Funktionsweise des Wirtschaftssystems der DDR im Überblick - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 5 - 054/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Funktionsweise des Wirtschaftssystems der DDR im Überblick Ausarbeitung WD 5 - 054/07 Abschluss der Arbeit: 16.03.2007 Fachbereich WD 5: Wirtschaft und Technologie; Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz; Tourismus Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung Diese Ausarbeitung gibt einen Überblick über die Funktionsweise des Wirtschaftssystems der DDR. Der dabei gewählte Aufbau des Textes orientiert sich weitgehend an der Darstellung von Gerold Ambrosius aus dem Jahr 2006. Zunächst wird die Wirtschaftsordnung in Bezug zur Gesellschaftsordnung der DDR gesetzt. Anschließend wird die Thematik anhand der drei Ordnungselemente „Eigentum und Verfügung“, „Planung und Lenkung“ sowie „Motivation und Anreiz “ entwickelt. Der letzte Abschnitt erweitert den Blickwinkel über die Betrachtung des Wirtschaftssystems im engeren Sinne hinaus auf die Rolle der Gewerkschaften in der DDR. 2. Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsordnung Die Entstehung des Wirtschaftssystems der DDR nach 1945 hatte zwei historische Wurzeln. Ordnungstheoretisch stellte es eine Rezeption des Sowjetmodells dar. Entwicklungsgeschichtlich knüpfte es an die Planungs- und Lenkungsmechanismen an, die die Nationalsozialisten vor allem im Rahmen der Kriegswirtschaft in Deutschland schon vor dem Kriegsende etabliert hatten (vgl. Ambrosius 2006: 13). In der Verfassung der DDR von 1949 wurde nicht von „Planwirtschaft“ gesprochen. Dennoch war der Umbau der Wirtschaft zu einem solchen System bereits weit fortgeschritten . Große Teile der Industrie waren in Staatsbesitz übergegangen und die noch überwiegend private Landwirtschaft war in zentrale Lenkungsbemühungen einbezogen. Erst im Jahr 1968 wurde in der Verfassung festgeschrieben, dass die DDR „eine sozialistische Planwirtschaft“ besitze (vgl. Ambrosius 2006: 12). Artikel 9 Abs. (1) der Verfassung legte fest: „Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln.“ In Absatz (3) heißt es: „In der Deutschen Demokratischen Republik gilt der Grundsatz der Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche“(zit. nach Haase 1990: 219). Damit sind die zwei Grundpfeiler der Wirtschaftsordnung der DDR identifiziert: kollektives Eigentum der Produktionsmittel und zentrale Planung. Die Begründung für diese Form der Organisation der Volkswirtschaft lag in der übergeordneten Gesellschaftsideologie, die nach dem „Primat der Politik“ die Leitlinien für die Wirtschaftsordnung bestimmen sollte. Dieser Anspruch wird im Weiteren von Artikel 9 Abs. (1) der Verfassung deutlich: „ Sie [die Volkswirtschaft] entwickelt sich gemäß den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse […]“ (zit. nach Haase 1990: 219). Die Wirtschaftsordnung der DDR sollte nach dem Willen der Machthaber eine Umsetzung der marxistisch-leninistischen Gesellschaftsordnung auf dem Gebiet der Ökonomie sein. Dabei orientierte sich die konkrete Gestaltung der Verhältnisse einerseits an den „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ - 4 - des Marxismus-Leninismus, andererseits zugleich am gesellschaftlichen Entwicklungsstand , was ein dynamisches Element in die Wirtschaftsordnung integrierte (vgl. Ambrosius 2006: 13). Während die Wirtschaft als Instrument des sozialistischen Staates fungierte, wurde dieser von der marxistisch-leninistischen Partei bestimmt, die das Herrschaftsmonopol besaß . Damit war die