© 2021 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 052/21 Wirtschaftliche Auswirkungen des Scheiterns des Rahmenabkommens zwischen der EU und der Schweiz Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 2 Wirtschaftliche Auswirkungen des Scheiterns des Rahmenabkommens zwischen der EU und der Schweiz Aktenzeichen: WD 5 - 3000 - 052/21 Abschluss der Arbeit: 24.06.2021 Fachbereich: WD 5 Wirtschaft und Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Wirtschaftliche Daten und Historie 4 3. Das gescheiterte Rahmenabkommen im Überblick 5 4. Wirtschaftliche Folgen des Scheiterns in der Diskussion 8 5. Weitere Quellen 14 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über die direkten und langfristigen Auswirkungen des Scheiterns des institutionellen EU/Schweiz-Rahmenabkommens (IFA) insbesondere im Bereich der Freizügigkeit im Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr. Die Analyse erfolgt u.a. anhand von Quellen der Europäischen Kommission, der deutsch-schweizerischen Handelskammer , dem Schweizer Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences sowie Presseveröffentlichungen .1 2. Wirtschaftliche Daten und Historie Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) der Europäischen Kommission zeigt in einem aktuellen Factsteet grundlegende Fakten im Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz wie folgt auf:2 „Die Schweiz und die EU sind wichtige Wirtschaftspartner: • Der Handelsaustausch beläuft sich auf rund 1 Mrd. EUR pro Werktag. • Die Schweiz ist – nach China, den USA und dem Vereinigten Königreich – der viert- wichtigste Handelspartner der EU. Auf die Schweiz entfallen 6,9 % der Ausfuhren der EU und 5,7 % ihrer Einfuhren. • Die EU ist der bei Weitem wichtigste Handelspartner der Schweiz. Auf sie entfallen rund 42 % der Warenausfuhren der Schweiz und 50 % ihrer Einfuhren (Stand 2020).“ (…) Im Rahmen des freien Personenverkehrs (sh. Bilaterale Abkommen I) ergeben sich folgende Fakten: „• Im Jahr 2020 lebten etwa 1,4 Millionen EU-Bürger in der Schweiz, 400 000 Schweizer lebten in der EU. • Weitere 343 809 EU-Bürger überqueren täglich die Grenze, um in der Schweiz zu arbei- ten. Der freie Personenverkehr ist ein Kernstück der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz. • Von den insgesamt 5,1 Millionen Erwerbstätigen sind etwa 25 % – d. h. mehr als 1,28 Millionen Personen – EU-Bürger (von denen 343 809 Grenzgänger sind). (Stand: 2020).“ Die langjährigen Beziehungen fußen, so das Papier weiter, derzeit auf mehr als 120 Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Als wesentliche Abkommen werden hierbei insbesondere folgende Abkommen benannt:3 1 Alle textlichen Hervorbebungen (Fettungen) in dieser Arbeit erfolgten durch den Verfasser dieser Dokumentation . 2 Europäische Kommission, Factsheet über EU-Schweizer Beziehungen, Grundlegende Fakten zum Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz, Mai 2021. https://eeas.europa.eu/sites/default/files/na0221630den-proof_3.pdf. 3 A.a.O. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 5 • als Grundpfeiler der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz das Freihandelsab- kommen von 1972, • das Bilaterale Abkommen I von 1999, bestehend aus den sieben sektoriellen Abkom- men die den freien Personenverkehr, die Anerkennung von technischen Bescheinigun- gen, das öffentliches Beschaffungswesen, den Handel mit landwirtschaftlichen Produk- ten, die Zivilluftfahrt, den Landverkehr sowie die Forschung umfassen und rechtlich durch die sogenannte ‚Guillotine-Klausel‘ verbunden sind, wonach im Falle der Kündi- gung eines Abkommens auch alle anderen Abkommen sechs Monate später außer Kraft treten. • das Bilaterale Abkommen II von 2004, bestehend