Deutscher Bundestag Zulässigkeit eines kommunalen Hebesatzrechtes für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 4 – 3000 - 292/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 2 Zulässigkeit eines kommunalen Hebesatzrechtes für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer Verfasser: Aktenzeichen: WD 4 – 3000 - 292/10 Abschluss der Arbeit: 22. November 2010 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Definition Hebesatz 4 3. Derzeitige Rechtslage 4 4. Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe 5 4.1. Art. 106 Abs. 5 GG 5 4.2. Prinzip der Bestimmtheit von Steuergesetzen 6 4.3. Art. 3 Abs. 1 GG 6 4.4. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 8 4.5. Rückwirkungsverbot 8 4.6. Sonstige Voraussetzungen 9 4.7. Formelle Zulässigkeit 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 4 1. Vorbemerkung Nach einer gemeinsamen Erklärung des Bundesfinanzministeriums und der kommunalen Spitzenverbände soll im Rahmen der Gemeindefinanzkommission erörtert werden, den Kommunen die Möglichkeit einzuräumen, den kommunalen Anteil an der Einkommensteuer von 15 % innerhalb einer Bandbreite durch kommunale Entscheidungen selbst zu verändern1. Der Bundesminister der Finanzen habe auf die hierin liegende Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung sowie auf die damit verbundene zukunftsgerichtete Sicherung der kommunalen Einnahmebasis hingewiesen . Presseangaben zufolge solle dies durch eine Zweiteilung der Einkommensteuer erreicht werden. Der Spitzensteuersatz solle zunächst von 42 % auf 35,7 % und der Eingangssteuersatz von 14 auf 11,9 % gesenkt werden2. Hinzu käme der Anteil der Kommunen, den diese selbst bestimmen können. Im Ergebnis könne dies theoretisch dazu führen, dass der Spitzensteuersatz in einer Kommune bei 37 % und in einer anderen Gemeinde bei 45 % liege3. Ein konkreter Gesetzesentwurf zu diesem Vorhaben existiert indes nicht. Eine verfassungsrechtliche Prüfung erscheint daher sehr schwierig, da es dabei insbesondere auf die konkrete Ausgestaltung eines Gesetzesvorhabens ankommt. Insofern können hier nur allgemeine verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Prüfung von Steuergesetzen und – soweit vorhanden – in der Literatur diskutierte verfassungsrechtliche Probleme zum Hebesatzrecht der Gemeinden hinsichtlich der Einkommensteuer angesprochen werden. 2. Definition Hebesatz Im Steuerrecht spielen Hebesätze bislang bei der Gewerbesteuer und der Grundsteuer eine Rolle. Dabei ist der Hebesatz ein von der Gemeindevertretung jährlich festzusetzender Prozentsatz. Die Multiplikation dieses Prozentsatz mit den vom Finanzamt festgestellten Steuermessbeträgen ergibt die Steuerschuld des Steuerpflichtigen4. 3. Derzeitige Rechtslage Die Gemeinden erhalten einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer, der von den Ländern an ihre Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten ist (Art. 106 Abs. 5 Satz 1 Grundgesetz). Die nähere Ausgestaltung zur Verteilung des kommunalen Einkommensteueranteils ist im Gemeindefinanzreformgesetz (GFRG) geregelt. 1 vgl. Pressemitteilung des BMF vom 04.11.2010, Nr. 44/2010, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/nn_54/DE/Presse/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2010/11/20101104-PM-Gemeinsame-Erklaerung .html. 2 vgl. Süddeutsche Zeitung vom 05.11.2010, „Schäuble plant kommunale Einkommensteuer“, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/geld/systemwechsel-in-der-finanzpolitik-schaeuble-plant-kommunale-einkommensteuer -1.1019773. 3 vgl. Spiegel-Online vom 05.11.2010, „Schäuble plant Steuerrevolution“, abrufbar unter: http://www.spiegel .de/wirtschaft/soziales/0,1518,727373,00.html. 4 vgl. Birk, Steuerrecht, 12. Auflage, Rn. 1423. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 5 Nach § 1 Satz 1 GFRG beträgt der Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer für die Gemeinden 15 %. 4. Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe Steuergesetze müssen wie andere Gesetze auch mit dem Grundgesetz vereinbar sein. 4.1. Art. 106 Abs. 5 GG Hinsichtlich der Einführung eines kommunalen Hebesatzrechtes auf die Einkommensteuer sind insbesondere die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes zu prüfen. Art. 106 Abs. 5 GG regelt in diesem Zusammenhang den gemeindlichen Anteil am Ertrag der Einkommensteuer . Art. 106 Abs. 5 GG lautet: „Die Gemeinden erhalten einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer, der von den Ländern an ihre Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten ist. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Es kann bestimmen, dass die Gemeinden Hebesätze für den Gemeindeanteil festsetzen.“ Demnach sieht das Grundgesetz in Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG ein entsprechendes Hebesatzrecht der Gemeinden in Form einer „Kannbestimmung“ bereits vor5. Nach der Gesetzesbegründung zu Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG bedeutet das Hebesatzrecht, dass die Gemeinden das Recht erhalten, den Tarif für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer ihrer Einwohner in gesetzlichen Grenzen nach oben oder unten zu verändern6. Die Einkommensteuer könne insoweit für Rechnung der jeweiligen Gemeinde geändert werden. Dabei ist die Formulierung des Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG irreführend7. Ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf den Gemeindeanteil nach Art. 106 Abs. 5 Satz 1 GG kann entgegen dem Wortlaut jedenfalls nicht gemeint sein. Zur Ausgestaltung der Hebesatz-Ermächtigung der Gemeinden enthält Art. 106 Abs. 5 GG keine weiteren Vorgaben8. 5 vgl. Heintzen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl. 2003, Art. 106, Rn. 47, wonach die Ermächtigung bisher noch nicht genutzt worden sei und im Interesse der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und wegen mit ihm verbundener steuer- und verwaltungstechnischer Schwierigkeiten voraussichtlich nicht genutzt werde, vgl. auch Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, S. 206f. 6 vgl. BT-Drs. V/2861 Tz. 338. 7 Hidien, in: Bonner Kommentar zum GG, Lieferung November 2002, Art. 106, Rn. 1045. 8 Hidien, a.a.O., Rn 1046, danach entstehen bei einer Ermächtigung der Gemeinden zur Festsetzung gemeindlicher Einkommensteuer-Hebesätze zwei getrennte Einkommensteuermassen: (1) das Einkommensteuer-Gemein- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 6 Somit ist zunächst festzuhalten, dass die Einführung eines Hebesatzrechtes der Gemeinden für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar und zulässig ist. 4.2. Prinzip der Bestimmtheit von Steuergesetzen Der Steuertatbestand muss dem Bestimmtheitsgebot genügen, was bedeutet, dass er nach dem Inhalt , Gegenstand, Zweck und Ausmaß bestimmt sein muss, so dass die Steuerlast messbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar wird9. Dies rührt her aus dem Rechtstaatsprinzip innewohnenden Vertrauensschutzprinzip, wonach Eingriffe für den Steuerbürger aus dem zugrundeliegenden Gesetz genau erkennbar sein müssen; er muss sich auf die Belastungen einstellen können, die auf ihn zukommen10. Die konkrete Ausgestaltung der aktuell diskutierten Steuerrechtsänderung ist nicht bekannt. Indes dürften die in der Presse erwähnten Tarifabsenkungen bei der Einkommensteuer grundsätzlich eher unproblematisch sein. 4.3. Art. 3 Abs. 1 GG Der allgemeine Gleichheitssatz ist die Fundamentalnorm staatlicher Verteilungsgerechtigkeit und gebietet die konsequente Gleichbehandlung des (wesentlich) Gleichen und die Ungleichbehandlung des (wesentlich) Ungleichen durch Bildung und Anwendung gerechter Vergleichsmaßstäbe 11. Dabei fordert der Gleichheitssatz sowohl Rechtssetzungsgleichheit als auch Rechtsanwendungsgleichheit . Gleichheit im Steuerrecht bedeutet vor allem unterschiedliche Belastung je nach individueller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit; Fundamentalprinzip der Steuergerechtigkeit ist also das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, welches besondere Relevanz bei der Besteuerung von Einkommen entfaltet. So müsse die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Steuerbelastung niedrigerer Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen (sog. vertikale Steuergerechtigkeit). Gleich leistungsfähige Steuerpflichtige müssen auch gleich hoch besteuert werden (sog. horizontale Steuergerechtigkeit)12. Die Steuergerechtigkeit wird hauptsächlich also aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet, was der Bedeutung des Gleichheitssatzes als einer grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellung des schaftsaufkommen, das nach Art. 106 Abs. 3 S. 2 GG Bund und Ländern je zur Hälfte zusteht; (2) das Einkommensteuer -Gemeindeaufkommen, das nach kommunalen Hebesätzen erhoben wird und den Gemeinden zusteht . 9 BVerfGE 13, 153 (160). Siehe allgemein zum Bestimmtheitsgrundsatz im Steuerrecht Papier, Der Bestimmtheitsgrundsatz , in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Band 12, Seite 61 ff. 10 Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 175. 