© 2019 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 054/19 Fragen zur Beförderungspflicht von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im öffentlichen Personennahverkehr Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung sind Fragen zur Rechtsnatur und Reichweite der Beförderungspflicht von Verkehrsunternehmen nach § 22 Personenbeförderungsgesetz (PBefG)1 unter besonderer Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie dem gesetzgeberischen Ziel der vollständigen Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nach § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG. Eine Person mit eingeschränkter Mobilität wird im Folgenden definiert als „eine Person, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln wegen einer körperlichen (sensorischen oder motorischen, dauerhaften oder zeitweiligen) Behinderung, einer geistigen Behinderung oder Beeinträchtigung, wegen anderer Behinderungen oder aufgrund des Alters eingeschränkt ist und deren Zustand angemessene Unterstützung und eine Anpassung der für alle Fahrgäste bereitgestellten Dienstleistungen an ihre besonderen Bedürfnisse erfordert;“.2 Der umfasste Personenkreis erstreckt sich folglich sowohl auf Menschen mit körperlicher Behinderung als auch anderweitig mobilitätseingeschränkte Menschen (z.B. Fahrgäste mit Kinderwagen und ältere Menschen).3 2. Rechtliche Einordnung Die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV ist nach § 1 Abs. 1 Regionalisierungsgesetz (RegG)4 eine Aufgabe der Daseinsvorsorge.5 Der ÖPNV wird gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 PBefG als die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr definiert,6 die über- 1 Personenbeförderungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. August 1990 (BGBl. I S. 1690), das zuletzt durch Art. 2 Abs. 14 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/pbefg/BJNR002410961.html#BJNR002410961BJNG000101305 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 2 So die Definition in der Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (Text von Bedeutung für den EWR), abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/ALL/?uri=CELEX%3A32011R0181 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 3 Vgl. Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (346 f.). 4 Regionalisierungsgesetz vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378, 2395), das zuletzt durch Art. 19 Abs. 23 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetze-iminternet .de/regg/ [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 5 Näheres dazu: Heinze, in: Heinze/Fehling/Field [Hrsg.], PBefG, 2. Auflage, 2014, Vorbemerkungen, I., Rn. 27 ff. 6 Zu den Definitionen der Verkehrstypen siehe §§ 4 Abs. 1 bis 4, 42 f. PBefG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 4 wiegend dazu bestimmt ist, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen .7 Auch die Beförderung mit Kraftfahrzeugen im Gelegenheitsverkehr8 gehört gemäß § 8 Abs. 2 PBefG zum ÖPNV, sofern sie der Ergänzung, Ersetzung oder Verdichtung der in § 8 Abs. 1 PBefG genannten Verkehrsarten dient. Im föderalen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland sind nach § 8 Abs. 3 S. 1 PBefG die von den einzelnen Bundesländern benannten Landesbehörden für die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV als Aufgabenträger zuständig .9 Die Behörden der Länder müssen gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 PBefG die Anforderungen an Umfang und Qualität des Verkehrsangebots, dessen Umweltqualität sowie die Vorgaben für die verkehrsmittelübergreifende Integration der Verkehrsleistungen in einem sogenannten Nahverkehrsplan definieren, wobei sie nach § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG das Ziel der Realisierung einer „vollständigen Barrierefreiheit“ angemessen und diskriminierungsfrei zu berücksichtigen haben. Gemäß § 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)10 sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel und andere gestaltende Lebensbereiche dann „barrierefrei“, „wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“.11 Im Bereich des öffentlichen Verkehrssektors bezieht sich die Barrierefreiheit vorrangig auf die Handlungsfelder (Haltestellen-) Infrastruktur und Fahrzeuge sowie Fahrgastkommunikation.12 Die von den Verkehrsunternehmen angebotenen Leistungen des ÖPNV stehen unter einem Genehmigungsvorbehalt .13 Die Genehmigungsbehörde hat bei ihrer Entscheidung den Nahverkehrsplan gemäß § 8 Abs. 3a PBefG zwingend zu berücksichtigen und kann nach § 13 Abs. 2a PBefG 7 Der ÖPNV im Sinne des PBefG umfasst den öffentlichen Straßenpersonennahverkehr (ÖPSV), nicht den Schienenpersonennahverkehr (SPNV), welcher seine Normierung im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) findet; auch ist zwischen dem ÖPNV und dem Personenfernverkehr im Sinne des § 42a PBefG zu unterscheiden (sogenannte 50-km-Grenze), dazu auch Heinze, in: Heinze/Fehling/Field [Hrsg.], PBefG, 2. Auflage, 2014, § 8, Rn. 7. 