aus den acht sektoriellen Abkommen, die die Beteiligung der Schweiz am Schengener und am Dubliner Übereinkommen, die Besteuerung von Zinserträgen, landwirtschaftliche Verarbeitungserzeugnisse, die Zu- sammenarbeit im Bereich der Statistik, die Betrugsbekämpfung, die Bildung, die Beteili- gung am EU-Programm MEDIA und an der EU-Umweltagentur sowie die Renten bein- halten. Ergänzend verweist das Papier noch auf folgende Abkommen: • 2004 Europol, • 2008 Eurojust, • 2012 Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA), • 2013 Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbsbehörden (2013), Satellitennavigation, • 2014 Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), • 2019 Polizeiliche Zusammenarbeit Prüm (2019). Trotz dieser sehr engen Beziehung mit über 120 Abkommen4, so das Papier abschließend, „gibt es keine gemeinsamen Bestimmungen, die gleiche Ausgangsbedingungen und eine ordnungsgemäße Streitbeilegung gewährleisten. Dies führt nach und nach zu einem Mangel an rechtlicher Homogenität und zu Unsicherheit sowie letztlich zu einer ungleichen Behandlung der Wirtschaftsteilnehmer . Gleiche Ausgangsbedingungen zwischen der EU und der Schweiz mit gemeinsamen Regeln und einem Schiedsgericht stellen die einzige Möglichkeit dar, diese für beide Seiten vorteilhafte Beziehung zwischen der EU und der Schweiz zu schützen und auszubauen.“ 3. Das gescheiterte Rahmenabkommen im Überblick Die Europäische Kommission hat zum Scheitern des Institutionellen Rahmenabkommen (IFA) zwischen der EU und der Schweiz in einer Erklärung vom 26.05.2021 wie folgt festgestellt:5 „Das Institutionelle Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz sollte die Grundlage sein für eine Verbesserung und Weiterentwicklung der künftigen bilateralen 4 A.a.O. 5 Europäische Kommission, Erklärung der Kommission zur Entscheidung des Schweizer Bundesrats die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz abzubrechen, 26.05.2021. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/statement_21_2683. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 6 Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz. Sein Hauptzweck war, sicherzustellen, dass für alle gleiche Bedingungen gelten, die im EU-Binnenmarkt agieren, zu dem auch die Schweiz einen signifikanten Zugang hat. Das ist eine grundsätzliche Frage der Fairness und der Rechtssicherheit. Privilegierter Zugang zum Binnenmarkt setzt voraus, dass alle die gleichen Regeln und Pflichten respektieren. Aus diesem Grund hat die EU bereits 2019 darauf bestanden, dass dieses Rahmenabkommen eine entscheidende Bedeutung auch für denkbare künftige Abkommen mit Schweiz über die weitere Teilnahme am Binnenmarkt haben soll und auch wesentliches Kriterium ist für weitere Entscheidungen und Fortschritte in Richtung eines Marktzugangs, von dem beide Seiten profitieren. Das Rahmenabkommen hätte eine Verstetigung des bilateralen Ansatzes zwischen der EU und der Schweiz ermöglicht und dessen Nachhaltigkeit und Gedeihen sichergestellt. Ohne dieses Rahmenabkommen wird diese Modernisierung der laufenden Beziehungen unmöglich und die bestehenden bilateralen Abkommen werden zwangsläufig veralten: 50 Jahre sind seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens vergangen, 20 Jahre seit dem ersten und zweiten bilateralen Abkommen. Schon heute kann diese Grundlage nicht mehr mit dem Tempo mithalten, in dem sich die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz entwickeln und wie es möglich und wünschenswert wäre.“ Das Factsheet über die EU-Schweizer Beziehungen der Europäischen Kommission listet ergänzend die einzelnen Bestimmungen des gescheiterten institutionellen Rahmenabkommens (IFA) wie folgt auf:6 6 Europäische Kommission, Factsheet über EU-Schweizer Beziehungen, Grundlegende Fakten zum Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz, Mai 2021. https://eeas.europa.eu/sites/default/files/na0221630den-proof_3.