© 2013 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 145/13 Verfassungsrechtliche Fragen zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für Kinder Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 2 Verfassungsrechtliche Fragen zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für Kinder Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 145/13 Abschluss der Arbeit: 22. November 2013 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Aussagen und Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung des Kinderexistenzminimums 4 1.1. Allgemeines 4 1.2. Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit 4 1.3. Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums 4 1.4. Betreuungs- und Erziehungsbedarf 5 2. Inwieweit hängen der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes sowie der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes und das Kindergeld ökonomisch und rechtlich zusammen? 6 2.1. Freibeträge 6 2.2. Kindergeld 6 2.3. Bedeutung der Günstigerprüfung 7 3. Inwieweit bedingt eine Änderung der Freibeträge für Kinder eine Änderung des Kindergeldes? 8 4. Ist es verfassungsrechtlich geboten, dass bereits bei der Erhebung der Lohnsteuer und damit des Solidaritätszuschlags (SolZ) eine sachgerechte Berücksichtigung der Freibeträge für Kinder erfolgt? 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 4 1. Aussagen und Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung des Kinderexistenzminimums 1.1. Allgemeines Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) fordert das Grundgesetz (GG) durch Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerecht bestimmter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt wird. Darüber hinaus gebietet Art. 6 Abs. 1 GG, dass bei der Besteuerung der Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleibt. Ferner fordert Art. 3 Abs. 1 GG, die Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit auszurichten. Danach müssen Steuerpflichtige nach dem Gebot der horizontalen Steuergerechtigkeit bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch besteuert werden. Bei allen Steuerpflichtigen muss unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz eine verminderte Leistungsfähigkeit durch Unterhaltspflichten gegenüber einem Kind berücksichtigt werden.1 1.2. Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit2 Das Existenzminimum muss auch bei hohen Einkommen des Steuerpflichtigen steuerfrei bleiben. Nur derjenige Teil des Einkommens darf überhaupt der Besteuerung unterworfen werden, welcher den für das Existenzminimum festgelegten Betrag übersteigt. Dies folgt aus dem aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit als Ausprägung des Gebots der Steuergleichheit.3 Denn durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder wird die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern im Gegensatz zu kinderlosen Paaren mit gleichem Ausgangseinkommen gemindert. In Höhe des Existenzminimums der Kinder ist dabei das Einkommen der Eltern gebunden und steht ihnen nicht zur freien Verfügung. 1.3. Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums Die Höhe des Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen sowie den in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarfen ab.4 Zur Quantifizierung des steuerrechtlichen Existenzminimums knüpft das BVerfG an die sozialrechtlich normierten Bedarfe an, die verbrauchsbezogen ermittelt und ständig den sich wandelnden Lebensverhältnissen angepasst werden. Jedenfalls der Betrag, der als existenznotwendiger Bedarf im Sozialrecht festgelegt und der dem mittellosen Bürger als staatliche Leistung zur Verfügung gestellt wird, muss auch dem Steuerpflichtigen nach Abzug der Einkommensteuer von seinem Einkommen verbleiben . Die sozialrechtlich festgelegten Mindestbedarfe bilden daher die Untergrenze für das steu- 1 BVerfG, Beschluss vom 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, Rn. 1657. 2 BVerfGE 82, 60, Rz. 101 ff; BVerfGE 110, 412; BVerfGE 99, 216, Rz. 66 ff; vgl. zum Leistungsfähigkeitsprinzip auch Birk/Wernsmann, JZ 2001, S. 218 ff. 3 Das Gebot der Steuergleichheit fordert zumindest für die direkten Steuern eine Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. 