der Gesetzgeber ist gefragt. Onlineveröffentlichung vom 31.05.2016. Link: http://www.derenergieblog.de/alle-themen/energie/19-stromnev-umlage-der-gesetzgeber -ist-gefragt/ (letzter Abruf: 28.06.2016); ebenso Ritter Gent Collegen (2016). BGH erklärt § 19 Abs. 2 StromNEV-Umlagemechanismus für nichtig. Onlineveröffentlichung vom 31.05.2016. Link: http://www.rittergent .de/energierechtskanzlei/aktuelles/detailansicht-energierechtskanzlei/article/bgh-erklaert-19-abs-2-stromnev -umlagemechanismus-fuer-nichtig.html (letzter Abruf: 28.06.2016) sowie Beiten Burkhardt (2016). BGH kippt § 19 II StromNEV-Umlage. Onlineveröffentlichung vom 10.06.2016. Link: http://blog.bblaw.com/bghkippt -%C2%A7-19-ii-stromnev-umlage/ (letzter Abruf: 28.06.2016) und Deloitte (2016). BGH: StromNEV-Umlagemechanismus ohne Rechtsgrundlage. Onlineveröffentlichung vom 07.06.2016. Link: http://www.deloitte-taxnews .de/unternehmensrecht/bgh-stromnev-umlagemechanismus-ohne-rechtsgrundlage1.html (letzter Abruf: 28.06.2016). 64 Beiten Burkhardt (2016). A. a. O. (Fn. 63). 65 So Deloitte (2016). A. a. O. (Fn. 63). 66 So PricewaterhouseCoopers (2016). BGH erklärt Umlagemechanismus gemäß § 19 Abs. 2 StromNEV für nichtig. Onlineveröffentlichung vom 14.06.2016. Link: http://blogs.pwc.de/auf-ein-watt/energierecht/bgh-erklaert-umlagemechanismus -gemaess-%C2%A7-19-abs-2-stromnev-fuer-nichtig/1530/ (letzter Abruf: 28.06.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 055/16 Seite 22 diesem Zusammenhang in jedem Fall relevant sein würden, sind Verjährungsfragen sowie die konkrete Ausgestaltung der einzelnen rechtlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten eines solchen gerichtlichen Verfahrens: Sollte etwa ein Letztverbraucher, der einen „All-inclusive- Stromliefervertrag“ mit seinem Lieferanten abgeschlossen hat,67 gegen seinen Lieferanten auf Erstattung der § 19-Umlage-Beträge der Vergangenheit klagen, müssten die konkreten vertraglichen Regelungen zur Beantwortung der Frage nach den Erfolgsaussichten einer solchen Klage herangezogen werden. Die Bewertung solcher Einzelfälle fällt allerdings nicht in den Aufgabenbereich der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. Interessant ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass einige energiewirtschaftsrechtliche Berater dazu raten, die laufenden Zahlungen der § 19-Umlage, die von den Energieversorgungsunternehmen trotz der BGH-Entscheidung weiter erhoben wird,68 unter den Vorbehalt der Rückforderung zu stellen, um sich damit die Möglichkeit einer Rückforderung zu einem späteren Zeitpunkt offenzuhalten.69 ENDE DER BEARBEITUNG 67 Vgl. dazu die Ausführungen bei Fn. 30. 68 Vgl. dazu exemplarisch die Informationen auf der Internetseite der Energie- und Wasserwerke Bautzen GmbH, worin das Unternehmen zwar auf die BGH-Entscheidung hinweist, aber gleichwohl davon ausgeht, dass der Gesetzgeber alsbald eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage schafft und deswegen die Umlage vorläufig weiter erhebt. Link: http://www.ewbautzen-netz.de/featureGips/Gips?SessionMandant=ew_bautzen&Anwendung =EnWGKnotenAnzeigen&PrimaryId=26601&Mandantkuerzel=ew_bautzen&Navigation=J (letzter Abruf: 28.06.2016). 69 So etwa Ritter Gent Collegen (2016). A. a. O. (Fn. 63); Deloitte (2016). A. a. O. (Fn. 63).