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 7 https://eeas.europa.eu/sites/default/files/na0221630den-proof_3.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 8 4. Wirtschaftliche Folgen des Scheiterns in der Diskussion In einem weiteren Factsheet analysiert die Europäische Kommission die Folgen, die sich aus dem Scheitern des Institutionellen Rahmenabkommen (IFA) ergeben. Zusammenfassend kommt das Papier zu folgender Einschätzung:7 „• Im Laufe der Zeit veralten Abkommen: Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Schweiz ist bereits 50 Jahre alt, und die Bilateralen Verträge I und II wurden vor nunmehr 20 Jahren geschlossen. • Ohne das institutionelle Rahmenabkommen werden keine neuen Abkommen mit der Schweiz geschlossen, und die bestehenden Abkommen können nicht mehr aktuali- siert werden. • In Ermangelung einer Modernisierung der bestehenden Abkommen werden die Bezie- hungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union im Laufe der Zeit ge- schwächt.“ Eine dezidierte Analyse der betroffenen Politikbereiche: Freizügigkeit, Handel, Gesundheit, Energiebinnenmarkt und Luftverkehr kann dem folgenden Link entnommen werden: https://eeas.europa.eu/sites/default/files/2021.2537_na0321215dec_002_proof_2.pdf. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten bemerkt, den Bundesrat zitierend , in einer Pressemitteilung vom 26.05.2021 auszugsweise wie folgt:8 „Die Gespräche mit der EU haben in den Bereichen Unionsbürgerrichtlinie (UBRL), Lohnschutz und staatliche Beihilfen nicht zu den für die Schweiz notwendigen Lösungen geführt . Vor allem beim Lohnschutz und bei der Unionsbürgerrichtlinie bestehen weiterhin substanzielle Differenzen (siehe Beilage «Ergebnisse der Gespräche Schweiz-EU zu den Klärungspunkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen»). Die genannten Punkte betreffen wesentliche Interessensbereiche der Schweiz. Ohne die gewünschten Nachbesserungen wäre insbesondere die Schutzwirkung der aktuell geltenden flankierenden Maßnahmen nicht gesichert. Bei einer allfälligen Übernahme der UBRL ins Freizügigkeitsabkommen (FZA) braucht es eine explizite Zusicherung von Ausnahmen . Ohne solche Ausnahmen besteht das Risiko, dass Rechte von freizügigkeitsberechtig- 7 Europäische Kommission, Factsheet: Was geschieht, wenn keine Einigung über das institutionelle Rahmenabkommen erzielt wird?, Mai 2021. https://eeas.europa.eu/sites/default/files/2021.2537_na0321215dec_002_proof_2.pdf. Alle Fettungen im Original . 8 Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, 26.05.2021, Das Institutionelle Abkommen Schweiz-EU wird nicht abgeschlossen. https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/news.html/content /eda/de/meta/news/2021/5/26/83705.html. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 9 ten Personen ausgeweitet werden. Das könnte unter anderem auch Folgen für die Sozialhilfekosten haben. Eine volle Übernahme der UBRL käme einem Paradigmenwechsel bezogen auf die - in Bevölkerung und den Kantonen breit akzeptierten - Zuwanderungspolitik gleich. (…) Mit dem Institutionellen Abkommen sollte der Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt gesichert und dessen Ausbau ermöglicht werden. Das InstA hätte das Verhältnis Schweiz-EU in grundsätzlicher Weise verändert. Im Bereich der Marktzugangsabkommen wäre die dynamische Rechtsübernahme eingeführt worden. Außerdem hätte das Abkommen die Schaffung eines Streitschlichtungsverfahrens mittels eines Schiedsgerichts vorgesehen. Der Europäische Gerichtshof wäre immer dann einbezogen worden, wenn die Auslegung von EU-Recht betroffen gewesen wäre.