Deutscher Bundestag Fragen zur Rückwirkung von Steuergesetzen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 4 – 3000 – 280/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 2 Fragen zur Rückwirkung von Steuergesetzen Verfasser: Aktenzeichen: WD 4 – 3000 – 280/12 Abschluss der Arbeit: 14. Dezember 2012 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Rückwirkungsverbot 4 1.1. Echte Rückwirkung 4 1.2. Unechte Rückwirkung 5 1.3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Abgrenzung im Einkommensteuerrecht 5 1.4. Beispiele echte / unechte Rückwirkung 6 2. Art. 2 Nr. 13 und Nr. 35 lit. j) in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2013 8 2.1. Sachverhalt 8 2.2. Beurteilung der Rückwirkung 8 3. Auswirkungen der Unterdeckung des Existenzminimums 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 4 1. Rückwirkungsverbot Das Rückwirkungsverbot ist im Grundgesetz (GG) nur im Hinblick auf die Rückwirkung von strafbegründenden und strafschärfenden Gesetzen in Art. 103 Abs. 2 GG geregelt; diese Regelung ist jedoch nicht analogiefähig.1 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) leitet ein prinzipielles Verbot rückwirkender Gesetze aus dem rechtsstaatlichen Rechtssicherheitsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit den jeweiligen betroffenen Grundrecht ab; dieses Prinzip findet auch auf Steuergesetze Anwendung.2 Das Rückwirkungsverbot greift grundsätzlich dann ein, wenn es um die zeitliche Rückwirkung von belastenden Gesetzen geht.3 Ein Gesetz ist dann belastend, wenn es die Rechtsposition des Normadressaten verschlechtert.4 Eine solche Verschlechterung kann auch dann gegeben sein, wenn eine Vergünstigung aufgehoben oder verkürzt wird.5 In diesem Zusammenhang wurde zunächst zwischen der echten (retroaktiven) und der unechten (retrospektiven) Rückwirkung unterschieden.6 Seit einer Entscheidung des 2. Senats des BVerfG aus dem Jahre 1983 wird auch eine sachliche Abgrenzung angeregt; danach wird die echte Rückwirkung auch als „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“ und die unechte Rückwirkung als „tatbestandliche Rückanknüpfung“ verstanden.7 1.1. Echte Rückwirkung Von der echten Rückwirkung spricht man, wenn ein Gesetz nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. Diese Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig .8 Ausnahmen können im Einzelfall jedoch durch schwerwiegende und besondere Gründe trotz des an sich schutzwürdigen Vertrauens des Einzelnen zulässig sein. Solche Ausnahmen werden angenommen, wenn kein Vertrauenstatbestand gegeben war, bestehendes Vertrauen 1 Maurer, Staatsrecht I, 6. Auflage München 2010, § 17, Rn. 111. 2 Grundlegend: BVerfGE 13, 261, 271; 45, 142, 167; Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Auflage Köln 2010, § 4, Rn. 170. 3 BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2011, 986, 987. 4 Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Auflage Köln 2010, § 4, Rn. 171. 5 BVerfGE 30, 367, 386; 38, 61, 83. 6 BVerfGE 11, 138, 145 f. 7 BVerfGE 63, 343, 353; vgl. auch 72, 200, 242; zu den terminologischen Unterschieden und eventuellen rechtlichen Auswirkungen im Einzelnen: Maurer, § 17, Rn. 105 ff. 8 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 66. Ergänzungslieferung 2012, Art. 20 GG, Rn. 80, mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 5 nicht schutzwürdig war oder dem schutzwürdigen Vertrauen überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen.9 Im Einzelnen lässt das BVerfG eine echte Rückwirkung zu, wenn - zwingende Gründe des Allgemeinwohls dies rechtfertigen, - das geltende Recht unklar und verworren ist, - der Bürger sich auf den von einer ungültigen Norm ausgehenden Rechtsschein verlassen darf oder - kein schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen mehr gegeben ist.10 1.2. Unechte Rückwirkung Die unechte Rückwirkung ist dann zu thematisieren, wenn durch ein Gesetz eine Einwirkung auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte vorliegt. Diese unechte Rückwirkung wurde bis zuletzt von der Rechtsprechung als grundsätzlich zulässig erachtet.11 Hinsichtlich von Steuergesetzen wurde die Rechtsprechung in einem Beschluss vom BVerfG vom 10. Oktober 2012 dahingehend modifiziert, dass unechte Rückwirkungen nicht grundsätzlich unzulässig seien, jedoch dem Fall der echten Rückwirkung derart nahe stünden, dass sie besonderen Anforderungen im Hinblick auf Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit genügen müssten.12 Allerdings ist auch hier im Einzelfall eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anzulegen.13 1.3. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Abgrenzung im Einkommensteuerrecht Die Abgrenzung der echten und der unechten Rückwirkung ist vom Einzelfall abhängig und kann problematisch sein. Im Steuerrecht muss zur Abgrenzung der echten und unechten Rückwirkung berücksichtigt werden, in welchem Veranlagungszeitraum die Regelung verkündet wird und für welchen Veranlagungszeitraum sie gelten soll. Das liegt daran, dass periodische Steuern wie die Einkommensteuer mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstehen14; im Falle der Einkommensteuer endet der Veranlagungszeitraum gemäß der §§ 25 Abs. 1, 36 Abs. 1 EStG mit Ende des Kalenderjahres . Greift also eine Regelung aus einem Veranlagungszeitraum in einen früheren Veranlagungszeitraum ein, liegt eine echte Rückwirkung vor; greift sie demgegenüber in den gleichen Veranlagungszeitraum ein, spricht man von einer unechten Rückwirkung.15 9 Maurer, aaO, § 17, Rn. 118. 10 BVerfGE 13, 261, Rn. 52 ff. 11 BVerfGE 109, 133, 186 f.; 11, 139, 146. 12 BVerfG, Beschluss v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, in: Deutsches Steuerrecht (DStR) 2012, 2322 ff, vgl. auch die Ausführungen in diesem Beitrag unten, Punkt 1.4.; mit Verweis auf die drei Beschlüsse des BVerfG v. 07.07.2010, zusammengefasst von: Musil/Lammers. Betriebs-Berater (BB) 2011, 155 ff. 13 Maurer, aaO, § 17, Rn. 122 f. 14 BVerfGE 72, 200, 250 ff. Grzeszick, in: Maunz-Dürig, Art. 20 GG, Rn. 80. 15 Birk, Steuerrecht, 14. Auflage München 2011, Rn. 179. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 6 1.4. Beispiele echte / unechte Rückwirkung Das BVerfG hat in einem Beschluss vom 07. Juli 2010 die Unzulässigkeit einer unechten Rückwirkung festgestellt. In diesem Fall ging es um die faktischen Gewinnpositionen aus Grundstücksspekulationen . Nach altem Recht betrug die Spekulationsfrist für Grundstücke 2 Jahre; nach diesem Zeitraum konnte ein Veräußerungsgewinn aus Wertzuwachs dem eigenen Vermögen einverleibt werden, ohne Einkommensteuer auf den entsprechenden Zuwachs abführen zu müssen . Die Gesetzesänderung zum 31. März 1999 sah eine Verlängerung der Spekulationsfrist auf 10 Jahre vor. Dabei sollten auch bis dahin realisierte oder noch zu realisierende Wertzuwächse der neuen Spekulationsfrist unterfallen. Das BVerfG führte aus, dass das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf die nach altem Recht erlangte Vermögensposition die mit der Gesetzesänderung verfolgten Interessen