4 BVerfG, Beschluss vom 25.9.1992 – 2 BvL 5/91, NJW 1992, Rn. 3153. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 5 errechtliche Existenzminimum.5 Explizit abgelehnt hat das BVerfG dagegen eine Zugrundelegung des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruches, welcher dem Kind gegen die Eltern zusteht, da dieser den sozialen Status der Familie berücksichtige.6 Um die Einfachheit und Klarheit der steuerrechtlichen Regelungen7 soweit wie möglich zu gewährleisten , kann der Gesetzgeber die Beträge für das steuerrechtliche Existenzminimum typisieren und pauschalieren. Dabei muss das Ziel verfolgt werden, möglichst eine vollumfängliche Freistellung der existenzsichernden Aufwendungen von der Steuer für alle Gruppen von Steuerzahlern zu erreichen.8 Zwar muss nicht jedem Einzelfall Rechnung getragen werden, eine Pauschalierung , die von vornherein bei Beziehern bestimmter (höherer) Einkommen eine Freistellung des Bedarfs nicht erreicht, genügt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Dies ist nicht mit einer Vereinfachung im Masseverfahren zu rechtfertigen, ebenso wenig mit der höheren Leistungsfähigkeit dieser Gruppe.9 1.4. Betreuungs- und Erziehungsbedarf Neben den Aufwendungen für den existenziellen Sachbedarf des Kindes wird die Leistungsfähigkeit der Eltern nach der Rechtsprechung des BVerfG durch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf als Bestandteil des steuerlichen Kinderexistenzminimums gemindert.10 Es fordert daher eine Berücksichtigung dieses Bedarfs bei der Bemessung der Einkommensteuer, da Eltern gegenüber kinderlosen Steuerzahlern sonst benachteiligt würden (Verletzung des Gebots der horizontalen Steuergleichheit). Zum Betreuungsbedarf führt das BVerfG aus, dass dieser einkommensteuerlich unbelastet bleiben müsse, ohne dass es darauf ankomme, wie der Bedarf gedeckt werde, also durch persönliche oder Fremdbetreuung.11 Unter Erziehungsbedarf versteht es die Aufwendungen der Eltern, die dem Kind die persönliche Entfaltung, seine Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ermöglichen, z.B. durch Mitgliedschaft in Vereinen, Erlernen moderner Kommunikationstechniken und Zugang zu Kultur- und Sprachfertigkeit.12 Zur konkreten Höhe oder den vom Betreuungsbedarf erfassten Aufwendungen macht das BVerfG dem Gesetzgeber keine Vorgaben. In Umsetzung dieser Rechtsprechung wurde durch das Gesetz zur Familienförderung13 mit Wirkung ab 1. Januar 2000 der Betreuungsfreibetrag eingeführt, der 5 BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, NJW 1990, 2869, BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, NJW 1999, 557. 6 BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, NJW 1990, 2869. 7 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt das Gebot der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten, welches die Einfachheit und Klarheit steuerrechtlicher Regelungen verlangt, vgl. BVerfGE 99, 216, Rz. 94. 8 BVerfG, Beschluss vom 25.9.1992 - 2 BvL 5/91, NJW 1992, 3153. 9 BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, NJW 1999, 559. 10 BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, NJW 1999, 561. 11 BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, NJW 1999, 560. 12 BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, NJW 1999, 561. 13 BGBl. I 1999, 2552. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 6 durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung14 mit Wirkung ab Veranlagungszeitraum 2002 durch eine Erziehungs- und Ausbildungskomponente ergänzt wurde. 2. Inwieweit hängen der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes sowie der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes und das Kindergeld ökonomisch und rechtlich zusammen? Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Gesetzgeber frei, die verfassungsrechtlich geforderte Freistellung des Existenzminimums von der Besteuerung durch Gewährung von Freibeträgen oder im Wege von Ausgleichszahlungen im Sozialrecht zu bewirken. Auch ein Mischsystem sei denkbar. In der Wirkung jedoch müsse die sozialrechtliche Lösung einer Freistellung durch Freibeträge gleichkommen.15 2.1. Freibeträge Die Freistellung durch Freibeträge erfolgt durch Abzug in entsprechender Höhe von der Bemessungsgrundlage . Seit dem Veranlagungszeitraum 2010 wird für das sächliche Existenzminimum ein Freibetrag in Höhe von 2.184 Euro16 und für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf ein Freibetrag in Höhe von 1.320 Euro für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen gewährt (= hälftiges Existenzminimum, dass jeweils von einem Elternteil zu tragen ist), § 32 Abs. 6 EStG.17 Bei Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden (§§ 26, 26b EStG), und in einigen in Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 und 2 aufgezählten Fällen, wenn beispielsweise der andere Elternteil verstorben ist, verdoppeln sich die Beträge, so dass sie das gesamte Existenzminimum umfassen. In diesen Fällen werden für jedes Kind 4.368 Euro und 2.640 Euro (= 7.008 Euro) steuerlich berücksichtigt. 2.2. Kindergeld Kindergeld kann nach der jeweiligen Gesetzeskonzeption verschiedene Zwecke verfolgen: Zum einen kann es die Funktion haben, die kindbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszugleichen (vorliegend als steuerrechtliche Ausgleichsfunktion bezeichnet). Zum anderen kann es die Funktion einer allgemeinen Sozialleistung besitzen. Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Kindergeldregelungen ist also danach zu differenzieren, welche Funktion des Kindergelds jeweils betroffen ist.18 In seiner Entscheidung vom 29.05.199019 14 BGBl. I 2001, 2974. 15 BVerfG, Beschluss vom 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004,1658; BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, NJW 1990, Rn. 2869. 16 Laut Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2014 (Neunter Existenzminimumbericht) vom 7.11.2012 ist erst ab dem Veranlagungszeitraum 2014 eine Erhöhung des Kinderfreibetrags erforderlich, BT-Drs. 17/11425, S. 7. 17 Die Erhöhung erfolgte mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, BGBl. I 2009, 3950. 18 BVerfG, Beschluss vom 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, Rn. 1657. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 7 wies das BVerfG darauf hin, dass eine Kürzung des Kindergeldes ab einer bestimmten Einkommenshöhe nach der damals geltenden Rechtslage20 dann nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden gewesen wäre, wenn die steuerliche Entlastung durch Kinderfreibeträge erfolgt wäre. Hintergrund dessen ist, dass dann das Kindergeld nur in seiner Funktion als Sozialleistung betroffen gewesen wäre, nicht mehr jedoch in seiner steuerlichen Ausgleichsfunktion. Das BVerfG führt dazu in Rz. 91 aus: „Da das Kindergeld die besondere wirtschaftliche Belastung der Eltern durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder teilweise ausgleichen soll, kann bei den Empfängern nach dem unterschiedlichen Grad differenziert werden, in dem die kindesbedingte wirtschaftliche Belastung die Familie trifft.“ Weiter in Rz. 95: „§ 10 II BKGG ist jedoch deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil das gekürzte Kindergeld […] nicht mehr in verfassungsmäßiger Weise seiner Funktion gerecht geworden ist, der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen , die durch den Unterhalt ihrer Kinder bedingt ist, Rechnung zu tragen.“ 2.3. Bedeutung der Günstigerprüfung Nach der heutigen Regelung in § 31 EStG hat sich der Gesetzgeber für ein „Optionsmodell“21 entschieden , nach welchem die Freistellung entweder durch Kindergeld oder durch Freibeträge bewirkt wird, § 31 Abs. 1 Satz 1 EStG. Kindergeld nach §§ 31, 62 ff. EStG wird monatlich für jeden Steuerpflichtigen unabhängig vom Einkommen in gleicher Höhe ausgezahlt, § 66 EStG. Gleichzeitig hat der Steuerpflichtige seine Lohnsteuer abhängig vom Einkommen in unterschiedlicher Höhe monatlich zu entrichten. Erreicht das Kindergeld nicht die Höhe, die zur Freistellung des steuerlichen Existenzminimums erforderlich ist22, so kann der verfassungsmäßige Zustand nur unter Zugrundelegung der Freibeträge gem. § 32 Abs. 6 EStG hergestellt werden. Ist das Kindergeld dagegen höher als dieser Betrag, so stellt es in Höhe des überschießenden Teils eine Sozialleistung dar, die der Förderung der Familie dient, vgl. § 31 Satz 2 EStG. Die Frage, ob nach diesen Grundsätzen Kindergeld oder die Freibeträge gewährt werden, wird anhand einer von der Finanzbehörde von Amts wegen vorzunehmenden Vergleichsrechnung, der sogenannten „Günstigerprüfung“, entschieden, vgl. § 31 Satz 4 EStG.23 Den Vergleich nimmt das Finanzamt wie folgt vor: Zunächst wird die steuerliche Wirkung der Freibeträge ermittelt, die sich aus der Differenz der tariflichen Einkommensteuer des Steuerpflichtigen einmal mit und einmal ohne Berücksichtigung der Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG ergibt. 