“ Die Handelskammer Deutschland-Schweiz sieht im Scheitern des Institutionellen Rahmenabkommens einen bedauerlichen Rückschritt in den Beziehungen der Schweiz zur EU und führt wie folgt aus:9 „Die bestehenden bilateralen Verträge Schweiz – EU bleiben zwar in Kraft, doch ob in Zukunft weitere Abkommen möglich sind, ist zumindest mittelfristig mehr als fraglich. Zum anderen droht ein Erodieren der bestehenden bilateralen Abkommen, da in vielen Fällen notwendige Updates nicht mehr erfolgen könnten. Durch eine mangelnde gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen wird die Normenäquivalenz relativ schnell abnehmen . Die Gefahr ist mehr als groß, dass viele ungelöste Dossiers über die Rahmenbedingungen des Marktzugangs, wie zum Beispiel die Aktualisierung der Medizinprodukteverordnung , die Aktualisierung der Maschinenrichtlinie oder die Äquivalenzanerkennung im Datenschutz, der Abschluss eines Stromabkommens und vieles mehr, was zum Teil seit Jahren blockiert ist, in den kommenden Jahren in einem Transformationsstadium hängen bleiben. Für die Unternehmen in der Schweiz, aber auch für jene in der EU, droht der Marktzugang deutlich aufwändiger und teurer zu werden, da Produkte beispielsweise wieder für die jeweiligen Märkte zertifiziert und rechtliche Vertreter eingesetzt werden müssen. Hinzu können auch Störungen in der Lieferkette entstehen, da sich der Export von Produkten aus der EU in die Schweiz nicht mehr lohnen könnte.“ Die Hochrhein-Zeitung zitiert Thomas Conrady, Präsident der IHK Hochrhein-Bodensee, die im Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag (BWIHK) die Sprecherfunktion für die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Schweiz innehat, zur aktuellen Lage wie folgt:10 9 Handelskammer D-CH zum Scheitern des Rahmenabkommens: Bedauerlicher Rückschritt in den Beziehungen der Schweiz zur EU, 26.05.2021. https://www.handelskammer-d-ch.ch/de/newsroom/presse/pressemitteilungen/handelskammer-deutschlandschweiz -zum-scheitern-des-rahmenabkommens-bedauerlicher-rueckschritt-in-den-beziehungen-der-schweizzur -eu. 10 Hochrhein-Zeitung, 28.05.2021, Zum gescheiterten Rahmenabkommen EU-Schweiz. https://www.hochrhein-zeitung.de/themen/handel/17604-zum-gescheiterten-rahmenabkommen-eu-schweiz. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 10 „‘Durch den Abbruch der Verhandlungen ändert sich für unsere Mitgliedsbetriebe, für die die Schweiz ein wichtiger Markt ist, zum Glück erst einmal nichts. Schließlich wurde schon seit 2018 am angestrebten Institutionellen Abkommen ‚InstA‘ verhandelt. Das Verhandlungsbestreben bezieht sich dabei ausschließlich auf die fünf bestehenden bilateralen Marktzugangsabkommen – Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse/MRA und Landwirtschaft – sowie auf zukünftige Marktzugangsabkommen , beispielsweise im Bereich Strom. Das Scheitern ist zwar enttäuschend, aber die aktiven bilateralen Verträge I und II bestehen ja grundsätzlich weiter, solange sie nicht gekündigt werden.‘ Conrady ergänzt: ‚Allerdings gehen wir durch das InstA-Scheitern von Folgen aus, die eher schleichend und langfristig ihre negative Wirkung entfalten. Wir erwarten hier eine ähnliche Entwicklung wie beim BREXIT, indem die einzelnen Normen – für Medizinprodukte , Maschinen, Bauprodukte – langsam auseinanderdriften. Das wird sich mit der Schweiz dann aktuell zuerst im Zusammenhang mit Medizinprodukten in unterschiedlichen Zulassungskriterien zeigen. Damit dürfte es für europäische KMU zu aufwändig werden , für einen vergleichsweise kleinen Markt, extra eine Schweizer Zulassung mit entsprechend hohen Kosten zu erwirken. Beispielsweise