überwiege.16 Einen Fall der zulässigen unechten Rückwirkung hat der Bundesfinanzhof (BFH) in einem Urteil vom 26. Januar 2011 angenommen.17 In diesem Fall hatte der Kläger am 25. August 1997 seine Anteile an einer GmbH für DM 16,4 Millionen mit notariellem Vertrag veräußert. Die Veräußerungsmodalitäten wurden schon im Juni in einem sogenannten „Memorandum of Understanding “ (MOU) festgehalten. Am 4. August 1997 wurde durch den Vermittlungsausschuss ein Beschluss gefasst, welcher den § 34 Abs. 1 EStG in der damaligen Fassung rückwirkend zum 01. August 1997 ändern sollte. Die Änderung lautete dahingehend, dass der für den Veranlagungszeitraum 1997 geltende Höchstbetrag für den ermäßigten Steuersatz von DM 30 Millionen auf DM 15 Millionen herabgesetzt wurde. Dieses Gesetz wurde am 31. Oktober 1997 verkündet.18 Der BFH argumentierte, dass der maßgebliche Zeitpunkt für den Schutz des Vertrauens die Einbringung in den Bundestag sei; im Falle eines Beschlusses des Vermittlungsausschusses sei dieser mit der Einbringung in den Bundestag gleichzusetzen.19 Der Kläger konnte sich im Streitfall nicht auf das MOU beziehen, da dieses noch keine rechtlichen Wirkungen hervorgerufen hatte.20 Überdies hat das BVerfG in dem angesprochenen Beschluss vom 10. Oktober 201221 zumindest teilweise einen Fall der zulässigen unechten Rückwirkung angenommen. Im Streitfall ging es darum , dass der Vermittlungsausschuss in der Beschlussempfehlung vom 11. Dezember 2001 für den Veranlagungszeitraum 2001 eine Regelung vorsah, welche dem Gewinn aus Gewerbebetrieb die nach Einkommen- oder Körperschaftsteuerrecht außer Acht gelassenen Dividenden und gleichgestellten Bezüge und Leistungen aus Streubesitzbeteiligungen wieder hinzurechnete.22 Diese Regelung sollte für den Erhebungszeitraum seit dem 01. Januar 2001 in Kraft treten. Das 16 BVerfGE 127, 1, Rn. 65 ff. 17 BFH, Urteil vom 26. 1. 2011 – IX R 81/06, in: Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (DStRE), 615 ff. 18 Zusammenfassend: Mommen, Rückwirkung von Steuergesetzen, Betriebs-Berater (BB) 2011, 2781, 2786. 19 BFH, DStRE 2011. 615, 616. 20 BFH, DStRE 2011, 615, 617. 21 BVerfG, DStR 2012, 2322, 2322 ff. 22 BVerfG, DStR 2012, 2322, 2327. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 7 BVerfG kam zu dem Schluss, dass diese Regelung insoweit zulässig sei, als sie bis zu dem Zeitpunkt der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 zurückwirke . Ab diesem Zeitpunkt sei das Vertrauen des Steuerpflichtigen nicht mehr auf den zukünftigen Fortbestand der aktuellen Gesetzeslage geschützt, da eine erhebliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass die Bemühungen des Vermittlungsausschusses sich im späteren Ergebnis der Gesetzgebung niederschlügen.23 Das BVerfG sieht allerdings in der Rückwirkung auf den Zeitraum vor dem 11. Dezember 2011 eine unzulässige unechte Rückwirkung. Das BVerfG hat diese Rückwirkung anhand der aufgezeigten Kriterien gemessen und kam zu dem Schluss, dass das Vertrauen des Steuerpflichtigen den Sinn und Zweck der vom Gesetzgeber verfolgten Regelung überwiege.24 Einen Fall der Unzulässigkeit der echten Rückwirkung kann man laut Birk25 beispielsweise dann annehmen, wenn Sonderabschreibungen für Schiffe für alle Investitionen ab dem 01. Januar 2001 abgeschafft würden, um gewisse Abschreibungsmechanismen zu vermeiden. Habe der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen allerdings in einem vorangegangen Veranlagungszeitraum eine Verschonungssubvention für einen längeren Zeitraum angeboten, die