Deutscher Bundestag TARGET2-Salden Definition, Entwicklung und aktuelle Diskussion ______________ Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 4 – 3000 - 240/12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 2 TARGET2-Salden Definition, Entwicklung und aktuelle Diskussion ___________________________________ Aktenzeichen: WD 4 – 3000 - 240/12 Abschluss der Arbeit: 23. Oktober 2012 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen ___________________________________ Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 3 1. TARGET2 TARGET steht für Trans-European Automated Realtime Gross Settlement Express Transfer System und ist das Zahlungssystem der Zentralbanken des Eurosystems für die Abwicklung eilbedürftiger Überweisungen in Echtzeit. Das System TARGET2, das TARGET im Jahr 2008 abgelöst hat, wird auf einer einheitlichen technischen Plattform betrieben und hat das Leistungsangebot für alle Teilnehmer harmonisiert. Eigentümer von TARGET2 ist das Eurosystem, also die Europäische Zentralbank und die dem Euro-Währungsgebiet angehörenden nationalen Zentralbanken. Angeschlossen sind auch die Zentralbanken von Bulgarien, Rumänien, Dänemark, Polen, Litauen und Lettland. Ein Ziel von TARGET2 ist nach Darstellung der Deutschen Bundesbank die Erfüllung der vom europäischen Kreditgewerbe gestellten Nutzeranforderungen (zum Beispiel europaweites Liquiditätsmanagement ). Als Vorteile des Systems führt die Deutsche Bundesbank unter anderem an: - Es wickelt Großbetragszahlungen und eilbedürftige Transaktionen in sicherem Zentralbankgeld sofort und endgültig, auch grenzüberschreitend, ab und reduziert so die Risiken im Zahlungsverkehr . - In TARGET2 ist Liquidität weithin verfügbar. Mindestreserveguthaben stehen während des Tages für Zahlungsverkehrszwecke zur Verfügung, und das Eurosystem gewährt seinen Geschäftspartnern gegen die Stellung von Sicherheiten unbeschränkt zinslose Innertageskredite . - Es bietet viele Optionen für das Liquiditätsmanagement, z.B. die Reservierung von Liquidität und das Liquiditätspooling.1 TARGET2 wickelt pro Tag im Durchschnitt ca. 350.000 Zahlungen mit einem Wert von rund 2,5 Billionen Euro ab. Der Anteil der über die Bundesbank eingereichten Zahlungen beträgt bei den Stückzahlen rund die Hälfte und beim Umsatz etwa ein Drittel. Diesen Zahlungen zugrunde liegen können beispielsweise eine Warenlieferung, der Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers, die Gewährung oder Rückzahlung eines Darlehens oder die Geldanlage bei einer Bank. 1 Deutsche Bundesbank: TARGET2 - ein einheitliches Europa für Individualzahlungen, unter: http://www.bundesbank .de/Redaktion/DE/Standardartikel/Service/Services_Banken_Unternehmen/target2.html; Deutsche Bundesbank : Informationsblatt TARGET2 - ein einheitliches Europa für Individualzahlungen, Seiten 2 und 3, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Kerngeschaeftsfelder/Unbarer_Zahlungsverkehr/informationsblatt _target2_ein_einheitliches_europa_fuer_individualzahlungen.pdf?__blob=publicationFile; Deutsche Bundesbank: TARGET2-Saldo, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Standardartikel/Service/Services _Banken_Unternehmen/target2_saldo.html, alle abgerufen am 19. Oktober 2012. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 4 2. TARGET2-Salden Die Entstehung der TARGET2-Salden der Zentralbanken im Eurosystem soll an einem Beispiel gezeigt werden. Erfolgt beispielweise die Bezahlung einer Lieferung aus Deutschland ins Ausland auf ein Konto eines deutschen Kreditinstituts, läuft bei einer Inanspruchnahme von TARGET2 folgender Prozess ab: In dem Moment, wo der Betrag auf das Konto bei dem deutschen Kreditinstitut gutgeschrieben wird, führt dies bei der Bundesbank zu einer Verbindlichkeit gegenüber dieser Bank. Im Gegenzug entsteht eine Forderung der Bundesbank in gleicher Höhe gegenüber der Zentralbank des Landes, in das die Ware geliefert wurde. Diese wiederum belastet das Konto der Geschäftsbank des Empfängers der Leistung. Die Geschäftsbank des Empfängers der Leistung muss deshalb über ein ausreichendes Guthaben an Zentralbankgeld verfügen. Am Ende eines Geschäftstages, nach Durchführung einer Vielzahl solcher Transaktionen, gleichen sich die Forderungen und Verbindlichkeiten normalerweise nicht vollständig aus. Im Eurosystem werden deshalb gemäß einem Abkommen die am Ende des Geschäftstages verbleibenden Forderungen und Verbindlichkeiten der Zentralbanken an die Europäische Zentralbank übertragen und gegeneinander aufgerechnet. 2 „TARGET2-Salden sind das Ergebnis der grenzüberschreitender Verteilung von Zentralbankgeld innerhalb der dezentralen Struktur des Eurosystems.“3 3. Entwicklung der TARGET2-Salden im Eurosystem Im Eurosystem haben sich, wie nachfolgende Grafik4 zeigt, die Forderungen der Zentralbanken von Deutschland, den Niederlanden, Luxemburgs und Finnlands von 2009 bis 2011 stark erhöht. Umgekehrt sind die Verbindlichkeiten, insbesondere von Spanien und Italien, im gleichen Zeitraum stark angewachsen. 2 Deutsche Bundesbank: TARGET2-Saldo, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Standardartikel/Service /Services_Banken_Unternehmen/target2_saldo.html, abgerufen am 19. Oktober 2012. 3 Deutsche Bundesbank: TARGET2-Salden der Bundesbank, Pressenotiz vom 22. Februar 2011, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/BBK/2011/2011_02_22_target2_salden_der_bundesbank .html, abgerufen am 19. Oktober 2012. 4 Deutsche Bundesbank: Geschäftsbericht 2011, Seite 53, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads /Veroeffentlichungen/Geschaeftsberichte/2011_geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 19. Oktober 2012. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 5 Die folgende Tabelle zeigt zur Ergänzung der Grafik den Stand des TARGET2-Saldos der Deutschen Bundesbank zu Beginn des TARGET-Systems 1999, am Ende der Jahre 2007 und 2008 sowie die Entwicklung im Jahr 2012:5 Zeit Mio. DM/Euro Zeit Mio. Euro 1999-01 17.529,16 2012-01 498.131,37 2012-02 547.046,72 2007-12 71.045,68 2012-03 615.591,53 2012-04 644.182,01 2008-12 115.294,73 2012-05 698.567,10 2012-06 728.566,72 2012-07 727.206,15 2012-08 751.449,18 2012-09 695.458,43 5 Deutsche Bundesbank: Zeitreihe BBK01.EU8148B: NACHRICHTLICH: Auslandsposition der Bundesbank seit Beginn der EWU / Ford. innerh. des Eurosystems / Nettoposition aus TARGET2, unter: http://www.bundesbank .de/Navigation/DE/Statistiken/Zeitreihen_Datenbanken/Makrooekonomische_Zeitreihen/its_details_value _node.html?tsId=BBK01.EU8148B, abgerufen am 22. Oktober 2012. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 6 Die Erhöhung der TARGET2-Salden im Eurogebiet und insbesondere der Forderungen der deutschen Zentralbank erklärt die Deutsche Bundesbank wie folgt: Vor Ausbruch der Finanzkrise haben die nationalen Zentralbanken über Refinanzierungsgeschäfte die Liquidität für die vorzuhaltende Mindestreserve und das umlaufende Bargeld zur Verfügung gestellt. Sofern die Banken Finanzierungsbedarf aufgrund grenzüberschreitender Geschäfte hatten, wurde diese von privaten Kapitalströmen, in der Regel durch das Interbankengeschäft zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise gab es in den TARGET2-Salden wenig hohe Ausschläge . Nach Ausbruch der Finanzkrise und vor allem der Staatschuldenkrise schwand jedoch das Vertrauen in die Staatsfinanzen, aber auch in das Bankensystem. Interbankenkredite versiegten zum Teil ganz. Um grenzüberschreitende Geschäfte zu finanzieren, wurden verstärkt Mittel beim Eurosystem aufgenommen. Das war auch möglich, weil das Eurosystem gemäß seiner Aufgabe, die Kreditversorgung der Wirtschaft sicherzustellen und die Finanzmarktstabilität zu stärken, auf die Krise regiert hat. Es hat Liquidität gegen Sicherheiten (zu abgesenkten Anforderungen) in unbegrenztem Umfang, zu einem niedrigen Zins und zu deutlich längeren Laufzeiten bereitgestellt. Aufgrund dieser Entwicklung stieg das Gesamtvolumen der Refinanzierungsgeschäfte von rund 460 Mrd. Euro vor Ausbruch der Krise auf dann 1.100 Mrd. Euro. Die Euro-Peripherieländer6 sind nun mit einem Drittel statt bisher einem Sechstel am Refinanzierungsvolumen beteiligt. Diese haben, durch den andauernden Abfluss von Liquidität, TARGET2-Verbindlichkeiten in Höhe von mehr als 750 Mrd. Euro aufgebaut.7 4. Diskussion um die TARGET2-Salden Die Diskussion dreht sich um die Frage, ob die hohen TARGET2-Salden zu einer Gefahr für das Eurosystem und einzelne Staaten werden könnten. Dazu gehört aber auch die Einschätzung, ob TARGET2-Salden Ausdruck einer Kreditgewährung sind. Die Deutsche Bundesbank bezeichnet die Zunahme der TARGET2-Salden als Ausdruck einer mandatsgerechten Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in einer Liquiditätskrise. Sie macht jedoch auch immer deutlich, dass es nicht Aufgabe der Geldpolitik ist, „marode Banken künstlich am Leben zu erhalten oder die Zahlungsfähigkeit von Staaten abzusichern. Entscheidungen 6 Dazu gehören zum Beispiel Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, vgl. Matthes, Jürgen: Rebalancing der Leistungsbilanzdefizite in den Peripheriestaaten des Euroraums, Institut der Deutschen Wirtschaft, iw-Trends 1/2012. 7 Weidmann, Jens: Was steckt hinter den TARGET2-Salden? Standpunkt in: FAZ.NET vom 12. März 2012, unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/standpunkt-jens-weidmann-was-steckt-hinter-den-target2-salden- 11681939.html, abgerufen am 19. Oktober 2012. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 7 über die Umverteilung größerer Solvenzrisiken von Banken oder Staaten zwischen den Steuerzahlern der Mitgliedsländer dürfen nur gewählte Regierungen und Parlamente treffen.“8 Die Deutsche Bundesbank hat in ihrem Jahresbericht 2011 festgehalten, dass es nur im hypothetischen Fall des Austritts eines Staates aus der Währungsunion zu einer Bilanzwirksamkeit von Teilen eines negativen TARGET2-Saldos kommen könne. Dieser Fall sei jedoch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht geregelt. Sollte ein Land die Währungsunion verlassen, bestünden die Forderungen der Europäischen Zentralbank gegen die Zentralbank des ausgetretenen Landes in unverminderter Höhe weiter. Erst wenn auch durch die hinterlegten Sicherheiten die Schulden nicht getilgt werden könnten, müsste für die verbleibende Differenz eine Lösung gefunden werden. Bei einem tatsächlichen Ausfall entstünde bei der Europäischen Zentralbank durch die dann vorzunehmende Abschreibung ein bilanzwirksamer Verlust. Über diese Verteilung des Verlustes müssten die nationalen Zentralbanken als Eigner entscheiden .9 Hingegen wird gerade das Ausscheiden eines Staates aus der Euro-Währungszone und sogar deren Auseinanderbrechen von den Kritikern, allen voran vom Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung , Professor Hans-Werner Sinn, diskutiert. In seinem gerade erschienen Buch „Die TARGET-Falle“ vergleicht er die Vorgänge mit einer privaten Kreditgewährung. Anders als dort jedoch bestünden TARGET2-Forderungen unbegrenzt weiter und könnten niemals