11 Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 186. 12 vgl. BVerfG, 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86, BVerfGE 82, 60 (89). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 7 GG entspricht13. Der Gesetzgeber bzw. der Steuergesetzgeber ist an den Gleichheitssatz gebunden und muss diesen bei der Ausgestaltung der Steuern berücksichtigen. Die in der Presse erwähnte Absenkung der Steuersätze bei der Einkommensteuer stößt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG auf keine Bedenken. Hingegen könnte fraglich sein, ob aufgrund der Einführung eines kommunalen Hebesatzrechtes ein möglicherweise starkes Auseinanderfallen der Spitzensteuersätze zwischen den Gemeinden mit dem Steuergerechtigkeitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Zunächst ist festzuhalten, dass die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Hebesatzrechtes nach Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG auch unterschiedliche Spitzensteuersätze zwischen den Gemeinden impliziert bzw. ermöglicht. Nach der Gesetzesbegründung zu Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG könnten die Gemeinden den Tarif für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer ihrer Einwohner in gesetzlichen Grenzen nach oben oder unten verändern14. Was unter der Formulierung „in gesetzlichen Grenzen“ zu verstehen ist, wird in der Gesetzesbegründung nicht näher ausgeführt. Denkbar ist aber, dass der Gesetzgeber den Spielraum hinsichtlich der Höhe der kommunalen Hebesätze von vornherein beschränken möchte15. In diesem Zusammenhang wird allgemein zur Ausgestaltung von kommunalen Hebesatzrechten diskutiert, dass die Steuergerechtigkeit dadurch verletzt werden könnte, wenn die kommunalen Hebesätze die Tarifprogression veränderten16. Eine Beeinträchtigung wäre darin zu sehen, dass die Gemeinden von jenem Tarif abweichen würden, den der Steuergesetzgeber hinsichtlich der vertikalen Lastenverteilung für gerecht erachtet und beschlossen habe. Als Lösung wird für dieses Problem genannt, dass der Gesetzgeber vorab darüber befinden müsse, in welchem Umfang die Gemeinden Einfluss auf die Tarifprogression nehmen dürfen. Ferner könnten Progressionsverschärfungen eintreten, wenn das Hebesatzrecht bei einem progressiven Tarif am Steuersatz selbst oder am Steuerbetrag anknüpfe17. Eine solche Verschärfung der Progression könne durch eine Begrenzung des Hebesatzrechtes und durch eine Absenkung der Steuersätze über den gesamten Tarifverlauf hinweg eingedämmt werden. 13 Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 4, Rn. 70. 14 vgl. BT-Drs. V/2861 Tz. 338. 15 zur Statthaftigkeit einer Begrenzung des Hebesatzrechtes durch den Bundesgesetzgeber vgl. Hidien, a.a.O., Art. 106, Rn. 1049. 16 vgl. insbesondere zu steuer- und finanzpolitischen Überlegungen hinsichtlich der Ausgestaltung eines Hebesatzrechtes der Gemeinden Schemmel, Kommunale Steuerautonomie und Gewerbesteuerabbau, Karl-Bräuer- Institut des Bundes der Steuerzahler e.V., 2002, S. 74, 78f. 17 vgl. Schemmel, a.a.O., S. 79. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 8 Die in der Presse dargestellten Eckpunkte des derzeit diskutierten Vorschlags weisen auf eine Begrenzung des Hebesatzrechtes und eine Absenkung des Steuersätze der Einkommensteuer hin. 4.4. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Das Rechtstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG begründet verfassungsrechtlich das Übermaßverbot bzw. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt für jede staatliche Maßnahme, somit auch für Steuerrechtsänderungen. Die Maßnahmen des Gesetzgebers, die in die geschützte Sphäre des Bürgers greifen, müssen mit dem gewählten Mittel und dem angestrebten Zweck in einem vernünftigen Verhältnis stehen18. Diese Rationalität der Zweck-Mittel- Relation wird durch die Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit konkretisiert . Zudem darf die Einführung einer Steuer nicht dem Willkürverbot zuwider laufen. Im Hinblick auf die Geeignetheit darf keine staatliche Maßnahme ergriffen werden, mit denen der angestrebte Zweck nicht erreicht werden kann. Bei der Erforderlichkeit besteht die Verpflichtung , von mehreren geeigneten Maßnahmen diejenige zu ergreifen, die den Betroffenen am geringsten belastet. Bei der Gestaltung des Hebesatzrechtes ist auch das Übermaßverbot zu beachten19. Da die Ausgestaltung des Hebesatzrechtes noch nicht bekannt ist, erübrigen sich Ausführungen dazu. Eine Tarifabsenkung bei der Einkommensteuer ist für sich genommen hinsichtlich des Übermaßverbotes aber unproblematisch. 