© 2021 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 042/21 Einzelne Begriffe im Gesetzentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes – Schutz von Versuchstieren Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 2 Einzelne Begriffe im Gesetzentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes – Schutz von Versuchstieren Aktenzeichen: WD 5 - 3000 - 042/21 Abschluss der Arbeit: 27.4.2021 Fachbereich: WD 5: Wirtschaft und Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. „Aus pädagogischer Sicht gerechtfertigt“ 4 3. „Unerlässlich“ 6 4. „Ethisch vertretbar“ 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 4 1. Fragestellung Fragestellung dieses Sachstands ist es, die Bedeutung der Formulierungen „aus pädagogischer Sicht gerechtfertigt“, „unerlässlich“ und „ethisch gerechtfertigt“ in dem Gesetzentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes – Schutz von Versuchstieren1 zu klären. Dabei wurde eine kurze Frist gesetzt. 2. „Aus pädagogischer Sicht gerechtfertigt“ Der Gesetzentwurf sieht in § 8 Abs. 1 Nummer 1 Tierschutzgesetz (TierSchG) folgende Änderung vor: Der derzeit geltende Text lautet: „§ 8 1) Wer Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern durchführen will, bedarf der Genehmigung des Versuchsvorhabens durch die zuständige Behörde. Die Genehmigung eines Versuchsvorhabens ist zu erteilen, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist[2], dass a) die Voraussetzungen des § 7a Absatz 1 und 2 Nummer 1 bis 3 vorliegen, b) das angestrebte Ergebnis trotz Ausschöpfens der zugänglichen Informationsmöglichkeiten nicht hinreichend bekannt ist oder die Überprüfung eines hinreichend bekannten Ergebnisses durch einen Doppel- oder Wiederholungsversuch unerlässlich ist, (…)“.3 Die Worte „wissenschaftlich begründet dargelegt ist“ werden im Gesetzentwurf ersetzt durch die Formulierung „aus wissenschaftlicher oder pädagogischer Sicht gerechtfertigt ist“ (Art 1 Nr. 5 des Gesetzentwurfs). In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/27629 S. 17) wird auf die zugrunde liegende Richtlinie EU 2010/63/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere Bezug genommen. Dort heißt es in Art 38 „Projektbeurteilung“: 1 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes – Schutz von Versuchstieren, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 19/27629 vom 17.3.2021, http://dip21.bundestag .btg/dip21/btd/19/276/1927629.pdf. 2 Fettung durch Verfasserin des Sachstands. 3 https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 5 „(1) Bei der Projektbeurteilung wird mit einer der Art des jeweiligen Projekts angemessenen Detailliertheit vorgegangen und überprüft, ob das Projekt die folgenden Kriterien erfüllt: a) Das Projekt ist aus wissenschaftlicher oder pädagogischer Sicht gerechtfertigt oder gesetzlich vorgeschrieben (…) (2) Die Projektbeurteilung umfasst insbesondere Folgendes: a) eine Beurteilung der Projektziele, des erwarteten wissenschaftlichen Nutzens oder des pädagogischen Werts; (…).“4 Eine eigene Erläuterung dieses Begriffs enthalten weder die Richtlinie noch der Gesetzentwurf. § 7a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des TierSchG in der geltenden Fassung erlaubt Tierversuche zur Aus-, Fortoder Weiterbildung. § 7a Abs. 1 Satz 2 TierSchG konkretisiert, diese Versuche dürften nur vorgenommen werden an einer Hochschule, einer anderen wissenschaftlichen Einrichtung oder einem Krankenhaus oder im Rahmen einer Aus-, Fort- oder Weiterbildung für Heil- oder Heilhilfsberufe oder naturwissenschaftliche Hilfsberufe. Dies korrespondiert mit Art. 5 f der Richtlinie EU 2010/63, wonach „Ausbildung an Hochschulen oder Ausbildung zwecks Erwerb, Erhaltung oder Verbesserung von beruflichen Fähigkeiten“ ein zulässiger Versuchszweck ist. Damit ist die beabsichtigte Neuregelung in den Kontext der Diskussion um Tierversuche unter anderem in den tiermedizinischen oder humanmedizinischen Studiengängen einzuordnen. So finden sich Beispiele für Tierversuche im Rahmen des Studiums auf der Internetseite der Universität Tübingen. Dort heißt es einführend: „Forschendes Lernen ist das Wesen eines Studiums an einer internationalen Forschungsuniversität . Daher sehen wir es als unsere Verpflichtung an, die Studierenden mit allen Methoden vertraut zu machen, die für ihr Fach zum wissenschaftlichen Standard gehören. Dazu gehören in den Lebenswissenschaften Experimente an Zellkulturen genauso wie Computersimulationen oder eben auch der Umgang mit Tierpräparaten. Tierversuche an Wirbeltieren finden im Studium nur sehr eingeschränkt statt. Für Lehrveranstaltungen in den ersten beiden Studienjahren werden keine Tierversuche durchgeführt.