© 2019 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 126/19 Die Verfassungsmäßigkeit der Zinsberechnung gemäß § 238 AO Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 4 1. Einleitung Durch die veränderte Geldmarktpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) infolge der Finanzmarktkrise sind die Zinsen in der Eurozone auf ein historisches Tief gesunken. Seit März 2016 gilt ein Leitzins von 0%. Eine Verbesserung ist nicht in Sicht. Die EZB geht weiterhin davon aus, dass der Leitzins für längere Zeit auf einem niedrigen Niveau bleiben wird.1 Es verwundert daher nicht, dass auch der Basiszinssatz gemäß § 247 BGB gesunken ist. Er beträgt seit dem 01. Juli 2016 unverändert nur noch - 0,88 %.2 Anders ist es nur im Steuerrecht. Steuernachzahlungen und Steuererstattungen werden gemäß §§ 233a in Verbindung mit 238 Abgabenordnung (AO) nach wie vor mit einem halben Prozent für jeden vollen Monat verzinst. Das ergibt eine jährliche Verzinsung von 6%. Aufgrund dieser Diskrepanz, ist die starre Verzinsung gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO seit einiger Zeit vermehrter Kritik ausgesetzt.3 Der Zinssatz sei weder realitätsgerecht noch verfassungsgemäß. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat im Jahr 2018 in mehreren Verfahren zur Aussetzung der Vollziehung (AdV)4 verfassungsrechtliche Zweifel an der Zinshöhe in § 233a AO geäußert. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat jedoch bisher an der Regelung festgehalten.5 Der Zinssatz sei weder willkürlich noch verletze er Gleichheitsrechte der Steuerpflichtigen. Das gilt jedenfalls für die Veranlagungszeiträume bis 2011.6 Ob das auch für die aktuelleren Zeiträume gilt, wird das BVerfG voraussichtlich noch im Jahr 2019 entscheiden.7 Vor diesem Hintergrund gibt der nachfolgende Beitrag zunächst in der gebotenen Kürze eine Einführung in das Zinssystem der Abgabenordnung. Anschließend werden die Tendenzen der Rechtsprechung unter Berücksichtigung der aktuellen Zinsentwicklung aufgezeigt. Ziel dieser Ausarbeitung ist es, die Regelung des § 238 AO einer verfassungsrechtlichen Würdigung zu unterziehen . 1 Zeit online vom 25. Juli 2019 https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-07/ezb-leitzins-entscheidung-konjunktur 2 Basiszinssatz bekanntgeben durch die Deutsche Bundesbank, https://www.bundesbank.de/de/bundesbank/organisation /agb-und-regelungen/basiszinssatz-607820 3 Aus der Fachliteratur u.a. Beckmann/Thiele, BB 2016, 2829 – 2844; Ortheil, BB 2015, 675 – 676; Seer, DB 2014, 1945 – 1953 ; Hey, FR 2014, 485 – 528 ; Loose. DStJG (31) o8, 218. 4 BFH, Beschluss v. 25.April 2018 – IX B 21/18, Beschluss vom 3. September 2018 – VIII B 15/18. 5 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 03. September 2009 - 1 BvR 2539/07. 6 BFH, Urteil vom 01. Juli 2014 – IX R 31/13 Rn. 21. 7 Jahresübersicht der voraussichtlichen Entscheidungen des BVerfG für 2019: Nr. 25 Az: 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17; https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresvorausschau/vs_2019/vorausschau _2019_node.html Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 5 2. Das Zinssystem der Abgabenordnung Der Zweite Teil der Abgabenordnung regelt die Verzinsung und Säumniszuschläge. Letztere dienen der Verwaltung als Druckmittel gegen den Steuerschuldner, der eine fällige Steuerschuld nicht begleicht. Zinsen sind nach Laufzeit bemessene Vergütungen für die zeitlich begrenzte Überlassung oder Vorenthaltung von Kapital.8 Sie setzen einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis voraus. Die einzelnen Tatbestände, wann eine Verzinsung erfolgt, hat der Gesetzgeber für das allgemeine Steuerverfahrensrecht abschließend in den §§ 233 a – 237 AO geregelt. Gemäß § 233 a AO werden Steuernachzahlungen und Steuererstattungen verzinst. 