4.5. Rückwirkungsverbot Ausfluss des Rechtstaatsprinzips ist der Vertrauensschutz. Hieraus wird abgeleitet, dass grundsätzlich gesetzgeberische Maßnahmen ausgeschlossen sind, die eine echte Rückwirkung haben20. Bei der grundsätzlich unzulässigen echten Rückwirkung greift das nachträgliche Gesetz mit belastenden Änderungen in abgewickelte Tatbestände der Vergangenheit ein. Eine Ausnahme, wonach das BVerfG echte Rückwirkung zulässt, ist etwa bei zwingenden Gründen des Allgemeinwohls oder bei nicht mehr vorhandenem schutzwürdigen Vertrauen des Einzelnen gegeben21. In der Regel zulässig ist hingegen die sog. unechte Rückwirkung, wenn also eine belastende Einwirkung auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte gegeben ist. Eine unechte Rückwirkung von Steuergesetzen ist dann unzulässig, wenn eine Güter- und Interessenabwägung ergeben würde, dass das Vertrauen des Bürgers auf die Fortgeltung der bestehenden Gesetzeslage 18 Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 4, Rn. 209 ff. 19 vgl. Schemmel, a.a.O., S. 201. 20 Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 176 ff. 21 Vgl. hierzu Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 4, Rn. 173, der einen Katalog von vier Ausnahmen aufstellt . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 9 den Vorrang vor dem mit der Änderung beabsichtigten Ziel des Gesetzgebers genießt22. Die Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung ist vom konkreten Einzelfall abhängig. Mangels konkreter Ausgestaltung der Steuerrechtsänderung kann an dieser Stelle keine weitere Prüfung erfolgen. 4.6. Sonstige Voraussetzungen Weiterhin zu beachten ist das Gebot der Berücksichtigung des steuerlichen Existenzminimums, welches sich aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ableitet. Hat also der Staat dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein durch Sozialleistungen zu sichern, wäre es systemfremd, dem Bürger durch Besteuerung zu nehmen, was ihm als Sozialhilfe zurückgewährt werden müsste. Daraus folgt, dass dem Steuerpflichtigen das, was er für seine Existenzsicherung benötigt, nicht wegbesteuert werden darf23. Soweit die steuerlichen Freibeträge durch die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht berührt werden , ergeben sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Zu beachten ist außerdem das Verbot der Erdrosselungssteuer. Bei steuerlichen Eingriffen mit erdrosselnder Wirkung würde der Betroffene übermäßig belastet, so dass Art. 14 Abs. 1 GG bzw. Art. 12 Abs. 1 GG verletzt sein könnte24. Für das Hebesatzrecht der Gemeinden lässt sich aus Art. 14 GG keine Begrenzung ableiten25. Nach einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stelle der Halbteilungsgrundsatz keine Obergrenze für die Belastung mit Einkommen- und Gewerbesteuer auf26. Neben diesen vielfältigen materiellen Voraussetzungen sind natürlich auch die Anforderungen an das formelle Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen. 4.7. Formelle Zulässigkeit Im Rahmen der formelle Zulässigkeit ist zunächst nach der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das oben skizzierten Gesetzesvorhaben zu fragen. Nach Art. 105 Abs. 2 GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung unter anderem dann, wenn ihm das Aufkommen der Steuer ganz oder zum Teil zufließt. Vorliegend geht es um das Aufkommen der Einkommensteuer, welches 22 Vgl. hierzu BVerfGE 30, 250 (268); 30, 392 (404); 75, 246 (280). 23 Birk, Steuerrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 197 mwN. 24 Siehe zur Erdrosselungssteuer BVerfGE 87, 153 (169). 25 vgl. auch Schemmel, a.a.O., S. 80f. 26 vgl. BVerfG vom 18.01.2006, 2 BvR 2194/99, Rn 41; vgl. auch Heinz-Jürgen Pezzer: Der Halbteilungsgrundsatz ist tot, und nun?, DB 2006, 912; Rainer Wernsmann: Die Steuer als Eigentumsbeeinträchtigung, NJW 2006, 1169. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 292/10 Seite 10 dem Bund zur Hälfte zufließt (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG). Somit hat der Bund auch die Gesetzgebungskompetenz . Das Gesetzesvorhaben bedarf ferner der Zustimmung des Bundesrates. Denn Art. 105 Abs. 3 GG bestimmt, dass Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Gemeinden ganz oder zum Teil zufließen, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Im Fall der Einkommensteuer sind diese Voraussetzungen erfüllt (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG).