Rechtsnatur der Entfernungspauschale als Werbungskosten aus verfassungsrechtlicher Sicht - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 4 - 151/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Rechtsnatur der Entfernungspauschale als Werbungskosten aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausarbeitung WD 4 - 151/06 Abschluss der Arbeit: 30.05.2006 Fachbereich WD 4: Haushalt und Finanzen Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Verfassungsrechtlich orientiert sich die Einkommensbesteuerung am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen. Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst sich nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip, das heißt nach dem disponiblen Einkommen . Folglich unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen , nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den Erwerbsaufwendungen (Werbungskosten) sowie den privaten, existenzsichernden Aufwendungen (Sonderausgaben) andererseits. Ob die Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von Natur aus Werbungskosten sind, ist zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nur für einen spezifischen Sachverhalt der doppelten Haushaltsführung positiv entschieden. Dabei führt es u. a. aus, dass es traditioneller Teil der Grundentscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts sei, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst "am Werkstor" beginnen zu lassen. Der Bundesfinanzhof , der in früheren Urteilen zu den Fahrtkosten noch vom Werbungskostencharakter ausging, hat seine Auffassung zwischenzeitlich geändert. In der Literatur wird die Frage weiterhin unterschiedlich beantwortet. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 2. Entscheidung des BVerfG zum Werbungskostenabzug bei doppelter Haushaltsführung 4 3. Ausführungen des BVerfG zur Natur der Werbungskosten 6 4. Frühere Beschränkungen des Werbungskostenabzugs für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte 7 5. Einordnung der Entfernungspauschale als Werbungskosten 8 6. Kommentierungen zur steuerlichen Abziehbarkeit der Fahrtkosten 9 7. Wechsel in der gesetzlichen Zuordnung zu Werbungskosten oder Sonderausgaben 11 8. Literaturverzeichnis 12 - 4 - 1. Einleitung Der Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Steueränderungsgesetz 20071 sieht mit der Aufhebung des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG und der Neufassung des § 9 Abs. 2 EStG vor, die bisherige Anerkennung der Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte (Entfernungspauschale) als Werbungskosten zu streichen. Das heißt, dass diese Aufwendungen bei der Ermittlung der zu versteuernden Einkünfte künftig nicht mehr abgezogen werden dürfen. Es verbleibt lediglich eine beschränke Entfernungspauschale für Fernpendler (ab dem 21. Entfernungskilometer ), die nur noch als unechte Werbungskosten („wie“ Werbungskosten) rechnerisch in Ansatz gebracht werden können. Die Gesetzesbegründung führt hierzu aus, dass mit dieser Neuregelung dem Prinzip Geltung verschafft werden soll, dass die Arbeitsstätte der Berufsphäre, das Wohnen dagegen der Privatsphäre zuzuordnen sei. „Wegen der Verbindung nicht nur zur Arbeit sondern auch zur Wohnung handelt es sich aber nach überwiegender Auffassung um gemischte Aufwendungen, also um Aufwendungen, die auch die Lebensführung betreffen . Bei gemischten Aufwendungen ist es dem Gesetzgeber möglich, über den Umfang der Abziehbarkeit und Nichtabziehbarkeit zu entscheiden.“ Eine entsprechende Möglichkeit der Einordnung als nicht abzugsfähige Ausgaben habe bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 107, 27 [502]) zugelassen. Im Folgenden soll die Rechtsprechung des BVerfG und die einschlägige Kommentierung zur Einordnung der Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten dargestellt werden. 