© 2017 Deutscher Bundestag WD 5 - 3000 - 019/17 Auswirkungen von lohnlastigem Wettbewerb auf die Volkswirtschaft Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 2 Auswirkungen von lohnlastigem Wettbewerb auf die Volkswirtschaft Aktenzeichen: WD 5 - 3000 - 019/17 Abschluss der Arbeit: 27.04.2017 Fachbereich: WD 5 Wirtschaft und Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Wirtschaftstheoretische Erklärungsansätze 4 3. Europäische Lohnpolitik 6 4. Länderanalysen zur Lohnentwicklung 9 5. Weitere Quellen 10 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 4 1. Einleitung Die nachfolgende Arbeit setzt sich mit den unterschiedlichen Bewertungen des lohnlastigen Wettbewerbs auseinander und geht dabei auf die verschiedenen wirtschaftstheoretischen Ansätze ein (2.). Zudem enthält sie Ausführungen zur europäischen Lohnpolitik (3.), Länderanalysen zur Lohnentwicklung (4.) sowie weiterführende Quellen zur Thematik (5.). 2. Wirtschaftstheoretische Erklärungsansätze Torsten Müller führt zur Lohnentwicklung innerhalb der EU vor dem Hintergrund der zwei maßgeblichen Wirtschaftstheoriekonzepte wie folgt aus1: „Aus Sicht der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie ist für die Mehrzahl der Krisenländer der EU eine negative Lohnentwicklung ein notwendiger Anpassungsprozess zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Bekämpfung der Schuldenkrise. Aus einer nachfrageorientierten Perspektive ist die derzeitige EU-Lohnentwicklung das Ergebnis eines austeritätsbedingten Lohnsenkungswettbewerbs, der den privaten Konsum reduziert, deflationäre Tendenzen beschleunigt und insgesamt die ökonomische Stagnation in Europa befördert .“ Im Vorfeld des Beschlusses zur Bildung einer Europäischen Währungsunion hat sich Angela Schürfeld mit der Thematik eines Lohnsenkungswettbewerbs innerhalb der Europäischen Währungsunion und den unterschiedlichen Sichtweisen in Bezug auf diese Strategie in einem im WIRTSCHAFTSDIENST erschienenen Beitrag wie folgt auseinandergesetzt2: „Unter der These eines Lohnsenkungswettbewerbs in der Europäischen Währungsunion wird die Auffassung vertreten, dass durch Lohnzurückhaltung im eigenen Lande Wettbewerbsvorteile auf Gütermärkten erreicht werden dieses jedoch zu Lasten anderer Länder. Dabei wird unter einer Lohnsenkung verstanden, dass die Lohnentwicklung unterhalb des Produktivitätsfortschritts liegt. Bleibt der Arbeitseinsatz im Unternehmen nach einer solchen Lohnsenkung zunächst konstant , würden die Lohnstückkosten sinken. Als Konsequenz ergäben sich niedrigere Produktionskosten für die inländischen Anbieter, welche zu sinkenden Preisen für inländische Produkte und - bei gegebenen nominalen Wechselkursen - damit zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit führen würden. Besteht ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht, so wird sich vor allem durch die Ausweitung der Exportproduktion schließlich auch ein positiver Beschäftigungseffekt ergeben . Aus Sicht des Inlandes wäre diese Strategie vorteilhaft. Wegen der sinkenden Preise würden sich die Reallöhne mit zeitlicher Verzögerung zwar wieder auf dem anfänglichen Niveau einpendeln , zwischenzeitlich könnten jedoch neue Arbeitsplätze geschaffen werden und neue Marktan- 1 Torsten Müller, EU-Reformpolitik drückt auf die Lohnentwicklung, in: blog.arbeit-wirtschaft.at, 12. August 2013. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/eu-reformpolitik-druckt-lohnentwicklung-w-ww/ (letzter Abruf: 26.04.2017) 2 Schürfeld, Angela, Droht ein Lohnsenkungswettbewerb in der Europäischen Währungsunion?, in: WIRT- SCHAFTSDIENST 1998/IX. https://www.econstor.eu/bitstream/10419/44390/1/261252119.