träfe dies einen Hersteller für orthopädische Einlegesohlen aus Baden-Württemberg, der zukünftig auch in der Schweiz eine Registrierung benötigen würde. Fortsetzen dürfte sich dies unserer Einschätzung nach in Zukunft auch in anderen Bereichen wie dem Maschinenbau. Deshalb plädieren wir weiter für ein Rahmenabkommen und den Einsatz der politisch Verantwortlichen, doch noch zu einem Abkommen zu gelangen. Die Schweiz wird auch weiter zu den Top-Handelspartnern Baden-Württembergs zählen, weshalb sich dieser Einsatz langfristig auszahlen wird – egal, wie lange es dauert‘.“ Der Schweizer Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences äußert sich im Rahmen eines Dossiers zu den EU/Schweiz-Beziehungen wie folgt:11 „Die chemisch-pharmazeutischen Unternehmen sind mit einem Exportanteil von über 50% die größten Exportindustrien der Schweiz und damit ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Volkswirtschaft und unseres Wohlstandes. Mit einem Anteil von 46.3% an den Gesamtausfuhren und 71.4% an den Importen ist die EU der wichtigste Handelspartner der Industrien Chemie Pharma Life Sciences. Die Bilateralen Abkommen sind eine Voraussetzung für den geregelten Zugang zum EU-Binnenmarkt und damit ein wichtiger Standortfaktor für internationale Unternehmen in der Schweiz. Fälschlicherweise wird oft behauptet , dass die Schweiz sich mit dem bestehenden EU-Freihandelsabkommen begnügen könne und demzufolge auch kein Institutionelles Abkommen (InstA) benötigt werde. Dem ist aber nicht so. Freihandelsabkommen sorgen zwar dafür, dass direkte Handelshemmnisse – wie etwa Zölle – wegfallen. Allerdings sorgt ein solches Abkommen noch nicht dafür , dass Produkte, Dienstleistungen oder auch Personen ohne weiteren Aufwand Zugang 11 Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences, 01.06.2021, Dossiers - Beziehungen zur EU: Wie weiter nach den gescheiterten Verhandlungen über das InstA? https://www.scienceindustries.ch/article/22388/wie-weiter-nach-den-gescheiterten-verhandlungen-ueber-dasinsta . Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 11 zum jeweils anderen Markt haben. Dazu braucht es eine Vereinheitlichung von Regulierungen , was über ein Binnenmarktabkommen wie das InstA möglich ist. Aus Sicht von scienceindustries hätte das ausgehandelte Institutionelle Abkommen den Zugang zum EU-Binnenmarkt und damit die Attraktivität der Schweiz als Wirtschaftsstandort sichern können. Mit dem Abbruch der Verhandlungen wird der praktisch diskriminierungsfreie Zugang zum europäischen Binnenmarkt allerdings in Frage gestellt. Dies kann mittelfristig insbesondere für KMUs ohne Niederlassungen in der EU zur Herausforderung werden. Gleichzeitig gilt es darauf hinzuweisen, dass auch weitere Standortvorteile der Schweiz vom Abbau bedroht sind, beispielsweise im Bereich der Unternehmenssteuern . Sollte die OECD tatsächlich eine Mindestbesteuerung einführen und hätte die Schweiz diese vollumfänglich mitzutragen, ginge nebst dem Verlust des privilegierten EU- Marktzugangs ein weiterer Vorteil verloren. Um den für die Industrie wichtigen bilateralen Weg zu erhalten, den Ausbau des Marktzugangs weiter voranzutreiben und die Erosion der existierenden Marktzugangsabkommen wie auch weiterer Standortvorteile zu verhindern, erachtet scienceindustries umgehende Maßnahmen seitens des Bundesrates als dringend notwendig. Nebst außenwirtschaftlichen Maßnahmen zur Abfederung des erschwerten Marktzugangs zur EU sind insbesondere binnenwirtschaftliche Reformen von Nöten. Auf diese Weise soll sichergestellt werden , dass der Rückgang an Wettbewerbsfähigkeit innenpolitisch aufgefangen werden kann.