2.1. Zweck der Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen Ziel der Besteuerung ist es, die Steuerpflichtigen im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit gleichmäßig zu besteuern. Der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist es immanent, dass die jeweiligen Steuern auch zeitgleich an den Fiskus abgeführt werden. Der Entstehungszeitpunkt der Steuer ist in den Einzelsteuergesetzen bestimmt und grundsätzlich für alle Steuerpflichtigen gleich. Unterschiedlich ist jedoch der Zeitpunkt der Fälligkeit. Bis zur endgültigen Festsetzung können unter Umständen mehrere Jahre vergehen. Die Ursachen für die Verzögerungen sind vielfältig. Sie können sowohl aus der Sphäre des Steuerpflichtigen herrühren als auch aus der des Finanzamtes. Häufig fallen hohe Zinsen an, weil sich Rechtsbehelfs- oder Gerichtsverfahren in die Länge ziehen. Ist die zuletzt festgesetzte Steuer höher, als die ursprüngliche, kommt es zu Steuernachzahlungen. Durch Verzinsung von Steuernachzahlungen sollen Vorteile abgeschöpft werden, die der Steuerpflichtige dadurch erlangt, dass er das Kapital, das materiell-rechtlich seit dem Zeitpunkt der Entstehung des Steueranspruchs dem Fiskus zusteht, gewinnbringend nutzen konnte. 9 Zudem sollen auch die Nachteile ausgeglichen werden, die der Staat dadurch erfährt, dass er das Geld nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt anlegen konnte. Im Erstattungsfall entgingen dem Steuerpflichtigen dagegen (potentielle) Zinserträge, weil er das ihm zustehende Kapital nicht zu einem früheren Zeitpunkt anlegen konnte. Ziel der Einführung der sog. Vollverzinsung ist folglich das Abschöpfen von Liquiditätsvorteilen bzw. -nachteilen. Einhergehend damit soll eine gleichmäßige Besteuerung sichergestellt und Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. 2.2. Höhe der Zinsen Für die Berechnung eines Zinsanspruchs nach den §§ 233a – 237 AO gilt im Steuerverfahrensrecht einheitlich § 238 AO. Nach § 238 Abs. 1 S. 1 AO sind Steuernachzahlungen ebenso wie 8 Heuermann in HHSP, vor §§ 233 – 239 AO Rz. 2, Februar 2015. 9 BT- Drucksache 11/2157 S. 194. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 6 Steuererstattungen für jeden vollen Monat mit einhalb Prozent zu verzinsen. Das ergibt einen jährlichen Zins von 6 %. Die Entscheidung für einen einheitlichen und festen Zinssatz in Höhe von 0,5 % monatlich fiel bereits im Jahre 1961.10 Zum damaligen Zeitpunkt gab es jedoch noch keine Vollverzinsung. Diese wurde erst mit dem Steuerreformgesetz von 1990 eingeführt.11 Das Problem, dass die Steuer zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgeführt wird, war bereits 1961 präsent, dennoch war eine allgemeine Verzinsung von Steueransprüchen aufgrund fehlender technischer Mittel nicht umsetzbar.12 Eine individuelle Berechnung des Zinsanspruchs für jeden einzelnen Steuerpflichtigen wäre in den frühen sechziger Jahren mit einem erheblichen Verwaltungsmehraufwand verbunden gewesen. Ein variabler Zinssatz war ebenso wenig denkbar. Mit dem technischen Fortschritt führte der Gesetzgeber 1990 die Vorschrift des § 233 a AO ein. Aus Gründen der Praktikabilität hielt man jedoch an der geltenden Zinshöhe von 0,5 % für jeden Monat fest.13 Obwohl in der Verwaltung bereits moderne EDV-Systeme etabliert waren, überwog für den Gesetzgeber das Argument der Verwaltungsvereinfachung durch die Beibehaltung des pauschalen und festen Zinssatzes gemäß § 238 AO. 3. Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung Der verzögerte Beginn des Zinsanspruchs des § 233 a AO führt dazu, dass es zinspflichtige und zinsfreie Steuerschulden gibt, sowie Erstattungsansprüche mit Zinsanteilen und solche ohne Zinsen . Der Gesetzgeber hat im Steuerrecht einen großen Gestaltungsspielraum.14 Zinsen auf öffentlichrechtliche Ansprüche müssen von Verfassungs wegen nicht erhoben werden. Grenzen bilden letztlich der allgemeine Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip . Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt ein Übermaßverbot sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . 10 BT-Drucksache 3/2573 S. 35. 11 BT- Drucksache 11/2157 S. 194. 12 BT-Drucksache 3/2573 S. 33 ff. 13 BT- Drucksache 11/2157 S. 194. 14 Heuermann in HHSp, vor §§ 233 – 239 AO Rz. 9, Februar 2015. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 7 3.1. Typisierung versus Gleichheitssatz Die Frage, ob die in § 233 a AO geregelte Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuernachzahlungen verfassungsgemäß ist, bejahte das BVerfG im Jahre 2009.15 Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Ungleichbehandlungen dürfen nicht willkürlich sein. Sie bedürfen einer sachlichen Rechtfertigung und dürfen nicht unverhältnismäßig sein. Das heißt, sie müssen einen legitimen Zweck verfolgen, müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Entscheidende Bedeutung ist dabei dem Regelungsgegenstand und dem Differenzierungsgrund beizumessen. Der Regelungsgegenstand ist hier das Steuerrecht. Steuergesetze betreffen in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens. Sie müssen, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie steuerrechtliche Folgen knüpfen, typisieren und damit die Besonderheiten des einzelnen Falls vernachlässigen.16 Nur einen atypischen Fall darf der Gesetzgeber nicht als Leitbild wählen. „Mit der Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens am Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässigen typisierenden Annahme, dass derjenige , dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber denjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen potentiellen Zinsvorteil hat.“17 Auf das subjektive Anlegerverhalten kann es dabei nicht ankommen. Steuerverfahren sind Massenverfahren . Daher können die Zinsansprüche nicht für jeden Steuerpflichtigen individuell berechnet werden. 18 3.2. Typisierung versus Rechtsstaatsprinzip Die typisierende Regelung, die der Gesetzgeber aus Gründen der Praktikabilität für eine Vielzahl von Fällen verwendet, muss zudem verhältnismäßig sein und darf den Steuerpflichtigen nicht auf eine übermäßige Art und Weise belasten. 15 BVerfG, Beschluss vom 03. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 12 ff. 16 BVerfG, Beschluss vom 03. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 17. 17 BVerfG, Beschluss vom 03. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 21. 18 BVerfG, Beschluss vom 03. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 8 Der Umstand, dass die Zinsen pauschal für jeden Steuerpflichtigen gelten, beruht auf Vereinfachungsgründen . Die Komplexität der Materie lasse es nicht zu, den Zinsanspruch für jeden Steuerpflichtigen individuell zu bestimmen. 19 Dafür bedürfe es eines festen Zinssatzes. Eine Anpassung an den jeweiligen Marktzins oder an den Basiszinssatz nach § 247 BGB würde wegen dessen erheblichen Schwankungen auch zu praktisch erheblichen Schwierigkeiten führen.20 In vielen Fällen sei eine solche Ermittlung gar nicht möglich, weil es von der subjektiven Entscheidung des Steuerpflichtigen abhänge, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziere oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Geld verwende.21 Zudem sei bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, dass der hohe Zinssatz der §§ 233a i.V.m. 238 AO auch zu Gunsten des Steuerpflichtigen gilt.22 4. Verfassungsrechtliche Bewertung unter Berücksichtigung der Zinsentwicklung Das BVerfG23 hatte bereits im Jahre 1984 entschieden, dass die pauschale Festlegung von Zinssätzen zwar grundsätzlich gerechtfertigt sein kann und zweckdienlich ist. Allerdings muss sich die Pauschalisierung an den wirtschaftlichen Verhältnissen realitätsgerecht widerspiegeln. Sofern sich die wirtschaftliche Realität einschneidend ändere, könne es geboten sein, die Regelung bzw. den Zinssatz zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. 