“5 Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat in einer kurzen Stellungnahme beispielhaft für solche Tierversuche Blutentnahmen, Injektionen und Implantationen genannt , die in den jeweiligen Aus-, Fort- oder Weiterbildungsordnungen aufgeführt sind. Es führt 4 Richtlinie EU 2010/63/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, Konsolidierte Fassung https://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A02010L0063-20190626, Fettungen durch Verfasser des Sachstands . 5 https://uni-tuebingen.de/forschung/informationen-zu-tierversuchen/einsatz-von-tierversuchen-und-tierpraeparaten -in-der-lehre/ . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 6 aus, bereits nach geltendem Recht seien diese Eingriffe und Behandlungen als Tierversuche einzustufen . Die jetzige Formulierung im Gesetzentwurf diene der Klarstellung und Umsetzung von Art. 38 der Richtlinie.6 3. „Unerlässlich“ Der Gesetzentwurf sieht in Art. 1 Nr. 3a (Änderung von § 7 TierSchG) unter anderem vor, dass die Pflicht zur Beschränkung von Tierversuchen auf das unerlässliche Maß auch die Pflicht zur Verbesserung der Methoden, die in Tierversuchen angewendet werden, beinhaltet. Die Unerlässlichkeit spielt im Rechtsrahmen der Tierversuche eine wesentliche Rolle. Nach § 7a TierSchG in der aktuell geltenden Fassung dürfen Tierversuche nur durchgeführt werden, wenn sie für die in der Norm gelisteten Zwecke unerlässlich sind. § 7 TierSchG in der aktuell geltenden Fassung sieht ferner bei der Art der Durchführung Beschränkungen auf das Unerlässliche vor: „§ 7 (1) Die Vorschriften dieses Abschnitts dienen dem Schutz von Tieren, die zur Verwendung in Tierversuchen bestimmt sind oder deren Gewebe oder Organe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet zu werden. Dazu sind 1.Tierversuche im Hinblick auf a) die den Tieren zuzufügenden Schmerzen, Leiden und Schäden, b) die Zahl der verwendeten Tiere, c) artspezifische Fähigkeit der verwendeten Tiere, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, auf das unerlässliche Maß zu beschränken und 2.die Tiere, die zur Verwendung in Tierversuchen bestimmt sind oder deren Gewebe oder Organe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet zu werden , so zu halten, zu züchten und zu pflegen, dass sie nur in dem Umfang belastet werden, der für die Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken unerlässlich ist.“7 Metzger schreibt, die Unerlässlichkeit des Tierversuchs sei eine der zentralen Erwägungen, sowohl im Hinblick auf das „ob“, als auch auf das „wie“ des Versuchs. Er definiert den Begriff wie folgt: „Ein Tierversuch ist unerlässlich, wenn er nicht verboten, zu dem verfolgten Zweck geeignet und angesichts der Schaden-Nutzen-Betrachtung verhältnismäßig ist, keine anderen Methoden zur Verfügung stehen und der Prüfung nach Prinzip der Vermeidung, Verminderung und Verbesserung standhält.“8 6 E-Mail des BMEL vom 27.4.2021. 7 https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html, Fettungen durch Verfasserin dieses Sachstands . 8 Metzger in: Erbs/Kohlhaas/Metzger, 233. EL Oktober 2020, TierSchG § 7a Rn. 13 und 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 7 Vermeidung, Verminderung und Verbesserung werden dabei als die „3R-Prinzipien“ („Replacement , Reduction, Refinement“) bezeichnet und spielen auch in dem europarechtlichen Rahmen eine wichtige Rolle. Angesichts der kurz bemessenen Bearbeitungsfrist wird an dieser Stelle auf folgende ausführliche Arbeit hingewiesen: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand vom 7. Dezember 2020, Zu Tierversuchen und tierversuchsfreien Alternativmethoden, https://www.bundestag.de/resource /blob/817022/7aacc71cdf8c7a2a69aabe20451699cd/WD-8-087-20_WD-5-131-20_WD- 9-105-20-pdf-data.pdf . 