“ (…) Hinsichtlich der Folgen für die Freizügigkeit im Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr bemerkt der Schweizer Verband ergänzend: „Durch die Konformitätsanerkennung für Pharmaprodukte allein können die Unternehmen Mehrkosten von jährlich 150 bis 300 Millionen Franken vermeiden. In der Corona- Pandemie sorgt diese gegenseitige Anerkennung von Normen beispielsweise dafür, dass die Firma Lonza ihre in der Schweiz produzierten Impfdosen schnell und ohne weitere Prüfungen in die EU exportieren kann. Die Personenfreizügigkeit wiederum ermöglicht eine unbürokratische und rasche Rekrutierung von Fachkräften aus der EU. Eine wissensintensive Industrie ist darauf angewiesen, auch in Zukunft hochqualifizierte Fachleute aus dem Ausland anwerben zu können. Neben der Erosion der bestehenden Marktzugangsabkommen riskiert die Schweiz ohne InstA zudem die Nichterneuerung weiterer Abkommen , wie beispielsweise das für den Forschungsstandort wichtige Forschungsabkommen . Für verschiedene Mitgliedsunternehmen von scienceindustries sind die Programmpunkte von «Horizon Europe» eine sehr relevante Quelle bei der Erarbeitung neuer Technologien , bei der Entwicklung von innovativen Produkten und neuen Anwendungen für bestehende Erzeugnisse. Darüber hinaus sind sie wichtig für den Zugang zu den wissenschaftlichen Netzwerken. Aufgrund der zunehmenden Komplexität der Wissenschaft werden bedeutende Entwicklungen und Innovationen fast immer in Zusammenarbeit von internationalen Netzwerken führender Forschungsinstitute und Unternehmen erarbeitet. Zudem wäre die Schweiz ohne geregelte Beziehungen zur EU vom Abschluss neuer volkswirtschaftlich bedeutender Abkommen ausgeklammert, wie z.B. beim Stromabkommen.“ Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 12 Die WirtschaftsWoche zitiert in einem am 28. Mai 2021 erschienenen Artikel zwei Schweizer Unternehmensvertreter wie folgt:12 „Für die Schweizer Unternehmen war das Scheitern der Verhandlungen abzusehen. ‚Wir haben uns seit Langem auf die Veränderungen vorbereitet‘, sagt Patrick Lehn, Pressesprecher von Sonova, einer auf Hörsysteme spezialisierte international tätige Unternehmensgruppe . Unter anderem gebe es einen Bevollmächtigten im EU-Raum und neu beschriftete Produkte, die in der EU registriert und zertifiziert seien. Damit erfülle Sonova die Anforderungen der EU-Medical-Device-Regulation (MDR). Die Gesetze in der Schweiz sind an die MDR angepasst. Aus dem Grund ist sich der Pressesprecher sicher, dass der Abbruch der Verhandlungen keine wesentlichen Auswirkungen auf das Unternehmen habe und sich weder die Geschäftstätigkeit, noch das Finanzergebnis ändern werde. Sonova liefere bereits mehr als 80 Prozent der Produkte von den Standorten in Asien in die EU, ohne Probleme. Und auch für die Unternehmensgruppe Ems-Chemie-Holding hat das Beenden der Verhandlungen keine Auswirkungen auf die aktuellen Handelsbeziehungen. ‚Unsere über 100 Handelsverträge verbleiben unverändert‘, sagt der Generalsekretär Marc Erensperger. Georges Baur vom Liechtenstein-Institut zeigt die Folgen des gescheiterten EU-Schweizer Rahmenabkommens für Liechtenstein in einem Gastkommentar im Liechtensteiner Volksblatt abschließend wie folgt auf:13 „Die EU-Kommission hatte im Laufe der Verhandlungen, aber auch während der Konsultationsphase , während der sich eine Vielzahl von Schweizer Interessenvertretern zum Entwurf des Institutionellen Abkommens geäußert haben, erklärt, dass ohne Institutionelles Abkommen die bestehenden Bilateralen Abkommen veralten würden. Das heißt, dass ein Nachführen der Bilateralen Abkommen nur noch da infrage kommt, wo es den Interessen der EU entspricht. Es wird also zu einer Erosion der rechtlichen Grundlagen zwischen der EU und der Schweiz kommen. Damit ist der Binnenmarktzugang, dort