2. Entscheidung des BVerfG zum Werbungskostenabzug bei doppelter Haushaltsführung Dem Rechtstreit zugrunde lag die mit dem Jahressteuergesetz 19963 in § 9 Abs. 1 Nr. 5 Satz 3 EStG eingefügte Begrenzung des Abzugs der Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung bei einer Beschäftigung am selben Ort auf insgesamt zwei Jahre. In der Vorinstanz hatte der Bundesfinanzhof (BFH)4 entschieden, der Gesetzgeber handele nicht willkürlich, wenn er in der Neuregelung die frühere Rechtsprechung des 1 Abgerufen am 18.5.2006 unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/lang_de/DE/Aktuelles/Aktuelle__Gesetze/Gesetzentwuerfe __Arbeitsfassungen/005__1,templateId=raw,property=publicationFile.pdf 2 gemeint wohl 58 3 JStG 1996 vom 11.10.1995, BGBl I S. 1250 - 5 - Bundesfinanzhofs zur Zweijahresgrenze aufgreife. Wenn er dabei typisierend unterstelle , dass der bei der Begründung der doppelten Haushaltsführung vorhandene berufliche Anlass nach Ablauf von zwei Jahren entfallen oder zumindest so stark durch private Gründe überlagert sei, so dass die ihrem Wesen nach gemischten (also sowohl die berufliche als auch die private Sphäre des Steuerpflichtigen berührenden) Aufwendungen nicht mehr dem Bereich der Einkommenserzielung zugeordnet werden könnten, bewege er sich innerhalb der Grenzen seines Beurteilungs- und Gestaltungsermessens. Eine Diskriminierung von Eheleuten oder eine Berührung des grundgesetzlich garantierten Rechtes, Art und Ort seiner Beschäftigung frei zu wählen, sei nicht ersichtlich. Mit seiner Entscheidung vom 4.12.20025 wies das BVerfG die Sache an den BFH zurück . Zur Begrenzung des Abzugs der Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung auf zwei Jahre führt das BVerfG u. a. aus, für die verfassungsrechtlich gebotene Einkommensbesteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit komme es auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits an. Der Gesetzgeber habe bei seiner Entscheidung, ob er diesen Aufwand steuermindernd berücksichtigen wolle, die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der privaten Lebensführung zuzuordnen seien. Da es sich in dem zur Entscheidung vorliegenden Fall um den Sachverhalt einer „Kettenabordnung “ handele, das heißt vom Arbeitnehmer eine gerade auch kurzfristige Arbeitsplatzflexibilität gefordert sei, seien Mehraufwendungen für eine aus beruflichem Anlass begründete doppelte Haushaltsführung ungeachtet ihres generellen Mischkostencharakters zum Werbungskostenabzug zuzulassen. Die streitige Abzugsbegrenzung auf zwei Jahre sei jedenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten einer "Kettenabordnung" mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. In dieser Fallkonstellation seien weder die Zweijahresfrist selbst noch der Umstand, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Anwendung der Zweijahresfrist zwischen einer Beschäftigung am selben Ort und einer Beschäftigung an wechselnden Orten differenziert, sachlich nachvollziehbar; beides führe nicht zu einer hinreichend folgerichtigen Bestimmung und Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Zudem gebiete Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der Bemessung der finanziellen Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, soweit es sich um zwangsläufigen Mehraufwand beiderseits berufstätiger Ehegatten („Doppelverdienerehe“) handelt, der dadurch entsteht, dass ein gemeinsamer Wohnsitz bei dem Beschäftigungs- 4 BFH mit Urteil vom 5. Dezember 1997 - VI R 104/97 5 BVerfGE 107, 27, Aktenzeichen: 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00 - 6 - ort des einen Ehegatten besteht und zugleich die Unterhaltung eines weiteren Wohnsitzes durch die Berufstätigkeit des anderen Ehegatten an einem anderen Ort veranlasst sei. 3. Ausführungen des BVerfG zur Natur der Werbungskosten In seiner Entscheidung zum Werbungskostenabzug bei doppelter Haushaltsführung trifft das BVerfG auch einige grundsätzliche Ausführungen zur Rechtsnatur der Werbungskosten . Verfassungsrechtlich sei die Einkommensbesteuerung am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen und dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu orientieren. Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemesse der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterlägen der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. Deshalb seien Aufwendungen für die Erwerbstätigkeit gemäß §§ 4 und 9 EStG als Betriebsausgaben oder Werbungskosten und existenzsichernde Aufwendungen im Rahmen von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen gemäß §§ 10 ff., 33 ff. EStG grundsätzlich steuerlich abziehbar. Dagegen minderten Aufwendungen für die Lebensführung außerhalb des Rahmens von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen gemäß § 12 Nr. 1 EStG nicht die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage; dies gelte gemäß § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auch für solche Lebensführungskosten, "die die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt, auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen". Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung in Form von generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen dürfe sich der Gesetzgeber nur bei Vorliegen besonders gewichtiger, sachlich gerechtfertigter Gründe bedienen [Beispiel: Einführung der verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale aus umwelt- und verkehrspolitischen Erwägungen und zur Verwaltungsvereinfachung6]. Die grundsätzliche Abzugsfähigkeit der Kosten einer betrieblich oder beruflich begründeten doppelten Haushaltsführung als Betriebsausgaben oder Werbungskosten sei traditioneller Teil der Grundentscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst "am Werkstor" beginnen zu lassen. Auch im Schnittbereich von beruflicher Sphäre und privater Lebensführung lie- 6 BT-Drs. 14/4242 Begründung zum Steuerreformgesetz 1999 - 7 - gende Mobilitätskosten würden als Werbungskosten oder Betriebsausgaben anerkannt. Danach gehörten - hinreichend folgerichtig - vor allem Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu den im Rahmen des objektiven Nettoprinzips abzugsfähigen beruflichen Aufwendungen, obwohl solche Aufwendungen wegen der privaten Wahl des Wohnorts zwangsläufig auch privat mitveranlasst seien (Veranlassungsprinzip). Dass der Gesetzgeber auch unter Berücksichtigung des Prinzips der Nettobesteuerung, sofern er sachlich einleuchtende Gründe hat (allgemeine verkehrspolitische oder finanzpolitische und steuerrechtliche Erwägungen), die Gestaltungsfreiheit hat, eine Entfernungspauschale in der Höhe zu begrenzen, hatte das BVerfG u. a. bereits mit seiner Entscheidung vom 2.10.19697 dargelegt. 4. Frühere Beschränkungen des Werbungskostenabzugs für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte Seit 1920 sah das Einkommensteuergesetz die Möglichkeit vor, notwendige Ausgaben für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steuerlich als Werbungskosten zu berücksichtigen . Bereits in Folge des Gesetzes zur Neuordnung von Steuern8 vom 16.12.1954 wurde der bis dahin mögliche Werbungskostenabzug beschränkt. Gem. § 26 Abs. 1 EStDV 1955 konnten die Fahrtaufwendungen nur noch bis zu einer Entfernung von 40 km zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steuerlich geltend gemacht werden, es sei denn, ein zwingender persönlicher Grund konnte nachgewiesen werden. „Die Rechtsgültigkeit dieser einschränkenden Regelung wurde sowohl aus verfahrensrechtlichen Gründen (fehlende Ermächtigung) als auch aus materiellen Gründen (Werbungskosteneigenschaft der Fahrtaufwendungen ist von Entfernungsbegrenzungen unabhängig ) in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum angezweifelt. … Trotz Bedenken hielt der BFH allerdings die in § 26 Abs. 1 EStDV vorgenommene Abzugsbeschränkung für eine vertretbare Auslegung des § 9 Satz 3 Nr. 4 EStG.