Entwicklung des Wirtschaftssystems der DDR eng mit dem Ablauf der SED-Herrschaft verbunden. Aus den Schwächen und Defiziten des Planungs- und Leitungssystems folgte ein immanenter Zwang zu permanenten Eingriffen durch die Organe der Partei (vgl. Ambrosius 2006: 14). Die Verschmelzung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft in der DDR war ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zur Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland und sämtlicher deutscher Staaten seit dem 19. Jahrhundert bis 1933, deren Ziel es gerade gewesen war, die drei Teilbereiche voneinander zu trennen. Dieser entwicklungsgeschichtliche Bruch stellte die DDR in besonderem Maße in einen Systemwettbewerb mit dem Westen. Die Parole von Walter Ulbricht, die DDR solle das kapitalistische System „überholen“ ohne es „einzuholen“, macht deutlich, dass das Wirtschaftssystem der DDR eine Legitimation aufgrund seiner Leistungsfähigkeit anstrebte (vgl. Ambrosius 2006: 14-15). Dass dies letztlich nicht gelang, war einer der Gründe für den Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Jahr 1989 (vgl. Gutmann 1997: 954-957). Diese Entwicklung konnte trotz des ständig wiederkehrenden Versuchs der „Reform“ des Wirtschaftssystems nicht verhindert werden. Mit dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ von 1963, dem Postulat der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ von 1971 und der Kombinatsbildung zum Ende der 1970er Jahre sind drei der Programme genannt, die zu Veränderungen der Lenkungsorganisation , zur Verlagerung von Kompetenzen in der Planungs- und Lenkungshierarchie , zu Wandlungen im Kennziffergefüge und zu Umgestaltungen der Formen des Stimulierens und des Prämierens betrieblicher Leistungen führten, ohne die grundlegenden Konstruktionsfehler des Wirtschaftssystems der DDR zu beheben (vgl. Ambrosius 2006: 16-17). Der Steuerungsmechanismus einer Marktwirtschaft, der auf einer dezentralen Koordination durch Preise beruht, kann sich auf Wandlungen der ökonomischen Gegebenheiten flexibel einstellen. Das System der zentralen Steuerung, wie es in der DDR angewandt wurde, kann dagegen neue Entwicklungen nur unvollständig und verzögert integrieren und wird stets an der Unmöglichkeit einer vollständigen Voraussage der beteiligten Parameter des Wirtschaftslebens scheitern. Wenn ökonomische Ziele einer Volkswirtschaft aus dem zentralen politischen Willen und nicht aus den Präferenzen der Bevölkerung abgeleitet werden, fallen wirtschaftliche Planziele und individuelle Motivationen - 5 - auseinander. Ein solches System kann nur mit Hilfe autoritärer Herrschaft und unter Inkaufnahme hoher Effizienzverluste aufrecht erhalten werden (vgl. Gutmann 1988: 759-761). 3. Eigentum und Verfügung In Artikel 10 (1) der DDR-Verfassung werden die drei möglichen Formen des „sozialistischen Eigentums“ aufgeführt. Demnach besteht das sozialistische Eigentum (zit. nach Haase 1990: 220) a) „als gesamtgesellschaftliches Volkseigentum“. Hierbei war das gesamt Volk der Eigentümer , die Eigentumsrechte wurden vom Staat ausgeübt. b) „als genossenschaftliches Gemeineigentum werktätiger Kollektive“. Hierbei waren die Mitglieder von sozialistischen Genossenschaften, insbesondere Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs), gemeinsam Eigentümer. c) „als Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger“. Hierbei waren politische Parteien und sozialistische Massenorganisationen Eigentümer. Davon grenzte Artikel 11 der Verfassung das „persönliche Eigentum der Bürger“ ab, das der „Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger“ dienen sollte. Die Verfassung gewährleistete also nicht das private Eigentum an Kapitalgütern (Produktionsmitteln). Artikel 12 verbot darüber hinaus ausdrücklich Privateigentum u. a. an Bodenschätzen, Industriebetrieben, Banken und Versicherungsunternehmen sowie Transportmitteln. In der Landwirtschaft wurde das genossenschaftliche Eigentum bis 1960, in der Industrie das staatliche Eigentum bis Mitte der 1950er Jahre weitgehend und 1972 vollständig umgesetzt (Ambrosius 2006: 18). Damit waren weite Teile des Produktionsapparates der staatlichen Lenkung unterstellt. Neben ideologischen Motiven war die Sicherung der Macht ein wichtiger Grund für die nahezu komplette Ausschaltung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln. Bis zu Beginn der 1980er Jahre lagen auch in westlichen Industrieländern Teile des Produktivvermögens in staatlichem Besitz. Die Eigentumsform eignet sich somit nicht als alleiniger Bestimmungsgrund für die unterschiedliche Entwicklung der Wirtschaftskraft . Zwar birgt die kollektive Eigentumsform Quellen wirtschaftlicher Ineffizienzen, doch nur zusammen mit den unterschiedlichen Verfügungsmöglichkeiten des Managements und der Einbindung in das wirtschaftliche Koordinationssystem tritt die spezifische Rolle des „sozialistischen Eigentums“ im System der DDR-Wirtschaft zu Tage. In westlichen Ländern können Manager von Unternehmen in Staatsbesitz weitgehend autonom im Sinne ökonomischer Erfolgskriterien entscheiden, während die Unterneh- - 6 - mensführungen in der DDR an die aus dem „Primat der Politik“ abgeleiteten Ziele und Lenkungsvorgaben gebunden waren (vgl. Gutmann 1988: 736-739). 4. Planung und Lenkung Wie oben beschrieben, legte Artikel 9 Abs. (3) der DDR-Verfassung fest: „Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist eine sozialistische Planwirtschaft “ (zit. nach Heese 1990: 219). Das Prinzip der „sozialistischen Kooperation“ trat an die Stelle der kapitalistischen Konkurrenz. Das bei der Planung und Lenkung angewendete Ordnungsprinzip war der „demokratische Zentralismus“, bei dem alle Faktoren des Wirtschaftslebens zunächst von oben nach unten und in Rückkopplung von unten nach oben entschieden wurden. Die Parteiorgane waren gemäß ihrer Führungsrolle in Wirtschaft und Gesellschaft die ausschlaggebenden Steuerungsinstanzen (vgl. Ambrosius 2006: 20). Der „Wirtschaftsmechanismus“ der DDR war durch drei Kategorien gekennzeichnet: Leitung, Planung und ökonomische Stimulierung. Im Laufe der Geschichte des Landes veränderte sich die Koordinierungsordnung mehrfach. Mit dem „Neuen Ökonomischen System“ zu Beginn der 1960er Jahre wurde von der Mengenplanung vornehmlich auf die dezentralere Planung von Preisen, Gewinnen, Krediten, Zinsen und Löhnen umgestellt . Wenige Jahre später kehrte man zu zentraleren Planungs- und Lenkungsformen zurück. Gleichzeitig wurden einerseits die Entscheidungsspielräume der Kombinate erweitert, andererseits aber die Kontrollen intensiviert. Neben den Aktivitäten im Rahmen der offiziellen Planung und Lenkung entwickelte sich eine „Schattenwirtschaft“, die als eigenständiges Element der realen Wirtschaftsordnung aufgefasst werden kann (vgl. Ambrosius 2006: 21). Die planende Wirtschaftsadministration war hierarchisch aufgebaut. Der volkswirtschaftliche Gesamtprozess war auf jene Ziele ausgerichtet, die von den politischen Spitzengremien , also dem Politbüro des ZK der SED, dem ZK und dem Ministerrat verfolgt wurden. Die praktische Planungsarbeit wurde von der Staatlichen Plankommission als dem Stabsorgan der politischen Führungsspitze durchgeführt. Sie war eine juristische Person und Organ des Ministerrats der DDR und arbeitete mit einer Reihe von Fachministerien und zentralen Ämtern zusammen. Sie stand an der Spitze einiger nachgeordneter Planungsinstanzen, die fachlich und/oder territorial aufgegliedert waren. Gemäß ihrem Statut von 1973 war die Staatliche Planungskommission bei der Planung des volkswirtschaftlichen Geschehens in Plänen verschiedener Fristigkeit und deren Abstimmung mit den Planwerken der übrigen Mitgliedsländer des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und bei der Kontrolle der Durchführung dieser Pläne der politischen Führungsspitze gegenüber verantwortlich. Sie konnte von den anderen Staatsor- - 7 - ganen und den Organen der Wirtschaft die zur Planerstellung notwendigen Informationen , Analysen und Einschätzungen anfordern (vgl. Haase 1990: 36-66, Gutmann 1997: 957-958). Wichtigstes Mittel der Planung war die so genannte „Bilanzierung“. Die Bilanzen enthielten in Form von Gleichungen (Verflechtungsbilanzen) oder Tabellen (Erzeugungsbilanzen ) die mengen- oder wertmäßige Gegenüberstellung oder Verflechtung von Aufkommen und Verwendung. Entsprechend ergaben sich „Bilanzpyramiden“: Im Bereich der Materialien, Ausrüstungs- und Konsumgüter (MAK) bestätigte der Ministerrat im Jahr 1986 etwa 425 Staatsbilanzen, die von der staatlichen Planungskommission erarbeitet wurden. Die Ministerien legten dazu 665 zusätzliche Ministerbilanzen vor. Staatsund Minsterbilanzen waren in der Folge die Grundlage zur Ausarbeitung von etwa 4500 Kombinats- und Betriebsbilanzen. Für den Volkwirtschaftsplan 1986 stellten 589 bilanzierende Organe und tausende Betriebe insgesamt ca. 5600 MAK-Bilanzen auf, die durch Produktions- und Lieferpläne sowie Wirtschaftsverträge miteinander verbunden waren (vgl. Haase 1990: 48-49). Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der unterschiedlichen Planwerke war ihre Laufzeit . Den Rahmen bildeten die Fünfjahrespläne1. Sie enthielten Kennziffern und Bilanzen , die die materiellen Aufgaben der Industrie, der Bauwirtschaft, des Verkehrswesens, des Handels und der Landwirtschaft festlegten. Zeitlich parallel wurden die Jahresvolkswirtschaftspläne (materielle Planung) und die monetären Pläne (finanzielle Pläne) für jeweils ein Jahr ausgearbeitet. Die geldwirtschaftlichen Pläne sollten dabei so aus den güterwirtschaftlichen Plänen entwickelt werden, dass die Wirtschaft mit den Geldmitteln versorgt wurde, die für die geplanten Transaktionen erforderlich waren – ein Versuch, der häufig misslang. Die Koordination der verschiedenen Planwerke stellte eine der Hauptschwierigkeiten im Wirtschaftssystem der DDR dar (vgl. Gutmann 1997: 959-960). In einer Marktwirtschaft erfolgt die Koordination der Wirtschaftssubjekte und des Faktoreinsatzes mit Hilfe der Steuerung des Marktes und seinen Preissignalen relativer Knappheiten. Das Ordnungsrecht setzt dabei lediglich den Rahmen. Im DDR- Wirtschaftssystem regelten dagegen Rechtsnormen die Beziehungen zwischen den wirtschaftsleitenden Staatsorganen, zwischen den produzierenden Einheiten und sogar zwischen den verschiedenen Bereichen innerhalb der Betriebe. Sie fanden ihren Ausdruck in Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften und Planwerken (vgl. Ambrosius 2006: 25- 26). Diese Art der Steuerung resultierte aus der Anwendung der marxistischen Arbeitswertlehre , nach der der Preis eines Gutes von der in ihm beinhalteten Arbeitsleistung 1 Gelegentlich auch Sieben- oder Dreijahrespläne. - 8 - bestimmt werden muss. Damit wird die marktmäßige Preisbildung durch Angebot und Nachfrage abgelehnt. Die Koordination von Produktion, Investition, Konsum und Außenhandel nach „objektiven“ Kriterien musste aus Sicht der DDR- Wirtschaftsauffassung deshalb mit Hilfe einer zentralen Planung geschehen. 