8 Zu der Definition der Verkehrskategorie siehe §§ 4 Abs. 4, 46 PBefG (Taxen- und Mietwagenverkehr). 9 So hat beispielsweise das Bundesland Hessen in § 5 Abs. 1 Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr in Hessen (ÖPNVG) festgelegt, dass die Landkreise, kreisfreien Städte und die Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern die Aufgabe des öffentlichen Personennahverkehrs als Selbstverwaltungsaufgabe wahrnehmen. 10 Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Art. 3 des Gesetzes vom 10. Juli 2018 (BGBl. I S. 1117) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/bgg/index.html#BJNR146800002BJNE000002119 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 11 Eine Definition des Begriffs „vollständige Barrierefreiheit“ ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen, weshalb auf die Definition des § 4 BGG zurückgegriffen wird, vgl. BT-Drs. 17/8233, http://dip21.bundestag .btg/dip21/btd/17/082/1708233.pdf, und BT-Drs. 17/10857, http://dip21.bundestag .btg/dip21/btd/17/108/1710857.pdf [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]; so auch: Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (347 f.); Bräuer, in: KommP spezial 2015, 166 (167); der Begriff „vollständig“ ist auf die räumliche Verwirklichung der Barrierefreiheit bezogen, Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (347). 12 Vgl. Bräuer, in: KommP spezial 2015, 166 (167 f.) mit Hinweisen auf konkretisierende Regelwerke und Normen. 13 Vgl. §§ 2 Abs. 1, 13 Abs. 2 bis 4 PBefG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 5 die Genehmigung des beantragten Verkehrs verweigern, wenn dieser nicht mit dem Nahverkehrsplan in Einklang steht. An die Genehmigung werden darüber hinaus Rechte und Pflichten für das Verkehrsunternehmen geknüpft, beispielsweise die Betriebs- (§ 21 PBefG) und Beförderungspflicht (§ 22 PBefG) sowie die Fahrplan- (§ 40 PBefG) und Tarifpflicht (§ 39 PBefG).14 3. Rechtsnatur und Reichweite der Beförderungspflicht nach § 22 PBefG Bei der Beförderungspflicht nach § 22 PBefG handelt es sich um eine Ausprägung des daseinsvorsorgerechtlichen Teilhabeanspruchs.15 In § 22 PBefG heißt es wörtlich: „Der Unternehmer ist zur Beförderung verpflichtet, wenn 1. die Beförderungsbedingungen eingehalten werden, 2. die Beförderung mit den regelmäßig eingesetzten Beförderungsmitteln möglich ist und 3. die Beförderung nicht durch Umstände verhindert wird, die der Unternehmer nicht abwenden und denen er auch nicht abhelfen kann.“16 Die Norm verpflichtet das jeweilige Verkehrsunternehmen, jeden Antrag eines Fahrgastes auf Abschluss eines Beförderungsvertrages nach Maßgabe der dafür geltenden öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Vorschriften anzunehmen, sofern nicht die Voraussetzungen des § 22 Nr. 1 bis 3 PBefG vorliegen („Kontrahierungszwang“).17 Es handelt sich um einen öffentlichrechtlichen Anspruch, dessen vertragliche Ausgestaltung privatrechtlich erfolgt und der vom einzelnen Fahrgast gerichtlich durchgesetzt werden kann.18 Der Verkehrsunternehmer ist jedoch insbesondere gemäß § 22 Nr. 1 PBefG von seiner Beförderungspflicht entbunden, wenn die Beförderungsbedingungen nicht eingehalten werden können. Darunter fallen vorrangig Bestimmungen in der Verordnung über Allgemeine Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen 14 Vgl. Heinze, in: Heinze/Fehling/Field [Hrsg.], PBefG, 2. Auflage, 2014, Vorbemerkungen, IV., Rn. 12. 15 Ebenda (Fn. 14), § 22, Rn. 1. 16 Fettungen durch die Verfasser dieser Ausarbeitung. 17 Lampe, in: Erb/Kohlhaas [Hrsg.], Strafrechtliche Nebengesetze, 223. EL, 2019, § 22 PBefG, Rn. 1, 8; Heinze, in: Heinze/Fehling/Fiedler [Hrsg.], PBefG, 2. Auflage, 2014, § 22, Rn. 6. 