wo er heute auf Grund gleicher Regeln gewährleistet war, nicht mehr gesichert. Dies hat die EU-Kommission am Mittwoch in einer ersten Reaktion auf den Abbruch der Verhandlungen durch die Schweiz wiederholt. Gleichentags wurde übrigens bereits ein erstes Exempel statuiert: Die erneuerte Medizinproduktegesetzgebung wurde nicht mehr in das bilaterale Recht zwischen der EU und der Schweiz überführt. Damit besteht nun für diesen Bereich kein gleichwertiger Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt mehr. So werden die Schweizer Behörden beispielsweise nicht mehr über gefährliche Komponenten für Brustimplantate oder Hüftprothesen informiert. Damit entsprechen in der Schweiz produzierte Teile möglicherweise nicht 12 WirtschaftsWoche, 28. Mai 2021, Nach jahrelangen Verhandlungen: EU-Schweiz-Abkommen geplatzt: So reagiert die Wirtschaft. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/nach-jahrelangen-verhandlungen-eu-schweiz-abkommen-geplatztso -reagiert-die-wirtschaft/27234526.html. 13 Baur, Georges (2021): Schweiz vs. EU: Die Folgen für Liechtenstein. Gastkommentar. Liechtensteiner Volksblatt, 28. Mai 2021. https://www.liechtenstein-institut.li/application/files/2516/2218/9290/2021_05_28_VB_Gastkommentar_Rahmenabkommen .pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 13 mehr den EU-Sicherheitsstandards und müssen deshalb vor einem Export in den EU-Binnenmarkt neu geprüft werden. Das erhöht die Kosten für die Unternehmen erheblich. Die erwähnte der Erosion des bilateralen Rechts zwischen Schweiz und der EU wird sich wohl auch auf das Verhältnis zwischen Liechtenstein und der Schweiz auswirken. Die Rechtsordnungen werden immer weniger übereinstimmen. Zum Beispiel dürften die Anforderungen an die parallele Verkehrsfähigkeit steigen, wenn das bilaterale Abkommen über technische Handelshemmnisse – wie jetzt im Falle der Medizinprodukte – nicht mehr ergänzt wird, weil dementsprechend schweizerische Produkte nicht mehr unter denselben unbürokratischen Voraussetzungen in die EU exportiert werden können. Dies führt dazu, dass Liechtenstein einer stärkeren Verpflichtung unterliegt, den Export von Waren in die EU, die den EU-Standards nicht genügen, zu kontrollieren. Ein anderes Beispiel ist die für einige Liechtensteiner Unternehmen bedeutsame Lebensmittelgesetzgebung: Das für Liechtenstein gültige Lebensmittelrecht basiert derzeit auf dem Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, welches inhaltlich dem entsprechenden Kapitel des EWR-Abkommens [14] entspricht. Wird das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU nicht mehr erneuert oder gar gekündigt, muss Liechtenstein diesen Regelungsbereich in den EWR- Rahmen bzw. in ein geregeltes Verhältnis zwischen Liechtenstein und der EU überführen. Dies betrifft nicht nur die Bereiche Veterinärwesen und Lebensmittelrecht, sondern auch Teile des Freihandelsabkommens. Als direkte Folge ist wegen zunehmend unterschiedlicher Standards in der Schweiz und im EWR-Raum mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand und einer erhöhten Rechtsunsicherheit zu rechnen. Auch indirekte Nachteile sind für die Liechtensteiner Wirtschaft zu erwarten: Gestützt auf die Regionalunion mit der Schweiz hat Liechtenstein einige Ausnahmen vom EWR-Recht bekommen, zumeist als Ausnahme im Rahmen der Übernahme von EWR-Recht. Hier sind besonders die Bereiche Statistik und Geistiges Eigentum zu nennen. Für den liechtensteinischen Finanzdienstleistungsbereich wichtig ist auch die befristete Ausnahme, die Liechtenstein mit Blick auf den internationalen Zahlungsverkehr gewährt wurde. Wie in den anderen Bereichen geschah dies unter der Annahme, dass auch die Schweiz ein Binnenmarkt -konformes System aufbauen wird. Es besteht deshalb die reelle Möglichkeit, dass die EU aufgrund der Abkoppelung der Schweiz von den gemeinsamen Regeln weniger oft bereit sein wird, Liechtenstein spezifische Ausnahmen mit Verweis auf die Regionalunion Schweiz-Liechtenstein zu gewähren. Die erwähnten Änderungen dürften sich übrigens auch auf die EFTA-Freihandelszone zwischen Liechtenstein, Island, Norwegen und der Schweiz auswirken, weil sich diese nicht mehr weitgehend parallel zu den heutigen bilateralen Abkommen bzw. dem EWR entwickeln wird. Für Liechtenstein drängt es sich also auf, möglichst rasch die Bereiche zu identifizieren, in welchen die Gefahr von Regulierungsunterschieden droht. Sodann sind im Sinne einer «vorausschauenden Rechtsetzung» die nötigen Änderungen vorzubereiten und zum gegebenen Zeitpunkt 14 Im Mai 1992 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) den Vertrag zur Gründung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Da inzwischen fast alle ehemaligen EFTA-Länder der EU beigetreten sind, erstreckt sich das EWR-Abkommen außerhalb der EU nur noch auf Island, Liechtenstein und Norwegen. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/europaeischer-wirtschaftsraum-ewr--616360. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 052/21 Seite 14 in Kraft zu setzen. Dies ist der Regierung sicherlich bewusst, und ich zweifle nicht daran, dass die Landesverwaltung bereits mit Hochdruck daran arbeitet. Schließlich ist noch auf eine ganz andere Folge des Scheiterns des Institutionellen Abkommens hinzuweisen: Es gab Befürchtungen, dass EWR-kritische Kreise in Island und Norwegen das institutionelle Abkommen als Alternative zum EWR sehen könnten, weil es beispielsweise ohne Aufsichtsbehörde und gemeinsamen Gerichtshof auskommt und nicht auf sämtliche Grundfreiheiten Anwendung findet. Diese Überlegungen dürften mit dem Scheitern des Institutionellen Abkommens vom Tisch sein. Das EWR-Abkommen geht aus diesem Vergleich gestärkt hervor. Dies ist vor allem für Liechtenstein eine gute Nachricht, da der EWR für unser Land nach wie vor die beste Lösung darstellt.“ 5. Weitere Quellen Christa Tobler/Jacques Beglinger, Tobler/Beglinger-Brevier zum institutionellen Abkommen Schweiz – EU, Fragen und Antworten, Ausgabe 2021-05.1. http://www.eur-charts.eu/wp-content/uploads/2021/05/Tobler-Beglinger-Brevier-Institutionelles- Abkommen_2021-05.1.pdf. Süddeutsche Zeitung, 26.05.2021, Schwexit: Schweiz lässt Vertrag mit EU platzen. https://www.sueddeutsche.de/politik/schweiz-eu-rahmenabkommen-1.5305067. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.2021, Rahmenabkommen beendet: Die Schweiz sägt an der Brücke nach Europa. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/schweiz-laesst-geplantes-rahmenabkommen-mit-der-euplatzen -17359477.html. Neue Zürcher Zeitung, 27,05.2021, Die EU reagiert auf das Schweizer Nein zum Rahmenvertrag mit einem Schuss vor den Bug. https://www.nzz.ch/wirtschaft/rahmenabkommen-eu-reagiert-auf-das-schweizer-neinld .1627398. Neue Zürcher Zeitung, 05.08.2020, Warum die EU so stark an der Freizügigkeit hängt. https://www.nzz.ch/schweiz/eu-warum-die-freizuegigkeit-so-wichtig-ist-ld.1544083. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)/Prof. Giordano Mion, Dr. Dominic Ponattu, Abschätzung des wirtschaftlichen Nutzens des Binnenmarktes für europäische Länder und Regionen, 2019, 32 S. https://www.bertelsmann-stiftung.de/en/publications/publication/did/estimating-economic-benefits -of-the-single-market-for-european-countries-and-regions. Bertelsmann Stiftung, Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen . Zusammenfassung der Studie. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen /EZ_Zusammenfassung_Binnenmarkt.pdf ***