nur in dem abgelaufenen Veranlagungszeitraum angenommen werden konnte, und hat der Steuerpflichtige diese angenommen , so sei dies nur aus dem Grunde geschehen, dass der Steuerpflichtige sich auf den steuerlichen Anreiz verlassen habe. Rechtfertigungsgründe, die das Vertrauen des Steuerpflichtigen entfallen lassen, seien nicht ersichtlich.26 Einen Fall der zulässigen echten Rückwirkung hat der 1. Senat des BVerfG am 23. Januar 1990 entschieden. In dieser Entscheidung ging es um die Rückwirkung einer Regelung, die die steuerrechtliche Abzugsfähigkeit von Kartellstrafen ausschloss. In diesem Fall wurde die bis dahin gängige Rechtsprechung, solche Strafen seien nicht abzugsfähig, durch das BVerfG in Frage gestellt; in der Folge wurde das Thema dem Gesetzgeber zur Regelung überlassen. Dieser erließ im Weiteren ein Gesetz, welches im Einklang mit der ursprünglichen Rechtsprechung die Abzugsfähigkeit von Kartellstrafen verneinte. Die Rückwirkung dieses Gesetzes auf schon abgeschlossene Tatbestände wurde damit gerechtfertigt, dass lediglich eine Rechtslage kodifiziert wurde, welche der ehemals gängigen Rechtsprechung entsprach. Insoweit sei das Vertrauen des Steuerpflichtigen nicht geschützt gewesen.27 23 BVerfG, DStR 2012, 2322, 2329. 24 BVerfG, DStR 2012, 2322, 2330 f. 25 Birk, aaO, Rn. 171. 26 Birk, aaO, Rn. 171, 182; mit der Anmerkung, dass diese Konstellation abgewandelt sei zum Originalfall des BVerfG, in: BVerfGE 97, 67. 27 BVerfGE 81, 228, Rn. 8, 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 8 2. Art. 2 Nr. 13 und Nr. 35 lit. j) in der Fassung des Jahressteuergesetzes 201328 2.1. Sachverhalt Die in der Überschrift aufgeführten Beschlussvorschläge des 7. Ausschusses sollen den § 32b Abs. 2 S. 1 Nr. 2 S. 2 EStG ändern. § 32b EStG regelt den sogenannten Progressionsvorbehalt. § 32b Abs. 1 und Abs. 1a EStG führen zunächst freigestellte oder nicht der Besteuerung unterliegende Einkünfte auf. Bleiben bei der Besteuerung diese Einkünfte außer Ansatz, führt dies nicht nur zu einem Steuerausfall hinsichtlich dieser Einkünfte, sondern möglicherweise auch zu einem niedrigeren Steuersatz in Bezug auf die übrigen, steuerpflichtigen Einkünfte. Als Beispiel kann in dieser Hinsicht der Fall angeführt werden, in dem der Arbeitnehmer durch steuerfreie Lohnersatzmaßnahmen und zeitweise bezogenen Arbeitslohn Bezüge anhäufen könnte, welche über dem Nettolohn bei durchgehender Beschäftigung lägen. § 32b Abs. 2 EStG sieht deswegen vor, dass auf das zu versteuernde Einkommen ein Durchschnittssteuersatz zu berechnen ist, der sich ergäbe, wenn die steuerfreien Einkünfte einbezogen würden.29 Die Änderung soll durch die Einführung eines Buchstaben c) in § 32b Abs. 2 S. 1 Nr. 2 S. 2 EStG erfolgen, der besagt, dass: „bei [der]30 Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 [EStG] die Anschaffungs- und Herstellungs- kosten für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens im Zeitpunkt des Zuflusses des Veräus- serungserlöses oder bei Entnahme im Zeitpunkt der Entnahme als Betriebsausgaben zu berücksichtigen [sind]. § 4 Abs. 3 S. 5 [EStG] gilt entsprechend.“ Im Weiteren soll in § 52 Abs. 43a EStG die Regelung eingeführt werden, dass die angeführte Änderung erstmals auf Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens anzuwenden sei, die nach dem Tag des Gesetzesbeschlusses des Deutschen Bundestags angeschafft, hergestellt oder in das Betriebsvermögen eingelegt werden. 2.2. Beurteilung der Rückwirkung Diese Gesetzesänderung hat zumindest auch belastenden Charakter, so dass die Grundsätze des Rückwirkungsverbots Anwendung finden. Im Bericht des Finanzausschusses zu Art. 2 Nr. 13 heißt es nämlich, dass die Einführung des § 32b Abs. 2 S. 1 Nr. 2 S. 2 EStG der Verwirklichung des mit dem Progressionsvorbehalt verfolgten Ziels der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit diene.31 Insbesondere will man also erreichen, dass Progressionseinkünfte, die 28 BT-Beschluss v. 25.10.2012, BT-Drucks. 17/11190. 29 Wagner, in: Blümich, Kommentar zum EStG, KStG, GewStG, 116. Auflage 2012, § 32b EStG, Rn. 15; Birk, Rn. 645. 30 In [] gesetzte Wörter sind den Sinn wahrende oder erläuternde Einschübe des Bearbeiters. 31 Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) v. 25.10.2012, BT-Drucks. 17/11220, S. 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 9 nicht berücksichtigungsfähig sind, wenn der Steuerpflichtige ohnehin schon unter den Spitzensteuersatz fällt, künftig besteuert werden können.32 In Realiter werden die Anschaffungs- und Herstellungskosten nicht zum sofortigen Betriebsausgabenabzug zugelassen, so dass der Steuerpflichtige nicht von einer Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit profitieren kann.33 Mithin schafft diese Neuregelung eine ungünstigere Rechtslage und ist somit belastend. Eine echte Rückwirkung ist vorliegend denkbar, wenn das Jahressteuergesetz 2013 im Jahre 2013 verkündet wird. Da § 52 Abs. 43a EStG (neue Fassung) auf den Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses rekurriert, wird durch das Jahressteuergesetz 2013 in einen bereits abgeschlossenen Tatbestand eingegriffen. Das Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wird so geartet sein, dass selbst im Falle der echten Rückwirkung kein schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen mehr gegeben ist. Das BVerfG geht zwar davon aus, dass der Steuerpflichtige auf eine dem geltenden Recht entspringende Rechtsposition vertrauen können muss.34 Jedoch ist der maßgebliche Zeitpunkt für den Wegfall des Vertrauensschutzes derjenige des endgültigen Gesetzesbeschlusses der neuen Regelung.35 Der Gesetzgeber bedürfe zur Verwirklichung der Gemeinwohlinteressen eines gewissen Gestaltungsspielraums , welcher dem Einzelnen nicht die Möglichkeit eröffnen solle, die angekündigten Neuregelungen durch kurzfristige Ausnutzung der alten Gesetzeslage zu unterlaufen.36 Deswegen dürfe er auch den Anwendungsbereich der Norm auf einen Zeitraum von dem Gesetzesbeschluss an bis hin zu Verkündung erstrecken.37 3. Auswirkungen der Unterdeckung des Existenzminimums Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Bundesregierung in ihrem „Bericht über die Höhe des einkommensteuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2014“ (Neunter Existenzminimumbericht) festgestellt hat, dass sich das steuerfrei zu stellende Existenzminimum eines Erwachsenen im Jahre 2013 auf € 8124,- belaufen müsse.38 § 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des EStG weist in seiner geltenden Fassung allerdings nur einen Grundfreibetrag 32 Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) v. 25.10.2012, BT-Drucks. 17/11220, S. 36. 33 Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) v. 25.10.2012, BT-Drucks. 17/11220, S. 36. 34 BVerfGE 127, 1, Rn. 66. 35 Zuletzt BVerfGE 97, 67, 79 f. 36 BVerfGE 97, 67, Rn. 50 f. 37 BVerfG, DStR 2012, 2322, 2328. 38 Bundesregierung, 9. Existenzminimumbericht v. 07.12.2012, BT-Drucks. 17/11425, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 10 von € 8004,- aus. Da eine Neuregelung des § 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG bisher nicht verabschiedet worden ist, besteht eine Unterdeckung des Existenzminimums für den Veranlagungszeitraum 2013.39 Das Existenzminimum als Ausprägung des Art. 1 GG iVm mit dem Sozialstaatprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG und dem darin verankerten verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass das Einkommen des Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei bleiben muss, soweit es zur Schaffung eines menschenwürdigen Daseins geboten ist40, muss grundsätzlich durch den Gesetzgeber beachtet werden. Eine Missachtung diese Grundsatzes wurde in der Vergangenheit als verfassungswidrig erklärt.41 Eine zwingende Erhöhung des einkommensteuerrechtlichen Grundfreibetrags in § 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG aufgrund einer faktischen Endgültigkeit im Hinblick auf das Lohnsteuerabzugsverfahren ist hingegen nicht ersichtlich. Die Lohnsteuer als Quellensteuer entsteht nicht am Ende des Kalenderjahres, sondern bereits mit Ausbezahlung des Arbeitslohns.42 Ob gerade eine gegebenenfalls faktische Endgültigkeit wegen des Lohnsteuerabzugsverfahrens zu einer zwingenden Erhöhung des Grundfreibetrags zum 01. Januar 2013 führt, kann dahinstehen. Jedenfalls kann der Berechtigte – ähnlich wie im Zuge des Steuervereinfachungsgesetzes 2011, welches am 01. Januar 2012 in Kraft trat, aber schon eine Anhebung des Arbeitnehmer-Pauschbetrags für das Jahr 2011 durch einen Erhöhungsbeitrag im Dezember 2011 regelte – im Rahmen seiner Lohn- und Gehaltsabrechnung mit weniger Lohnabzug begünstigt werden.43 Eine Änderung des § 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG im Laufe des Veranlagungszeitraums 2013 ist durchaus denkbar. Wie eingangs erörtert ist das Rückwirkungsverbot als Ausfluss des Vertrauensschutzes einschlägig, wenn eine belastende gesetzliche Regelung rückwirkend in Kraft tritt. Die nachträgliche Veränderung des einkommensteuerrechtlichen Grundfreibetrag gewährt dem Steuerpflichtigen allerdings ein „Mehr“ an nicht versteuerungspflichtigem Einkommen. Eine entsprechende Neuregelung wirkt demnach begünstigend und eröffnet dem Steuerpflichtigen eine nachträgliche Besserstellung. Somit greift der Grundsatz des Vertrauensschutzes per se nicht mehr ein.44 39 Es sei darauf hingewiesen, dass man sich laut der Zeitschrift Der Spiegel im Vermittlungsausschuss darauf geeinigt habe, den Grundfreibetrag zu erhöhen. Unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/vermittlungsausschuss -koalition-scheitert-mit-steuersenkung-a-872622.html, aufgerufen am 13.12.2012. 40 BVerfG NJW 1990, 2869, 2871; NJW 1992, 3153; 1999, 561, 562. 41 Vgl. BVerfG DStR 1992, 1539, 1542; im Übrigen so auch die Bundesregierung, 9. Existenzminimumbericht, S. 7: „Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer Anhebung des Grundfreibetrags ab 2013 wird hiermit bestätigt .“ 42 Lang, in: Tipke/Lang, § 9, Rn. 903 f.; zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass die Quellensteuer keine eigene Steuerart, sondern eine spezielle Form der Einkommensteuererhebung ist: Birk, Steuerrecht, 14. Auflage München 2011, Rn. 652. 43 Vgl. Deutscher Bundestag, Aktueller Begriff der Wissenschaftlichen Dienste, Steuervereinfachungsgesetz 2011, S. 1, unter: http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2011/Steuervereinfachungsgesetz_2011korrektur .pdf, aufgerufen am 14.12.2012. 44 BVerfGE 50, 177, 193; 94, 241, 255 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 – 280/12 Seite 11