19 BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, NJW 1990, Rn. 2869. 20 Zum Zeitpunkt der Entscheidung ergänzten sich Kindergeld und Kinderfreibetrag, so dass sich erst aus ihrer Summe der entsprechenden Entlastungsbetrag ergab. 21 M. Preißer/J. Schneider, Einkommensteuerrecht von A bis Z, 2006, S. 506. 22 Aufgrund des progressiven Steuersatzes wird die Differenz mit steigendem Einkommen größer. 23 Loschelder, in: L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, 30. Aufl. 2011, § 31 Rz. 10 f.; M. Preißer/J. Schneider, Einkommensteuerrecht von A bis Z, 2006, S. 506 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 8 Dieser Differenzbetrag wird in einem zweiten Schritt dem Betrag des Kindergeldanspruchs gegenübergestellt . Ist letzterer höher, so bleibt es bei der Auszahlung des Kindergeldes. Ist dagegen die steuerliche Wirkung der Freibeträge größer, so müssen die dem Steuerpflichtigen zustehenden Freibeträge bei der Veranlagung von der Bemessungsgrundlage (dem Einkommen) abgezogen werden und, um eine Doppelberücksichtigung des Kindes zu vermeiden, der Betrag des Kindergeldes der ermittelten tariflichen Einkommensteuer hinzugerechnet werden. 3. Inwieweit bedingt eine Änderung der Freibeträge für Kinder eine Änderung des Kindergeldes ? Der Familienleistungsausgleich, zu dessen Kern das Kindergeld und die Freibeträge gehören, muss hinsichtlich der Höhe des Kindergeldes und der Höhe der Freibeträge das Gebot der Freistellung des Kinderexistenzminimums berücksichtigen. Das BVerfG befasste sich in seiner Entscheidung vom 6.5.2004 mit der Frage, ob die Einführung des Betreuungsfreibetrages und damit die Erhöhung des Freibetrags für Kinder in der Neuregelung durch das Familienförderungsgesetz vom 22.12.1999 eine entsprechende Erhöhung des Kindergeldes mit sich führen müsse.24 Das BVerfG führte dazu aus, dass es dem Gesetzgeber grundsätzlich freistehe, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit durch Entlastung im Steuerrecht durch Freibeträge und/oder durch die Gewährung von Kindergeld zu bewirken.25 Zu beachten habe der Gesetzgeber dabei jedoch, dass er bei der Umrechnung von Kindergeld in den Freibetrag den verfassungsrechtlichen Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit berücksichtigen müsse, wonach Steuerpflichtige bei gleicher Leistung auch gleich hoch zu besteuern sind. Der Gesetzgeber sei jedoch nicht gehalten , jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen. So lasse sich weder aus Art. 6 Abs. 1 GG noch etwa aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Erhalt von Kindergeld zur Förderung der Familie in einer bestimmten Höhe ableiten. Das Kindergeld diene nach der gesetzgeberischen Konzeption, soweit es zur steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes nicht erforderlich sei, der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Eine darüber hinausgehende Erhöhung des Kindergeldes beträfe dann den Teil des Kindergeldes, der zur Förderung der Familie bestimmt sei.26 Nach diesem Maßstab bedingt eine Änderung des Freibetrages nur dann eine Änderung des Kindergeldes , wenn dies zur steuerlichen Freistellung des Kinderexistenzminimums erforderlich ist. 24 BVerfG, Urteil vom 6.5.2004 – 2 BvR 1375/03, DStRE 2004, 1345. 25 BVerfG, Urteil vom 6.5.2004 – 2 BvR 1375/03, DStRE 2004, 1346, vgl. auch: BVerfG, Beschluss vom 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004,1658. 26 BVerfG, Urteil vom 6.5.2004 – 2 BvR 1375/03, DStRE 2004, 1346, vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 8.6.2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, Rn. 1659. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 9 4. Ist es verfassungsrechtlich geboten, dass bereits bei der Erhebung der Lohnsteuer und damit des Solidaritätszuschlags (SolZ) eine sachgerechte Berücksichtigung der Freibeträge für Kinder erfolgt? Die Freibeträge, die nach der sog. Günstigerprüfung (siehe oben 2.3) bei nicht ausreichender steuerlicher Entlastung durch das Kindergeld zur Anwendung kommen, sind Jahresbeträge und entsprechen damit der Einkommensteuer als Jahressteuer. Bei der Bemessung der Einkommensteuervorauszahlungen einschließlich der Lohnsteuer werden die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG nicht vom Einkommen abgezogen. Die steuerliche Erfassung erfolgt für Arbeitnehmer in Rahmen der Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG. Dieses Antragserfordernis für die Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG zur steuerliche Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen kann kritisch betrachtet werden. Die Forderung des BVerfG, das Existenzminimum der Familie steuerfrei zu stellen, verbiete es, die zutreffende und leistungsgerechte Besteuerung von einem Antrag des Steuerpflichtigen abhängig zu machen. Denn die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung des Existenzminimums der Familie verbiete jegliche verfahrensrechtlichen Schranken, durch die Steuerpflichtige mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen Steuerpflichtigen belastet werden.27 Wie bereits festgestellt, hat der Gesetzgeber Spielraum, auf welche Weise er die verfassungsrechtlich geforderte Freistellung des Kinderexistenzminimums bewirkt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Neuregelung des Familienleistungsausgleich verfassungsgemäß.28 Eine Änderung des Familienleistungsausgleichs ist insofern nicht geboten. Das BVerfG hat es auch als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft, dass sich durch die Neuregelung der Anteil derjenigen Steuerpflichtigen erhöht hat, bei denen die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums nicht schon durch das Kindergeld erreicht ist, sondern erst durch Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG bewirkt wird.29 Auch eine übermäßige Besteuerung finde in Folge des Familienleistungsausgleichs nicht statt. Bei der Mehrzahl der Steuerpflichtigen übernehme bereits das Kindergeld die steuerliche Entlastung .30 Bei denjenigen Steuerpflichtigen mit hohen Einkommen, bei denen das Kindergeld nicht die gebotene steuerliche Entlastung bewirkt, findet zwar während des Veranlagungszeitraums zunächst eine zu hohe Besteuerung statt, diese würde jedoch dann wieder bei der Veranlagung 27 Kanzler in: Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz: EStG KStG Kommentar , Ergänzungslieferung: September 2010, Rn. 34. 28 Vgl. beispielsweise BVerfG, Urteil vom 6.5.2004 – 2 BvR 1375/03, DStRE 2004, 1345. 29 BVerfG, Urteil vom 6.5.2004 – 2 BvR 1375/03, DStRE 2004, 1345, 1346. 30 Selder, in Blümich, Kommentar zum EStG, KStG, GewStG, 120. Auflage, § 31 EStG, Rz. 25. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 145/13 Seite 10 von Amts wegen im Rahmen der Günstigerprüfung durch die Gewährung von Freibeträgen ausgeglichen werden.31 Des weiteren begegne es auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Kinderfreibeträge nicht bereits im Lohnsteuerabzugsverfahren berücksichtigt werden, denn die Zinsnachteile, die sich daraus ergeben, dass die das Kindergeld übersteigende steuerliche Entlastung erst nach Ablauf des Jahres berücksichtigt wird und nicht bereits bei der Veranlagung und Lohnsteuer, seien eher gering. Bei einer Abwägung zwischen einer Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens und der Zinsnachteile seien diese Nachteile als vernachlässigenswert einzustufen.32 31 andere Ansicht Kanzler, in: Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz: EStG KStG Kommentar, Ergänzungslieferung: September 2010, Rn. 10, wonach gegen das Gebot der Belastungsgerechtigkeit verstoßen wird, weil Familien mit Kindern zunächst so besteuert werden wie Kinderlose. 32 BFH, Urteil vom 26.2.2002 – VIII R 92/98, DStRE 2002, 763, 764.