“ (HERMANN/ 2005, zu § 9 Anm. 441) Erst mit dem Steueränderungsgesetz 1971 vom 23.12.1970 wurde diese Beschränkung wieder aufgehoben. Eine erneute steuerliche Einschränkung in Abhängigkeit der Entfernung erfolgte mit Ablösung der Kilometerpauschalen durch die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale . Durch das Gesetz zur Einführung einer Entfernungspauschale vom 21.12.20009 wurden die Pauschalsätze gestaffelt: Für die ersten 10 Entfernungskilometer durften 0,70 DM und für jeden weiteren Kilometer 0,80 DM, höchsten aber insge- 7 1 BvL 12/68, BStBl. II 1970 S. 140 8 BGBl. I, S. 373 9 BGBl. I, S. 1918 - 8 - samt 10.000 DM pro Jahr als Werbungskosten geltend gemacht werden. „Die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine vom Verkehrsmittel unabhängige Entfernungspauschale gibt vor allem Anreize zur Bildung von Fahrgemeinschaften und zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel.“10 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf einen vorausgegangenen Entwurf des Steuerreformgesetzes 1999. Das Steuerreformkonzept der CDU/FDP-Bundesregierung vom 22.4.1997 sah ursprünglich die Verwirklichung der so genannten "Petersberger Steuervorschläge" der Steuerreform-Kommission11 vor. Zur Gegenfinanzierung einer Absenkung der Steuersätze, war vorgeschlagen worden, eine Entfernungspauschale erst vom 16. Entfernungskilometer an zu gewähren. Im Gesetzentwurf wurde daraufhin begründet : „…denn ein Arbeitsweg von bis zu 15 Kilometern kann bei der vorherrschenden Verkehrs- und Siedlungsstruktur als normal angesehen werden.“ 12 5. Einordnung der Entfernungspauschale als Werbungskosten Nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofes (BFH) zur Absetzbarkeit der Kosten für Familienheimfahrten sind Werbungskosten alle Ausgaben, die durch das Arbeitsverhältnis entstanden/veranlasst sind, soweit sie nicht in den Bereich der allgemeinen Lebensführung fallen. „Berühren Ausgaben den Beruf und die Lebensführung gleichzeitig und ist eine Aufteilung nicht eindeutig und leicht zu nachprüfbar möglich, so müssen die Kosten im Ganzen einem der beiden Kreise zugeordnet werden. Dabei ist für die Einordnung als Werbungskosten oder Kosten der Lebensführung entscheidend, in welchen Bereich die Kosten ganz überwiegend gehören. … (Dabei) ist eine gewisse Typisierung notwendig, wie sie übrigens der Gesetzgeber selbst in § 12 Ziff. 1 Satz 2 EStG ausdrücklich vorschreibt.“13 Des Weiteren stellt der BFH dar, das neben den tatsächlichen Wandlungen des Arbeits- und Verkehrswesen und der Form des Zusammenlebens in den Familienverhältnissen bei der Auslegung steuerlicher Vorschriften auch die Wertungen des Grundgesetzgebers zu beachten sind. Die Freizügigkeit im Bundesgebiet, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und der besondere Schutz von Ehe und Familie sind angemessen zu berücksichtigen. „Nach diesen Grundsätzen sind die Kosten verheirateter Arbeitnehmer für die Fahrten zu ihrer Familie grundsätzlich als Werbungskosten zu berücksichtigen.“ 10 BT-Drs. 13/399 vom 23.2.1999. Entwurf eines Gesetzes über eine ökologisch wirklich wirksame Umstellung der Besteuerung ohne Mehrbelastung für Bürger und Wirtschaft, Begründung S. 6 11 PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG 1997, S. 19 12 BT-Drs. 13/7480 Entwurf eines Steuerreformgesetztes 1999, Begründung zu § 35 Abs. 1 Nr. 4, S. 196 13 BFH vom 18.2.1966, VI 219/64, BStBl. III, S. 386 - 9 - Die Einordnung der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beurteilt der BFH im Zeitablauf unterschiedlich. In jedem Falle sind Werbungskosten Aufwendungen zur Erzielung von Einkünften und somit nach den allgemeinen einkommensteuerlichen Grundsätzen von den Kosten der allgemeinen Lebensführung abzugrenzen. In seinem Urteil vom 20.12.198214 interpretiert er den Willen des Gesetzgebers seit dem Jahr 1967 dahingehend, dass Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ihrer Natur nach als so genannte gemischte Aufwendungen, die eigentlich gem. § 12 Nr. 1 S. 2 EStG „…auch wenn sie zur Förderung des Berufs oder der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen…“ nicht vom Betrag der steuerpflichtigen Einkünfte abgezogen werden dürften. Nur durch § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG, der insoweit konstitutiven Charakter habe, würden diese Aufwendungen als