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 5 teile gewonnen werden. Damit ergäben sich für das Inland positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte . Nun wird konstatiert, dass dieser positive Allokationseffekt im Inland nur zu Lasten des Auslandes entstehen könne. Die gewonnenen Marktanteile und die neuen Arbeitsplätze würden an anderer Stelle - nämlich im Ausland - wegfallen. Es käme somit durch die inländische Lohnpolitik zu einem Export von Arbeitslosigkeit und kontraktiven Wirkungen auf die Wachstumsmöglichkeiten in anderen Ländern. Dabei sind die Auswirkungen für die anderen Länder umso stärker, je größer die wirtschaftliche Bedeutung des lohnsenkenden Landes ist. Vertreter der These des Lohnsenkungswettbewerbs erkennen hier den Tatbestand einer „beggar-my-neighbour -policy". Folglich erwarten sie, dass das Ausland nun mit Retorsionsmaßnahmen reagiert und ebenfalls eine Lohnsenkung vornimmt. Dabei werden die positiven Effekte dieser Lohnstrategie diesmal im Ausland anfallen, während das Inland aufgrund internationaler Handelsumlenkung wiederum Arbeitsplätze und Marktanteile verliert. Als Resultat der mehrstufigen Handlungen beider Länder ergäbe sich ein Lohnsenkungswettbewerb, der zu einem ineffizienten Gleichgewicht mit niedrigeren Löhnen und letztlich unveränderter Beschäftigung führen würde. Insgesamt würde kein Land gewinnen, sondern alle Beteiligten wären aufgrund sinkender Löhne ärmer geworden. Demnach läge ein Gefangenendilemma vor: Aus Sicht des einzelnen Landes wäre es von Vorteil, Lohnsenkungen vorzunehmen. Beide Länder würden sich jedoch besser stellen, wenn sie eine koordinierte Lohnstrategie verfolgen würden. Deshalb wird die Notwendigkeit für einekoordinierte Lohnpolitik, die sich an festgelegten Lohnleitlinien zur Überwindung dieses Dilemmas orientiert, abgeleitet. Zudem wird als Konsequenz des Lohnsenkungswettbewerbs das Szenario eines allgemeinen Rückgangs des Preisniveaus im gesamten Währungsraum entworfen. Es wird die Gefahr gesehen, dass durch absolut sinkende Lohnstückkosten deflationäre Tendenzen hervorgerufen würden, die einer monetären Destabilisierung in der Währungsunion gleichkämen. Als Folge der Deflation ergäben sich negative Beschäftigungs- und Wachstumseffekte im gesamten Euroland. Auch aus diesem Grund wird von einer unkoordinierten Lohnpolitik abgeraten, vor allem, wenn diese eine Lohnzurückhaltung unterhalb des Produktivitätsfortschritts vorsieht. Insgesamt wird die Strategie der nationalen Lohnsenkung als wohlfahrtsschädlich für die Länder der Europäischen Union verstanden. Vertreter dieser These negieren einen positiven realen Effekt auf Beschäftigung und Wachstum im gesamten Euroland und erwarten einen negativen monetären Effekt, der letztlich auch schädliche Wirkungen auf reale Größen haben wird.“ Ein maßgeblicher Faktor bei volkswirtschaftlichen Vergleichen zur Wettbewerbsfähigkeit von Staaten sind die Lohnstückkosten. Daher wird ergänzend auf die Definition dieses Begriffs hingewiesen . So heißt es in einer Veröffentlichung des DIW dazu3: „Lohnstückkosten setzen angefallene Lohnkosten ins Verhältnis zu einer bestimmten Leistungseinheit (beispielsweise Produkte oder Dienstleistungen). Dabei werden die gesamten Lohnkosten durch die Anzahl der erstellen Einheiten dividiert. Lohnstückkosten werden oft als Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes oder Unternehmens verwendet. Niedrigere Lohnstückkosten gehen dabei einher mit einer höheren Wettbewerbsfähigkeit. Unterschieden wird zwischen Lohnstückkosten als volkswirtschaftlichen oder als betriebswirtschaftlichen Indikator. Dienen Lohnstückkosten als volkswirtschaftlicher Indikator für die Wett- 3 DIW, Lohnstückkosten. https://www.diw.de/de/diw_01.c.412821.de/presse/diw_glossar/lohnstueckkosten.html (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 6 bewerbsfähigkeit, wird die Summe der Arbeitskosten einer Volkswirtschaft durch das Bruttoinlandsprodukt dividiert. Zur Ermittlung der Lohnstückkosten im betriebswirtschaftlichen Sinne werden die im Betrieb anfallenden Lohnkosten eines Zeitraums durch die Anzahl der im selben Zeitraum erstellten Einheiten dividiert. Die Lohnstückkosten hängen von der Produktivität sowie von der Höhe der Löhne ab. Steigende Produktivität führt zu sinkenden Lohnstückkosten. Gleiches gilt für sinkende Löhne. Abnehmende Produktivität führt hingegen genauso wie steigende Löhne zu höheren Lohnstückkosten. Die Verwendung von Lohnstückkosten als Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft oder eines Betriebes wird aber auch kritisiert. So ist es beispielsweise möglich, durch eine kapitalintensivere Produktion (Arbeit wird durch Kapital ersetzt) die Lohnstückkosten zu senken. Ein solches Vorgehen führt aber nicht zwangsläufig auch zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit .“ 3. Europäische Lohnpolitik Guy Van Gyes/Thorsten Schulten/Torsten Müller bemerken einleitend in ihren Ausführungen zur Lohnpolitik unter europäischer »Economic Governance«4: „Im März 2011 wurde von den Regierungen der damals 17 Mitgliedstaaten der Eurozone der sogenannte Euro-Plus-Pakt beschlossen. In diesem Pakt wird die Eurokrise vor allem als Wettbewerbskrise interpretiert und die Rolle der Lohnpolitik zur Überwindung vermeintlicher Wettbewerbsschwächen hervorgehoben. Gefordert wird u.a. eine (nominale) Lohnentwicklung, die sich in Übereinstimmung mit der (realen) Produktivitätsentwicklung befindet und dabei die Preisentwicklung vollkommen außer Acht lässt. Auch wenn der Pakt formell die Autonomie der Mitgliedstaaten respektiert, soll sich jedes Land verpflichten, die Entwicklung seiner Tarifvertragssysteme dahingehend zu überprüfen, ob sie den Unternehmen eine genügend große Lohnflexibilität einräumen . Außerdem soll der Tarifpolitik im öffentlichen Dienst eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, da von dieser oft eine Signalwirkung für die gesamte Lohnentwicklung ausgeht . Während der EU-Vertrag Kompetenzen der europäischen Institutionen im Bereich der Lohnpolitik explizit ausschließt, wird mit dem Euro-Plus-Pakt jedoch eine Grundlage gelegt, in deren Folge auch lohn- und tarifpolitische Fragen in das Europäische Semester mit aufgenommen werden . Des Weiteren wurden im Oktober 2011 vom Europäischen Rat mit dem »Sixpack« eine Reihe weiterer Verordnungen erlassen, die u.a. die Möglichkeit geschaffen haben, Länder, die dauerhaft makroökonomische Ungleichgewichte aufweisen, mit Sanktionen zu belegen. Parallel zum Europäischen Semester wurde mit dem »Verfahren zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte« ein weiterer Koordinierungsmechanismus etabliert. Hierbei wurden eine Reihe von Vorgaben hinsichtlich verschiedener makroökonomischer Kennziffern (u.a. die Entwicklung der Lohnstückkosten) entwickelt, die die einzelnen Mitgliedstaaten einhalten sollen. Schließlich wurde mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus die Möglichkeit geschaffen, dass Ländern, die in diesem Rahmen Kredite beziehen, wirtschaftspolitische Reformprogramme 4 Torsten Müller/Thorsten Schulten/Guy Van Gyes, Lohnpolitik unter europäischer »Economic Governance, Alternative Strategien für inklusives Wachstum, 2016.. http://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-Mueller-Guyes-Schulten-Lohnpolitik-Europa.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 7 aufoktroyiert werden können. Die betroffenen Länder sind gezwungen, sich in »Memorandums of Understanding« mit der »Troika« (bestehend aus EZB, Europäischer Kommission und IWF) zu entsprechenden Maßnahmen zu verpflichten. Deren Einhaltung wird dann von der Troika überprüft , die bei Verstößen gegebenenfalls mit Nichtzahlung weiterer Kredite droht. Mit der neuen europäischen Economic Governance deutet sich ein grundlegender Paradigmenwechsel in der europäischen Lohnpolitik an. Während die Lohnfindung bislang als eine autonome Angelegenheit der nationalen Tarifvertragsparteien angesehen wurde und die EU höchstens indirekt Einfluss auf die nationale Lohnentwicklung genommen hat, kommt es nun zur Herausbildung eines neuen lohnpolitischen Interventionismus, bei dem die europäische Ebene mehr oder weniger verbindliche Vorgaben für die nationale Lohnpolitik macht (Schulten/Müller 2014)5. Mittlerweile wurde eine Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer mit europäischen Vorgaben zur aktuellen Lohnentwicklung und/oder Entwicklung der Tarifvertragssysteme konfrontiert (Tabelle 1). Diese sind entweder als länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters formuliert worden oder bilden verbindliche Vorgaben der Troika gegenüber den Staaten, die sich unter dem »Rettungsschirm« des Europäischen Stabilitätsmechanismus befinden. Die Grundlage dieser Politik besteht in der Überzeugung, dass die ungleiche Entwicklung der Löhne und Arbeitskosten einer der Hauptgründe für die massiven wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa seien. “ 5 Thorsten Schulten/Torsten Müller, Entgelte und Tarifpolitik in Zeiten der europäischen Wirtschaftskrise Entwicklungen in der europäischen Fertigungsindustrie, in: industriAll, European Trade Union, Bericht 2014. http://www.industriall-europe.eu/committees/cb/2014/IndustrViennaInclCover-DE.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 8 Bereits in der im Jahre 2014 erschienenen Studie „Entgelte und Tarifpolitik in Zeiten der europäischen Wirtschaftskrise, Entwicklungen in der europäischen Fertigungsindustrie“ kommen Schulten und Müller zu folgender Einschätzung6: „Die Krise hatte in vielerlei Hinsicht enorme Auswirkungen auf Tarifverhandlungen in Europa. Einerseits beschleunigte sie die langfristige Tendenz des Rückgangs der Fertigungsindustrie, was zu einem weiteren signifikanten Beschäftigungsrückgang führte. Eng damit verbunden ist die weitere Schwächung der Tarifverhandlungsmacht vieler europäischer Gewerkschaften durch die Wirtschaftskrise, die oft nicht in der Lage waren, Kürzungen der Reallöhne zu verhindern. Es gab aber auch von Land zu Land enorme Unterschiede in der Krisenbewältigungsstrategie. Viele der Länder, die sich relativ gut geschlagen haben, hatten eine starke Tradition der Tarifverhandlungen , mit umfassenden Flächentarifvertragsstrukturen und einer vergleichsweise hohen Tarifbindung . In diesen Ländern waren die Gewerkschaften oft in der Lage, innovative Vereinbarungen über (vorübergehende) Arbeitszeitkürzungen abzuschließen, um die Verluste von Arbeitsplätzen zu beschränken. Darüber hinaus waren Länder mit umfassenderen Tarifvertragssystemen weniger von zyklischen Schwankungen betroffen und konnten stattdessen oft eine stabilere Lohnentwicklung erreichen, die zumindest das Reallohnniveau sicherte und somit als ökonomischer Stabilisator fungierte. Obwohl es sich gezeigt hat, dass starke Tarifverhandlungsstrukturen dazu beitrugen, die negativen sozialen Folgen der Krise zu beschränken und die wirtschaftlichen Entwicklungen in vielen Ländern zu stabilisieren, wurden andere Länder – vor allem in Südeuropa – mit einer radikalen Umwälzung ihrer Tarifvertragssysteme konfrontiert, die zu einem Abbau von Flächentarifvertragsstrukturen und zu einem starken Rückgang der Tarifbindung führte. In diesen Ländern wurde die Entwicklung stark durch die Institutionen und Entscheidungsträger der EU und die Troika beeinflusst. Als Teil des neuen Systems der europäischen economic governance, die nach dem Beginn der Krise entwickelt wurde, um eine engere und verbindlichere wirtschaftspolitische Koordination zu garantieren, entstand im Bereich der Lohnpolitik ein neuer „europäischer Interventionismus “. Durch den Einsatz neuer politischer Instrumente, wie dem „Europäische Semester “, dem „Verfahren zur Vermeidung von makroökonomischen Ungleichgewicht“ oder dem sogenannten „Memorandum of Understanding“ für Länder, die Finanzhilfe brauchen, beeinflusst die EU nicht nur aktuelle Lohnentwicklungen mehr oder weniger direkt, sondern auch die weitreichende Umgestaltung von Tarifvertragssystemen. Zur Senkung der Arbeitskosten und zur Erhöhung nach unten gerichteter Flexibilität von Löhnen auf Unternehmensebene zielen die durch die EU geförderten sogenannten „strukturellen Reformen“ unverhohlen auf die Schwächung von Tarifverhandlungen im Allgemeinen und der Gewerkschaften im Besonderen ab. Diese Reformen umfassen auch offene Verstöße gegen europäische und internationale Arbeitsnormen, was durch offizielle Aussagen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Europarates bestätigt wurde. Da die EU-Politik einen eher eng gefassten für alle Länder einheitlichen Ansatz verfolgt, ist es schon deutlich geworden, dass die aktuellen neoliberalen Reformmaßnahmen, die in Südeuropa durchgeführt wurden, früher oder später auch in anderen europäischen Ländern verfolgt werden könnten. Um diesem neuen europäischen Interventionismus im Bereich der Lohnpolitik entgegenzuwirken , reicht es für europäische Gewerkschaften offensichtlich nicht aus, nur ihre nationale Tarifverhandlungsautonomie zu verteidigen. Darüber hinaus liegt eine der zentralen Herausforderun- 6 Siehe Fußnote 5 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 9 gen für europäische Gewerkschaften darin, ihre autonome Koordinierung der Tarifverhandlungen auf europäischer Ebene zu intensivieren. Dies umfasst auch die Unterstützung eines alternativen Konzepts einer europäischen „solidarischen“ Lohnpolitik, das auf starken Tarifverhandlungsinstitutionen und gerechten Lohnentwicklungen basiert, um eine nachhaltigere wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.“ Wie Tarifverträge umgangen werden können, schildert exemplarisch für den europäischen Luftverkehr ein ZEIT ONLINE-Artikel zum Thema Pilotenausbildung7, der auch auf eine Studie8 zur Branche verweist. 4. Länderanalysen zur Lohnentwicklung Alexander Herzog-Stein, Camille Logeay, Ulrike Stein, Rudolf Zwiener haben in einer im Jahre 2016 erschienenen Analyse der Hans-Böckler-Stiftung die Arbeits- und Lohnstückkostenentwicklung des Jahres 2015 im europäischen Vergleich dokumentiert und konstatieren zur Beziehung Arbeitskosten/Wettbewerbsfähigkeit (Anlage 1)9: „Die Höhe der Arbeitskosten ist für sich genommen kein geeigneter Indikator, um die preisliche Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft angemessen zu beurteilen. Vielmehr muss dafür zusätzlich noch die Arbeitsproduktivität berücksichtigt werden. Diese gibt an, welche Menge mit einem bestimmten Arbeitseinsatz produziert werden kann. So kann beispielsweise ein starker Produktivitätsanstieg die Zuwächse der Arbeitskosten neutralisieren oder sogar überkompensieren . Das Produktivitätswachstum ist in Deutschland vergleichsweise hoch. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit sollte auf Basis der Lohnstückkosten, dem Verhältnis von Arbeitskosten zu Arbeitsproduktivität , und nicht anhand der Arbeitskosten allein beurteilt werden. Wettbewerbsfähigkeit kann allerdings immer nur ein relatives Konzept sein. Es geht letztlich darum, wie sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum gegenüber anderen Volkswirtschaften verändert.“ Germany Trade & Invest (GTAI) hat aktuelle Analysen zu Lohn- und Lohnnebenkosten Deutschlands der Schweiz, Österreichs, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande sowie der skandinavischen Staaten erstellt: 7 ZEIT ONLINE, Pilotenausbildung: Die Lufthansa lässt Pilotenträume platzen, 5. April 2017. http://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2017-03/pilotenausbildung-lufthansa-flugpersonal-billigfliegerkonkurrenz (letzter Abruf: 26.04.2017) 8 Peter Wilke/Katrin Schmid/Stefanie Gröning, Branchenanalyse Luftverkehr, Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitsbedingungen, Hans Böckler Stiftung, Study Nr. 326 Mai 2016. https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_326.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) 9 Alexander Herzog-Stein/Camille Logeay/Ulrike Stein/Rudolf Zwiener, Deutsche Arbeitskosten auf Stabilitätskurs , Arbeits- und Lohnstückkostenentwicklung 2015 im europäischen Vergleich, IMK Report 116, Juli 2016. http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_116_2016.