18 Vgl. Heinze, in: Heinze/Fehling/Fiedler [Hrsg.], PBefG, 2. Auflage, 2014, § 22, Rn. 5; vgl. zum unionsrechtlichen Beförderungsanspruch: Hilpert-Janßen, in: MDR 2014, 508 (509); zum prozessualen Vorgehen siehe: LG Kiel, Urteil v. 12. August 2016 – 17 O 108/15 –, Rn. 43, juris; sowie VG Oldenburg, Beschl. v. 22. November 2016 – 7 A 4713/15 –, juris; zuletzt OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 9. November 2017 – 2 U 6/16 –, Rn. 15, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 6 (BefBedV)19, der Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr (BOKraft)20 sowie der Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab)21. So sind z.B. in §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 5 BefBedV Beförderungsausschlüsse gelistet. Gemäß § 3 Abs. 1 BefBedV ist etwa die Beförderung von Personen ausgeschlossen, die eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Betriebs oder der Fahrgäste darstellen. Auch die Beförderung von Sachen (z.B. Hilfsmittel für mobilitätseingeschränkte Menschen) ist gemäß § 2 S. 2 in Verbindung mit § 11 Abs. 1 BefBedV nur durchzuführen, wenn dadurch keine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Betriebs oder der Fahrgäste entsteht. Im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgaben finden sich in §§ 13 bis 15 BOKraft. Auf unionsrechtlicher Ebene finden sich weitere Vorschriften in der Verordnung (EU) Nr. 181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr. Der Anspruch auf Beförderung im Linienverkehr insbesondere von mobilitätseingeschränkten Menschen inklusive etwaigen Mobilitätshilfen ist hier in Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 181/2011 normiert. Ausnahmen finden sich in Art. 10 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 181/2011, „a) um geltenden Sicherheitsanforderungen nachzukommen, die durch Vorschriften des internationalen Rechts, des Unionsrechts oder des nationalen Rechts festgelegt sind, oder um Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen nachzukommen, die von den zuständigen Behörden erlassen wurden;“ oder insbesondere auch „b) wenn es wegen der Bauart des Fahrzeugs oder der Infrastruktur, einschließlich der Busbahnhöfe und Bushaltestellen, physisch nicht möglich ist, den Einstieg, den Ausstieg oder die Beförderung des behinderten Menschen oder der Person mit eingeschränkter Mobilität auf sichere und operationell durchführbare Weise vorzunehmen.“.22 Während an der Beförderungspflicht von Mobilitätshilfsmitteln wie Hand- und Elektro-Rollstühlen keine Zweifel bestehen, stellte zuletzt vor allem die Frage nach der Beförderungspflicht sogenannter Elektromobile/Elektro-Scooter (E-Scooter) den Gegenstand zahlreicher Gerichtsverhandlungen dar.23 Vor dem Hintergrund eines im Jahr 2014 veröffentlichten Gutachtens der Studiengesellschaft für Tunnel und Verkehrsanlagen e.V. (STUVA) zu den Gefahren bei der Beförderung 19 Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 27. Februar 1970 (BGBl. I S. 230), die zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 21. Mai 2015 (BGBl. I S. 782) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet .de/befbedv/index.html#BJNR002300970BJNE000201314 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 20 Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr vom 21. Juni 1975 (BGBl. I S. 1573), die zuletzt durch Art. 483 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bokraft_1975/ [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 21 Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung vom 11. Dezember 1987 (BGBl. I S. 2648), die zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 16. Dezember 2016 (BGBl. I S. 2938) geändert worden ist, abrufbar unter: http://www.gesetzeim -internet.de/strabbo_1987/ [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 22 Fettungen durch die Verfasser dieses Sachstandes. 23 Vgl. Hilpert-Janßen, in: MDR 2014, 508 (510). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 7 von Elektromobilen in Linienbussen24 bejahte beispielsweise das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen in seinem Beschluss vom 15. Juni 2015 grundsätzlich den Beförderungsanspruch nach § 22 PBefG, negierte jedoch die Beförderungspflicht bezüglich des E-Scooters mangels ausreichender Sicherungsmöglichkeiten.25 Das Landgericht (LG) Kiel fügte dem in seinem Urteil vom 12. August 2016 hinzu, dass der Beförderungsanspruch als Gewährleistung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG)26 durch das verfassungsrechtlich garantierte Recht der anderen Fahrgäste auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG beschränkt werde, das dem Beförderungsanspruch vorgehe.27 Im März 2017 wurde schließlich auf Grundlage weiterer STUVA-Untersuchungsergebnisse28 ein bundeseinheitlicher Erlass zur Beförderungspflicht von E-Scootern in Linienbussen verabschiedet, der regelt, unter welchen Voraussetzungen die Beförderung von diesen Elektromobilen nicht mehr verweigert werden darf.29 Vor diesem Hintergrund bejahte das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig-Holstein in seinem Beschluss vom 9. November 2017 eine Beförderungspflicht von E-Scootern im Linienverkehr nach Maßgabe des Erlasses.30 24 In einem ersten Gutachten der STUVA im Auftrag des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV) vom Mai 2014 wurde dargelegt, dass bei der Beförderung von E-Scootern im Linienverkehr eine Gefahr sowohl für die Nutzer/innen des Elektromobils selbst als auch der anderen Fahrgäste nicht auszuschließen sei (z.B. Rutschen /Kippen). Der VDV sprach daraufhin die Empfehlung eines Beförderungsverbots von E-Scootern im Linienverkehr aus, vgl. https://www.stuva.de/leistungen/referenzen/verkehr-umwelt/details.html?tx_stuvareferences _referencelist%5Breference%5D=70&cHash=29f20aa427ce5402349f2116253a61e1 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 25 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15. Juni 2015 – 13 B 159/15 –, Rn. 5 ff. juris, mit Verweis auf das Vorkommen von Unfällen mit einem Elektromobil, OLG Hamburg, Beschl. v. 14. Mai 2009 – 15 U 13/08 –, juris; so auch: LG Kiel, Urteil v. 12. August 2016 – 17 O 108/15 –, Rn. 53 ff., juris; zuletzt dazu OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 9. November 2017 – 2 U 6/16 –, Rn. 18, juris. 26 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/gg/BJNR000010949.html [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 27 LG Kiel, Urteil v. 12. August 2016 – 17 O 108/15 –, Rn. 53, juris, vgl. auch OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 9. November 2017 – 2 U 6/16 –, Rn. 21, juris. 28 Zweites Gutachten der STUVA vom 9. Oktober 2015,Untersuchung der Mitnahmemöglichkeiten von Elektromobilen (E-Scootern) in Linienbussen, abrufbar unter: https://www.vm.nrw.de/verkehr/_pdf_container/Gutachten _4252-Mitnahme-Elektromobile-SB-v1_00-2015-10-09.pdf [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]; drittes STUVA-Gutachten vom 21. Oktober 2016, Ergänzende technische Fragen zur Untersuchung der Mitnahmemöglichkeiten von Elektromobilen (E-Scootern) in Linienbussen, abrufbar unter: https://www.stuva.de/fileadmin /import/referenzen/Erlass__technisches_und_juristisches_GA_E-Scooter-Mitnahme_Bus.pdf [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 29 VkBl 2017 Heft 6, S. 237 ff.; Sachstandsbericht des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2017, das die Erarbeitung des Erlasses federführend übernommen hat und den Erlass mit den Verkehrsressorts der übrigen Bundesländer und dem Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) abgestimmt hat, abrufbar unter: https://www.stuva.de/fileadmin/import /referenzen/Erlass__technisches_und_juristisches_GA_E-Scooter-Mitnahme_Bus.pdf [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 30 OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 9. November 2017 – 2 U 6/16 –, Rn. 22, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 8 Auch behördliche Anordnungen können die Beförderungspflicht des Verkehrsunternehmens ausschließen (z.B. polizeiliche Maßnahmen im Rahmen von Straßensperrungen).31 Die Beförderungspflicht des Unternehmers entfällt weiterhin gemäß § 22 Nr. 2 PBefG, wenn sie nicht mit den regelmäßig eingesetzten Beförderungsmitteln, das heißt den gewöhnlich zur Verfügung stehenden und bei durchschnittlichem Verkehrsaufkommen zahlen- und beschaffenheitsmäßig ausreichenden Fahrzeugen, möglich ist.32 Auch ist der Verkehrsunternehmer gemäß § 22 Nr. 3 PBefG nicht zur Beförderung verpflichtet, wenn diese durch Umstände verhindert wird, die er nicht abwenden und denen er auch nicht abhelfen kann. In Betracht kommen hier neben Naturereignissen auch betriebsinterne Ereignisse (z.B. Ausfall der Stromversorgung).33 4. Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr nach § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG Zwecks Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)34 wurde die Zielvorgabe der vollständigen Barrierefreiheit im PBefG verstärkt.35 In § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG heißt es nunmehr: „Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen .“36 § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG verpflichtet die jeweiligen Landesbehörden als Aufgabenträger, das Ziel der vollständigen Barrierefreiheit in ihren Nahverkehrsplänen zu berücksichtigen und zu konkretisieren .37 Dies hat zur Folge, dass die konkrete Umsetzung des Ziels je nach Bundesland divergiert . Seit 2009 sind im Bundesland Berlin beispielsweise sämtliche im ÖPNV eingesetzten 31 Lampe, in: Erb/Kohlhaas [Hrsg.], Strafrechtliche Nebengesetze, 223. EL, 2019, § 22 PBefG, Rn. 5. 32 Ebenda (Fn. 31), Rn. 6. 33 Ebenda (Fn. 31), Rn. 7. 34 Siehe insbesondere Art. 9 und Art. 20 der UN-Behindertenkonvention, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 12. Dezember 2006, in der Bundesrepublik Deutschland durch Zustimmungsgesetz vom 21. Dezember 2008 am 1. Januar 2009 in Kraft getreten, abrufbar unter: https://www.behindertenbeauftragte .de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 35 Siehe Gesetz zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften vom 14. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2598), das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist; vgl. BT-Drs. 17/8233, S. 22, 34 und BT-Drs. 17/10857, S. 17; Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (344). 36 Fettungen durch die Verfasser dieser Ausarbeitung. 37 Siehe Gliederungspunkt 2.; näheres: Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (345 ff.); Bräuer, in: KommP spezial 2015, 166 (167). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 5 - 3000 - 054/19 Seite 9 Busse für Menschen mit Behinderung, insbesondere im Rollstuhl, aufgrund der in den Fahrzeugen eingesetzten Absenkautomatik geeignet.38 Mittelbar werden durch die Zielbestimmung auch die beförderungspflichtigen Verkehrsunternehmen verpflichtet, deren Verkehr mit dem Nahverkehrsplan übereinstimmen muss, vgl. § 13 Abs. 2a PBefG.39 Der Gesetzgeber räumt den Ländern jedoch Ausnahmemöglichkeiten ein. So kann gemäß § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG von der Frist des 1. Januars 2022 abgewichen werden, wenn dies durch die Aufgabenträger im Nahverkehrsplan konkret benannt und begründet wird. Darüber hinaus gibt § 62 Abs. 2 PBefG dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit einer Verlängerung der Umsetzungsfrist und der Bestimmung von Ausnahmetatbeständen , soweit dies nachweislich aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen unumgänglich ist.40 Die rechtliche Wirkung des § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG ist folglich auf die grundsätzliche Verpflichtung der Aufgabenträger zur planerischen Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen beschränkt. Die Norm gewährt dem Einzelnen insbesondere kein subjektives Recht auf Einhaltung der Umsetzungsfrist durch die Aufgabenträger.41 Jedoch gibt § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGG im Falle eines Verstoßes gegen § 8 Abs. 3 S. 3 PBefG Verbandsklagemöglichkeiten .42 Eine unmittelbare Auswirkung auf die Reichweite des Beförderungsanspruchs von Menschen mit Mobilitätsbeschränkungen nach § 22 PBefG ist aus der Zielvorgabe nicht abzuleiten . *** 38 Siehe dazu die Informationen auf der Internetseite der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) unter: https://www.bvg.de/de/Service/Service-fuer-unterwegs/Mobilitaetshilfen [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019] sowie die Informationen auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales für das Land Berlin unter: https://www.berlin.de/sen/soziales/themen/menschen-mit-behinderung/barrierefreiheit/nahverkehr / [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]. 39 Vgl. Gliederungspunkt 2. 40 Vgl. auch Ausführungen zur Anwendung des Regel-Ausnahme-Prinzips auf BT-Drs. 17/8233, S. 22 und BT-Drs. 17/10857, S. 19, 23. 41 Vgl. Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände, Vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV – Hinweise für die ÖPNV-Aufgabenträger zum Umgang mit der Zielbestimmung des novellierten PBefG (September 2014), S. 13 f. (Ermessen und Klagerisiken), abrufbar unter: http://www.kreise.de/__cms1/images/stories/themen/Verkehr/452-14%20A.pdf [zuletzt abgerufen am 18. Juni 2019]; Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (350); Bräuer, in: KommP spezial 2015, 166 (166). 42 Näheres: Linke/Niemann, in: DVBl 2016, 344 (350).