5. Motivation und Anreiz Nach dem Verständnis der SED hatte die Partei einen „Erziehungsauftrag“, um den Einzelnen zum Dienst an der Gemeinschaft der sozialistischen Gesellschaft zu motivieren . Diese Erziehung zum „sozialistischen Menschen“ fand in der Praxis mit Hilfe von autoritären bzw. diktatorischen Mitteln statt. Damit erreichte die SED-Führung nicht das Ziel der „Befreiung“ des Individuums durch den Sozialismus, sondern knüpfte an die deutsche Tradition des Obrigkeitsstaates an. In vielen Fällen war bei der Bevölkerung der DDR als Reaktion ein Rückzug ins Privatleben und eine gleichgültige bis hin zu einer destruktiven Einstellung gegenüber dem wirtschaftlichen Alltag zu beobachten. Diese im System angelegten Motivationsblockaden hatten Auswirkungen auf das Funktionieren des Wirtschaftssystems als Ganzem. Die fehlende Legitimation bzw. die Repression waren um so gravierender für das Wirtschaftsleben, als die Leistungsanreize, mehr als in einem kapitalistischen System, von nicht-materiellen Belohnungen abhingen (vgl. Ambrosius 2006: 26-27). Die fehlenden materiellen Anreize bei der Arbeit wurden durch die gleichzeitig betriebene Sozialpolitik in ihrer Wirkung verstärkt. Die dem Parteitagsbeschluss von 1971 folgende „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ resultierte in einer umfassenden staatlichen Betreuung der Bürger, die die Leistungsbereitschaft zusätzlich lähmte. Der Zusammenhang von individueller Arbeitsleistung und eigener wirtschaftlicher und sozialer Situation wurde immer schwächer. Volkswirtschaftlich brachte die Entkopplung von Wirtschaftsleistung und dem Niveau der sozialen Sicherung massive Finanzierungsprobleme und ein Zurückbleiben in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mit sich (vgl. Ambrosius 27-28). Die politische Führung und die zentralen Planungsorgane machten die Ausschüttung von so genannten „Leistungsprämien“ an die Belegschaften der Betriebe vom Grad der Planerfüllung abhängig. Nichterfüllung der Planauflagen wurde hingegen durch Verlust von Prämien sanktioniert. Aus Sicht der Betriebsdirektoren, der leitenden Kader und der Belegschaften wurde die Prämienmaximierung zum Betriebsziel. Die Schwierigkeit für die Planungsorgane bestand darin, Kennzahlen und Plangrößen auszuwählen, an denen die Prämienerzielung anknüpfen sollte (vgl. Gutmann 1988: 753-755). Damit stand auch die Leistungsmotivation durch Prämien unter dem Vorbehalt der Aufstellung komplexer Planwerke. So konnte das Prämierungssystem, wenn seine materiellen An- - 9 - reize angesichts des mangelnden Warenangebotes überhaupt wirksam waren, zur Belohnung von wirtschaftlichen Aktivitäten führen, die aus volkswirtschaftlicher Sicht an anderer Stelle mehr Wirkung entfaltet hätten. Hier liegt wiederum ein grundlegender Unterschied zu marktwirtschaftlichen Systemen, in denen das individuelle Gewinnstreben gleichzeitig zur Effizienz der Volkswirtschaft beiträgt. Bei den im DDR-System geschaffenen Leistungsanreizen war dies nicht notwendigerweise der Fall. 6. Die Rolle der Gewerkschaften Die Gewerkschaften in der DDR waren in der „Einheitsgewerkschaft“, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) zusammengeschlossen. Er war die größte und wichtigste der so genannten „Massenorganisationen“ der DDR. Mit ihrer Hilfe versuchte die SED, die umfassende Erfassung der Bevölkerung der DDR durchzusetzen. Die Massenorganisationen waren in der „Nationalen Front“ zusammengefasst und hatten die von der Partei gestellte Aufgabe, die spezifischen Interessen, täglichen Bedürfnisse und Unzufriedenheiten einzelner Bevölkerungsgruppen aufzunehmen, zu artikulieren, zu kanalisieren und im Rahmen der Systemstabilisierung auch zu vertreten. Gleichzeitig waren sie Teil des Kontroll- und Unterdrückungsapparates der politischen Führung. Die Gewerkschaften hatten in der DDR somit, obwohl sie auch in gewissem Umfang berufsspezifische Interessen vertraten, hauptsächlich eine gesellschaftspolitische und weniger eine ökonomische Funktion (vgl. Eckert 1997: 546). Der FDGB hatte (wie auch andere Massenorganisationen, z. B. die FDJ) eigene Abgeordnete in der Volkskammer der DDR. Entsprechend den Prinzipien des „demokratischen Zentralismus“ wurde der Führungsanspruch der SED aber nicht in Frage gestellt. Die Partei bestimmte die Finanzausstattung und die personelle Führungsebene des FDGB, während die Staatssicherheit die Zuverlässigkeit kontrollierte. Alle Vorsitzenden des FDGB waren Mitglieder des SED-Politbüros. Im Herbst 1989 waren nur etwa 200.000 Arbeitnehmer nicht im 9,6 Mio. Mitglieder zählenden Gewerkschaftsbund erfasst . (vgl. Eckert 1997: 547, Alisch 1997: 285). Eine wichtige Aufgabe des FDGB bestand in der Vermittlung der Ideologie der SED- Machthaber sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch bei den politischen Kadern . Die Gewerkschaft war integraler Bestandteil des Alltags der DDR, ohne jedoch das Leben der Bevölkerungsmehrheit tiefgehend prägen zu können. Der FDGB war ein Träger der „massenpolitischen“ Breitenarbeit der DDR, z. B. bei der Organisation der jährlichen Parade zum 1. Mai. Gleichzeitig schulte sie Funktionäre des DDR-Systems. Eine weitere Funktion des FDGB bestand in der Durchführung von Kampagnen innerhalb der Betriebe zur Erhöhung der Produktivität sowie von Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitszufriedenheit. Die Mitwirkung bei Personalentscheidungen in den Be- - 10 - trieben (z. B. bei Disziplinarverfahren, Umsetzungen etc.) sowie bei Arbeitszeit-, Gesundheits - oder Brandschutzregelungen entsprach noch am ehesten klassischen Gewerkschaftsfunktionen , die vom FDGB wahrgenommen wurden. Neben dem latenten Druck durch das SED-System, der Gewerkschaftsorganisation beizutreten, war der wichtigste Grund für die hohe Mitgliederzahl des FDGB seine Rolle bei der Verteilung von sozialen Leistungen wie der Sozialversicherung oder der Vermittlung von Urlaubsreisen (vgl. Alisch 1997: 285-286). Quellen: – Alisch, Steffen (1997): Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. In: Lexikon des DDR- Sozialismus Band 1, S.282-286. – Ambrosius, Gerold (2006): Sozialistische Planwirtschaft als Alternative und Variante in der Industriegesellschaft – die Wirtschaftsordnung. In: Überholen ohne einzuholen. Hg. von André Steiner. Berlin. S.11-32. – Eckert, Rainer (1997): Massenorganisationen. In: Lexikon des DDR-Sozialismus Band 1, S.546-550. – Gutmann, Gernot (1997): Wirtschaft. In: Lexikon des DDR-Sozialismus Band 2, S.954-962. – Gutmann, Gernot (1988): Die Wirtschaft der DDR. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Band 8, S. 735-762. – Haase, Herwig E. (1990): Das Wirtschaftssystem der DDR. Berlin. – Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. von Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms. Paderborn et al 1990.