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 10 GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten Deutschlands (Anlage 2) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten-deutschland,did=1458384.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten Schweiz (Anlage 3) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten-schweiz,did=1492182.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Österreich (Anlage 4) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--oesterreich,did=1485912.html#Allgemeines-zum-Arbeitsmarkt - (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Frankreich (Anlage 5) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--frankreich,did=1472612.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Belgien (Anlage 6) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--belgien,did=1470282.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Niederlande (Anlage 7) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--niederlande,did=1544304.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Dänemark (Anlage 8) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--daenemark,did=1427822.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Schweden (Anlage 9) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--schweden,did=1438864.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Norwegen (Anlage 10) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--norwegen,did=1282592.html (letzter Abruf: 26.04.2017) GTAI, 2016, Lohn- und Lohnnebenkosten – Finnland (Anlage 11) https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Geschaeftspraxis/lohn-und-lohnnebenkosten ,t=lohn-und-lohnnebenkosten--finnland,did=1461888.html (letzter Abruf: 26.04.2017) 5. Weitere Quellen Süddeutsche.de, Wirtschaftswachstum in Deutschland. Das deutsche Wirtschaftswachstum täuscht, 12. April 2017. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftswachstum-in-deutschland-das-deutsche-wirtschaftswachstum -taeuscht-1.3462021 (letzter Abruf: 26.04.2017) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 5 - 3000 - 019/17 Seite 11 Deutsche Bundesbank, Perspektiven der deutschen Wirtschaft – Gesamt-wirtschaftliche Vorausschätzungen für die Jahre 2016 und 2017 mit einem Ausblick auf das Jahr 2018, Monatsbericht Juni 2016 https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Monatsberichtsaufsaetze /2016/2016_06_perspektiven.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf: 26.04.2017) Max-Planck-Institut, „Der Euro überfordert die Lohnpolitik systematisch.“ - Interview mit Martin Höpner über die Aussichten einer transnationalen Lohnkoordination in Europa, in AmosInternational 9/1 (2015) http://www.mpifg.de/aktuelles/forschung/standpunkt/hoepner_interview.asp (letzter Abruf: 26.04.2017) Vera Glassner, Lohnpolitik ohne Grenzen, 8. Juli 2016. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/lohnpolitik-ohne-grenzen/ (letzter Abruf: 26.04.2017) Volker Rieble/ Sebastian Kolbe, Vom sozialen Dialog zum europäischen Kollektivvertrag?, in: EuZA Bd. 1 (2008), S. 453-481. http://www.zaar.uni-muenchen.de/pub/vr2008-2.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) Hans-Böckler-Stiftung, In Westeuropa zwischen 8,79 und 11,27 Euro. Gesetzliche Mindestlöhne in der EU: Nominal und real kräftige Zuwächse, in: Pressemitteilung v. 28. Februar 2017. https://www.boeckler.de/106575_107525.htm (letzter Abruf: 26.04.2017) ZEIT ONLINE, Fratzschers Verteilungsfragen / Investitionen: Der deutsche Sparirrsinn. Eine Kolumne von Marcel Fratzscher, 17. Februar 2017. http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-02/investitionen-exportueberschuesse-unternehmen-banken (letzter Abruf: 26.04.2017) Philipp Engler, Mathias Klein, Austeritätspolitik hat in Spanien, Portugal und Italien die Krise verschärft, DIW Wochenbericht Nr. 8/2017. http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.553135.de/17-8-1.pdf (letzter Abruf: 26.04.2017) ***