4. „Ethisch vertretbar“ § 7a Abs. 2 Nr. 3 des geltenden TierSchG erlaubt Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern nur, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Metzger schreibt: „Tierversuche, die sich im Übrigen als unerlässlich erwiesen haben, können ethisch unvertretbar sein. Nr. 3 erklärt sich aus dem ethischen Tierschutz, dessen Rechtsgut die sittliche Ordnung[9] in den Beziehungen zwischen Mensch und Tier ist. Damit ist eine Entscheidungspflicht verbunden: Ethisch unvertretbare Tierversuche dürfen nicht hingenommen , sondern müssen unterbunden werden, selbst wenn die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen sie stattfinden sollen, im Übrigen vorliegen.“10 Er beruft sich zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit im Hinblick auf die sittliche Ordnung auf das Urteil aller billig und gerecht Denkenden, das alle in der Gesellschaft vorhandenen rationalen Ansichten berücksichtigt.11 Meist gehe es um einen Konflikt mehrerer an sich zu berücksichtigender Interessen.12 Laut Hirt/Maisack/Moritz wird im Rahmen der ethischen Vertretbarkeit eine Schaden-Nutzen- Abwägung vorgenommen.13 Dazu wird ausgeführt: „Nach Art 38 Abs. 2 RL 2010/3/EU gehört dazu eine ‚Beurteilung der Projektziele, des erwarteten wissenschaftlichen Nutzens oder des pädagogischen Wertes‘ und eine ‚Schaden- Nutzen-Analyse des Projekts, in deren Rahmen bewertet wird, ob die Schäden für die 9 Fettung im Original. 10 Metzger, in: Erbs/Kohlhaas/Metzger, 233. EL Oktober 2020, TierSchG, § 7a Rn. 25. 11 Metzger, in: Erbs/Kohlhaas/Metzger, 233. EL Oktober 2020, TierSchG, § 7a Rn. 25. 12 Metzger, in: Erbs/Kohlhaas/Metzger, 233. EL Oktober 2020, TierSchG, § 7a Rn. 26. 13 Hirt/Maisack/Moritz, 3. Aufl. 2016, TierSchG, § 7a Rn. 90. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 5 - 3000 - 042/21 Seite 8 Tiere in Form von Leiden, Schmerzen und Ängsten unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen durch das erwartete Ergebnis gerechtfertigt sind und letztlich Menschen, Tiere oder der Umwelt zugutekommen können‘ “.14 Die ethische Vertretbarkeit ist nach diesem Verständnis dann gegeben, wenn die Durchführung des Versuchsvorhabens gegenüber seiner Unterlassung als das kleinere Übel gilt, also der Nutzen den Schaden überwiegt.15 In den Empfehlungen der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz e.V. (TVT) zur Planung und Durchführung von Tierversuchen heißt es „§ 7 (3)[16] ist als Appell an den Experimentator zu verstehen, bei der Versuchsplanung sorgsam abzuwägen, ob das angestrebte Forschungsziel die möglichen Belastungen der Tiere ethisch zu rechtfertigen vermag. Die eigene Überzeugung, der zu erwartende Erkenntnisgewinn sei von irgendeinem Wert für den Menschen, reicht allerdings für die ethische Vertretbarkeit allein nicht aus. Vielmehr muß die Güterabwägung ergeben, daß der erwartete Nutzen des Versuchs so bedeutend ist, daß er die möglichen Beeinträchtigungen des Tieres aufzuwiegen vermag. Grundsätzlich gilt: die experimentelle Belastung eines Tieres wiegt um so schwerer, je gravierender sie für das betroffene Tier ist und je unerheblicher oder verzichtbarer das erwartete Ergebnis für den Menschen (oder anderes Leben) ist, bzw. umgekehrt. Das gilt gleichermaßen für die angewandte Forschung wie für die Grundlagenforschung, ohne die praxisorientierte Studien nicht möglich wären.“ 17 Die Internetseite „Tierversuche verstehen - Eine Informationsinitiative der Wissenschaft“ bietet weitere Informationen auf ihrer Seite „Tierversuche und Ethik“.18 *** 14 Hirt/Maisack/Moritz, 3. Aufl. 2016, TierSchG, § 7a Rn. 90. 15 Hirt/Maisack/Moritz, 3. Aufl. 2016, TierSchG, § 7a Rn. 90. 16 In der 2004 gültigen Fassung des Tierschutzgesetzes, auf die sich die Empfehlung bezieht, hieß § 7 Abs. 3 noch: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren , die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, daß sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ 17 Merkblatt Nr. 76, Mai 2004, zu finden auf der Seite https://www.tierschutz-tvt.de/index.php?id=50 . Fettungen durch Verfasser des Sachstands. 18 https://www.tierversuche-verstehen.de/tierversuche-und-ethik/ .