fällig gestellt werden. Darüber hinaus könne die Bundesbank wegen der Einbindung in das Eurosystem nicht entscheiden, ob sie überhaupt einen Kredit vergeben soll. Wenn die Schuldnerstaaten nicht zahlen könnten und aus der Währungsunion ausschieden, verlöre die Bundesbank die Forderungen gemäß ihrem Anteil am Kapital der Europäischen Zentralbank, die Schuldnerländer könnten hingegen die Güter, die sie mit den TARGET-Krediten erworben hätten, behalten. Bräche die Währungsunion auseinander, hätte Deutschland Forderungen gegen ein untergegangenes System und müsste komplett darauf verzichten. Sinn spricht aus diesen Gründen von der TARGET-Falle: Die Deutsche Bundesbank hat nicht die Möglichkeit, die Forderungen einzutreiben, sodass diese gegebenenfalls für immer bestehen und der Inflation unterliegen könnten. Um aber die Forderungen überhaupt aufrecht zu erhalten, ist sie gezwungen, Rettungsmaßnahmen zuzustimmen, die sie immer weiter in die Falle hineintreiben.10 8 Weidmann, Jens: Was steckt hinter den TARGET2-Salden? Standpunkt in: faz.net vom 12. März 2012, unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/standpunkt-jens-weidmann-was-steckt-hinter-den-target2-salden- 11681939.html, abgerufen am 19. Oktober 2012. 9 Deutsche Bundesbank: Geschäftsbericht 2011, Seite 54, unter: http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads /Veroeffentlichungen/Geschaeftsberichte/2011_geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 19. Oktober 2012. 10 Sinn, Hans-Werner: „Die Target-Falle“ So wurden die Euro-Retter erpressbar, unter: faz.net vom 8. Oktober 2012, unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/die-target-falle-so-wurden-die-euroretter -erpressbar-11917895.html, abgerufen am 22. Oktober 2012. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 – 3000 - 240/12 Seite 8 Die Deutsche Bundesbank wehrt sich gegen die Betrachtung der TARGET2-Salden im Sinne von Krediten. Gäbe es die Europäische Zentralbank nicht, gäbe es auch keine TARGET2-Salden, dennoch bliebe das Risiko aus der Liquiditätsbereitstellung.11 Auch der Chefvolkswirt der Citigroup, Willem H. Buiter, widerspricht den Ansichten von Sinn. TARGET-Forderungen seien ein schlechtes Maß für den drohenden Verlust einer einzelnen nationalen Zentralbank. Selbst bei einem Bruch der Eurozone läge der Verlust nicht in Höhe der TARGET-Forderungen.12 Der amerikanische Ökonom Michael Burda warnt davor, einen Austritt, zum Beispiel Griechenlands, aus der Eurozone zuzulassen. Dann könnten auch andere Staaten wie Portugal und Spanien „in die Versuchung“ kommen. Eine solche „Erosion“ wäre wegen der Verteuerung der Exporte bei einer eventuellen Aufwertung einer neuen D-Mark und der Gefährdung deutscher Banken mit Forderungen gegen die Südstaaten der Eurozone sehr kostspielig.13 __________________ 11 Weidmann, Jens: Was steckt hinter den TARGET2-Salden? Standpunkt in: FAZ.NET vom 12. März 2012, unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/standpunkt-jens-weidmann-was-steckt-hinter-den-target2-salden- 11681939.html, abgerufen am 19. Oktober 2012, und: Hulverscheidt, Claus: Ein Professor, der Äpfel, Birnen und Bananen addiert, Süddeutsche vom 16. März 2012, unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/2.220/streitum -target-salden-ein-professor-der-aepfeln-birnen-und-bananen-addiert-1.1310221, abgerufen am 23. Oktober 2012. 12 Zitiert in o. V.: Ökonomen uneins über TARGET-Risiken, in: Frankfurter Allgemeine vom 18. Oktober 2012. 13 Catharine Hoffmann und Markus Balser im Gespräch mit Hans-Werner Sinn und Michael Burda: „In Europa droht ein ökonomisches Chaos“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Oktober 2012.