Werbungskosten qualifiziert. In einem früheren Urteil aus dem Jahr 196215 hatte der BFH noch ausgeführt: „Werbungskosten sind auch Aufwendungen, die der Arbeitnehmer für den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück macht. § 9 Ziff. 4 Satz 1 EStG erweitert nicht etwa den Werbungskostenbegriff über § 9 Satz 1 EStG hinaus, sondern gibt nur ein klarstellendes Beispiel. Denn die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sind bei natürlicher Betrachtung Aufwendungen die durch das Dienstverhältnis veranlasst sind und vom Arbeitnehmer zur Erzielung der Arbeitseinkünfte gemacht werden.“ 6. Kommentierungen zur steuerlichen Abziehbarkeit der Fahrtkosten Nach Auffassung von HERRMANN (2005)16 werden die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bereits von der allgemeinen Definition des Werbungskostenbegriffs gem. § 9 Abs. 1 EStG erfasst, so dass die Erwähnung in § 9 Satz 2 Ziff. 4 EStG nur noch einen deklaratorischen Aussagegehalt hat. Sie fallen „…bei sachgerechter Anwendung des Veranlassungsprinzips unter Zugrundelegung steuerrechtlicher Wertungsüberlegungen…“ zumindest überwiegend aus beruflichen Gründen an und sind daher, dem Nettoprinzip entsprechend, abziehbar. Auch BLÜMICH (2005) sieht die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht als gemischte Aufwendungen (grundsätzlich nicht abziehbar), sondern zumindest ganz überwiegend beruflich veranlasst und somit als erwerbsbezogene Aufwendungen an. 14 BFH vom 20.12.1982, VI R 64/81, BStBl. II 1983, S. 306 15 BFH vom 2.3.1962, VI 79/60, BStBl. III, S. 192 16 Anm. 442 zu § 9 EStG - 10 - HAUFE (2006)17 bestätigt das Nettoprinzip, das durch den Werbungskostenabzug bei der Ermittlung der Überschusseinkünfte verwirklicht wird, als Ausdruck der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Ob die Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von Natur aus Werbungskosten sind, sei aber nicht zweifelsfrei. Sie hätten eine ebenso starke Bindung zur „Wohnung“, also dem privaten Bereich, wie zur „Arbeitsstätte“, also der Sphäre der Einkunftserzielung. Zwar sehe das derzeitige Einkommensteuerrecht einen Werbungskostenabzug vor, „…der Gesetzgeber könne aber auch eine andere Wertung treffen und die Mobilitätsaufwendungen als (auch) privat veranlasst vom Abzug ausschließen.“ JACHMANN (1997) geht in seiner Analyse auch auf eine Begrenzung des Werbungskostenabzugs auf Entfernungen über 15 km ein. Grundsätzlich sieht er die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als beruflich veranlasst an, weil zwar die Kosten des Wohnens privat veranlasst sind, nicht aber die Fahrtkosten zur Arbeit . Zudem könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein Arbeitnehmer seinen Wohnsitz in ummittelbarer Nähe zu seiner Arbeitsstätte nehmen könne. Vielmehr müsse er notwendig eine Distanz überwinden, um der steuerbaren Tätigkeit nachgehen zu können . Wenn gegebenenfalls eine weit von der Arbeitsstätte bezogene Wohnung privat veranlasst sein könnte, sei dies typischerweise gerade bei Entfernungen bis 15 km nicht zu vermuten. Insofern sei ein pauschales Abzugsverbot für bis zu 15 Entfernungskilometer nicht zu rechtfertigen. Eine Abweichung von dieser Grundeinschätzung sei dem Gesetzgeber aber möglich, sofern er hierfür sachlich einleuchtende Gründe habe und eine Typisierung oder Pauschalierung einzelne oder Gruppen von Steuerpflichtigen nicht in ungerechtfertigter Weise benachteiligt. Aus verkehrs-, finanzpolitischen oder steuertechnischen Gründen sei eine Abzugsbegrenzung als „Typisierung einer gleichmäßigen Abschöpfung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ verfassungsrechtlich vertretbar . An dem Grundsatz des BVerfG (s. o. zu 3.) ausgerichtet, dass Werbungskosten Aufwendungen sind, die durch die Erzielung von Einnahmen veranlasst sind (Veranlassungsprinzip ), besteht für WESSELBAUM (2004) bei Fahrtkosten kein Bezug zur Lebensführung . Die Entscheidung für die optimale Wohnort-Arbeitsplatzkombination sei ein von vielfältigen Faktoren abhängiger Prozess (Multikausalität), der nicht gewillkürt sei. Somit stelle die generelle Berücksichtigung der Fahrtkosten als Werbungskosten keine Steuervergünstigung oder Subvention dar, sondern realisiere die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Nach Auffassung des DIW (2003) lässt sich eine Kürzung der Entfernungspauschale steuer- und wirtschaftspolitisch durchaus begründen. Bei der Wahl des Wohnorts über- 17 Haufeindex 99867 (Stand: 15.1.2006). Rz. 112 - 11 - wiegen in vielen Fällen private Motive. Aus steuersystematischer Perspektive würde es ausreichen, Fahrtkosten zur Arbeit pauschal über einen Abzugsbetrag zu berücksichtigen , der etwa die Fahrtkosten für typische Entfernungen oder die Kosten des öffentlichen Nahverkehrs abdeckt. Auch umwelt- und verkehrspolitische Ziele sprächen für eine Einschränkung der Entfernungspauschale, um Verkehrsströme und Zersiedelung längerfristig zu begrenzen. Bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes könnten Fahrtkosten aus familien- und sozialpolitischen Gründen über einen gewissen Zeitraum anerkannt werden. In einem aktuellen Zeitungsbeitrag hat der Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft Prof. Dr. PEFFEKOVEN (2006) seine Auffassung vertreten, nach der die Wahl des Wohnortes eine private Entscheidung sei. Die Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien als Kosten der privaten Lebensführung steuerlich unerheblich . Nach dem Grundsatz „Die Arbeit beginnt am Werkstor“ sei die Pendlerpauschale als Steuervergünstigung ersatzlos zu streichen. 7. Wechsel in der gesetzlichen Zuordnung zu Werbungskosten oder Sonderausgaben Mit dem Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung vom 21.7. 200418 hat der Gesetzgeber mit der Anfügung von § 12 Nr. 5 EStG klargestellt, dass Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium zu den Kosten der privaten Lebensführung gehören. Nach Auffassung des Gesetzgebers19 gehört zumindest die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen der privaten Lebensführung . Er reagierte damit auf die geänderte Rechtsprechung des BFH, der mit Urteil aus dem Jahr 2002 seine bis dahin geltende Rechtsprechung aufgegeben hatte und nunmehr die Ausbildungskosten als vorweggenommene Werbungskosten ansah. Daraufhin hat der Gesetzgeber § 12 Nr. 5 EStG mit rechtsbegründendem Charakter angefügt, um den Steuerausfällen, die der geänderten Rechtsprechung folgen könnten, vorzubeugen. 18 BGBl. I S. 1753 19 Finanzausschuss vom 16.6. 2004, BT-Drs. 15/3339 - 12 - 8. Literaturverzeichnis BLÜMICH (2005). Einkommensteuer Körperschaftsteuer Gewerbesteuer. Kommentar. München: Franz Vahlen. Loseblattsammlung DIW (2003). Wochenbericht (40/03), Entfernungspauschale: Kürzung gerechtfertigt, S. 602 ff. [abgerufen am 22.5.06 unter: http://www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/wochenberichte/docs/03-40- 2.html ] HAUFE (2006 ). Haufe-Datenbanken zum Personal- und Steuerrecht. Steuer Office Professional. [abgerufen am 29.5.2006 unter: http://idesk.haufe.de/SID103%3A10081.cWzhbER8Igk/STPPANON/606/PI5592/an onstart?tab_area=homepage ] HERMANN/HEUER/RAUPACH (2005). Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz . Kommentar. Köln: Otto Schmidt. Loseblattsammlung JACHMANN, Prof. Dr. Monika (1997). Die geplante Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte – Kritische Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher und steuersystematischer Sicht. Deutsches Autorecht. 5/97 S. 185ff PEFFEKOVEN, Rolf, Prof. Dr. (2006). Die Bundesregierung setzt sich zwischen alle Stühle. Tagesspiegel vom 29.5.2006 PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG (1997). Informationen für Betriebsjournalisten. Reform der Einkommensbesteuerung – Vorschläge der Steuerreform-Kommission vom 22.1.1997- „Petersberger Vorschläge . Nr. 2/1997 (P 759279) WESSELBAUM-NEUGEBAUER (2004). Die Entfernungspauschale – Subvention oder Werbungskosten. Fr 7/2004. S. 385 - 13 - Nachträge - G-Entw. 16/1545 - Kl. Anfrage 16/1598 - Zur Gegenäußerung BR: BT 16/1969