4.1. Stand der Rechtsprechung Aufgrund der Diskrepanz zwischen der Zinsentwicklung am Kapitalmarkt und der im Steuerverfahrensrecht gab es zuletzt mehrere Entscheidungen des BFH. So entschied der 1. Senat des BFH am 20.04.201124, dass die Pauschalierung in § 233 a AO verfassungsgemäß sei. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, den Zinssatz des § 238 AO an die Entwicklung der Kapitalmarktzinsen anzupassen bestehe nicht. Trotz des signifikant niedrigeren Zinsniveaus für Geldanlagen am Kapitalmarkt im Zeitraum von 2003 bis 2005 werde das zulässige Maß typisierender Vorteilsabschöpfung in Steuernachzahlungsfällen nicht überschritten. Unabhängig davon könne als Vergleichsmaßstab nur der gemittelte Wert der Schuld- und Guthabenzinsen zugrunde gelegt werden. 19 BVerfG, Beschluss vom 3. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 29. 20 BT- Drucksache 8/1410, S.3. 21 BVerfG, Beschluss vom 3. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 29. 22 BVerfG, Beschluss vom 3. September 2009 – 1 BvR 2539/07, Rz. 29. 23 BVerfG, Urteil vom 28. November 1984 – 1 BvR 1157/82. 24 BFH, Urteil vom 20.April 2011 – I R 80/10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 9 Auch für die Veranlagungszeiträume bis 2011 sah der BFH25 keinen Grund für eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG. Zinsschwankungen seien normal und auch bis 2011 nicht so signifikant, dass das BVerfG über den § 238 AO urteilen müsste. Mit der AdV-Entscheidung vom April 2018 stellte der BFH26 dann fest, dass „die angegriffene Zinshöhe in § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO begegnet durch ihre realitätsferne Bemessung mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Übermaßverbot für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln (begegnet). Es bestehen schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel , ob die Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist.“27 „Der gesetzlich festgelegte Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO überschreitet für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße. Das Niedrigzinsniveau stellt sich jedenfalls für den Streitzeitraum nicht mehr als vorübergehende, volkswirtschaftstypische Erscheinung verbunden mit den typischen zyklischen Zinsschwankungen dar, sondern ist struktureller und nachhaltiger Natur.“28 „Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat durch § 5 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes vom 13. Juli 196129 die Typisierung des Zinssatzes mit dem Interesse an Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung begründet. Solche Erwägungen können allerdings für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 angesichts des gänzlich veränderten technischen Umfelds und des Einsatzes moderner Datenverarbeitungstechnik bei einer Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nicht mehr tragend sein.“30 Das BMF hat mit Erlass vom 2. Mai 201931 die Anwendung von Vorläufigkeitsvermerken für die Zinsfestsetzung nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO angeordnet. Im Vorläufigkeitsvermerk heißt es: „Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführte gesetzliche Vorschrift mit hö- 25 BFH, Beschluss vom 21.10.2015 - V B 36/15; Urteil vom 01.07.2014 - IX R 31/13. 26 BFH, Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18, Rz. 15 (juris), BFHE 260, 431. 27 BFH: ebenda. 28 BFH: ebenda. 29 BGBl I 1961, 981, 994 f. 30 BFH: ebenda, Rn. 20 (juris) 31 BMF-Schreiben vom 2. Mai 2019 - IV A 3 - S 0338/18/10002, BStBl. I 2019, 448. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 10 herrangigem Recht vereinbar ist, als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die streitige verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschrift entscheidet (BFH-Urteil vom 30. September 2010, III R 39/08, BStBl 2011 II S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt lediglich aus verfahrenstechnischen Gründen. Sie ist nicht dahin zu verstehen, dass die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte gesetzliche Vorschrift als verfassungswidrig angesehen wird.“ 4.2. Stand der Literatur Namhafte Vertreter in der Literatur sehen für das Festhalten an dem nicht mehr realitätsgerechten Zins keine Rechtfertigungsgründe mehr.32 Insbesondere sei der überhöhte Zins nicht mehr durch den der Typisierung zugrunde liegenden Vereinfachungszweck gerechtfertigt.33 Kontrovers diskutiert wird auch die Frage nach dem Vergleichsmaßstab. Der IX. Senat des BFH rechtfertigte in seiner Entscheidung vom 01.07.2014 (Az. IX R 31/13) den Zinssatz von 6 % damit , dass die Zinsen für (kurzfristige) Konsumentenkredite an private Haushalte nicht wesentlich unter diesem Wert liegen. Unabhängig von der Frage, ob dieser Vergleich sachgerecht ist34, lassen sich derzeit bei deutschen Banken entweder nur sehr niedrige oder gar keine Zinsen erwirtschaften .35 In derselben Entscheidung (Az. IX R 31/13) hat der IX. Senat des BFH aber auch betont, dass sich seine Entscheidung nur auf die Veranlagungszeitraum bis 2011 (11.11.2004 – 21.03.2011) beziehe. Er ließ die Frage offen, ob sich in der Folgezeit die wirtschaftlichen Verhältnisse so einschneidend geändert haben, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten sein kann, die ursprüngliche Entscheidung unter Berücksichtigung der veränderten Verhältnisse zu überprüfen. In seinem AdV-Beschluss aus dem Jahr 2018 änderte der BFH seine Beurteilung des Zinsumfeldes : „Der Annahme eines verfestigten Niedrigzinsniveaus kann […] nicht entgegengehalten werden , dass bei Kreditkartenkrediten für private Haushalte Zinssätze von rund 14 v.H. oder bei Girokontenüberziehungen Zinssätze von rund 9 v.H. anfallen (so aber BFH-Urteil vom 9. November 2017 III R 10/16, BFHE 260, 9, Rz 35 f.: "Bandbreite von 0,15 % bis 14,70 %"); denn es handelt sich insoweit um Sonderfaktoren, die nicht als Referenzwerte für ein realitätsgerechtes Leitbild geeignet sind. Eine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe besteht bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht.“36 32 Hey, FR 2016, S. 490. 33 Hey, FR 2016, S. 490. 34 Ablehnend: Ortheil, BB 2015, S. 676. 35 Strotkemper, BB 2016, 1767. 36 BFH, Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18, Rz. 15 (juris), BFHE 260, 431. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 11 Durch die hohen Zinsen wirkt eine Steuernachzahlung auf den Steuerpflichtigen wie eine Sanktion . Die Sanktionierung ist allerdings nicht das Ziel der Verzinsung, sodass auch ein Vergleich mit dem § 288 BGB nicht sachgerecht wäre.37 Weiterhin ist das Argument der Praktikabilität heute unter einem anderen Blickwinkel zu sehen. Die Finanzverwaltung ist mit modernen EDV- Systemen ausgestattet. Viele der Steuerpflichtigen geben ihre Steuererklärung über das elektronische Steuerportal ELSTER ab. Die Zinsberechnungen erfolgen mithin automatisiert. Praktische Gründe dafür, dass der Zinssatz fest und bei 6% bleiben muss, sind daher nicht ersichtlich.38 Dass es möglich ist einen Zinssatz flexibel auszugestalten , zeigt der § 247 BGB. Zweifelhaft ist auch das Argument, dass die Verzinsung mit 6% sowohl zulasten als auch zugunsten des Steuerpflichtigen wirke. Einerseits besteht kein innerer Zusammenhang zwischen Nachzahlungs- und Erstattungszinsen.39 Andererseits ist die Belastung der Steuerpflichtigen durch Steuernachzahlungen viel größer als die Begünstigung.40 Allein im Jahr 2013 nahm der Fiskus ca. 1,3 Mrd. € durch Zinsen auf Steuernachzahlungen ein.41 Der eigentliche Zweck ist es Liquiditätsvorteile abzuschöpfen. Dabei muss der Gesetzgeber freilich nicht auf jede Schwankung eingehen. Die typischen Fälle erfasst der Gesetzgeber aber nur dann, wenn Schwankungen auch Schwankungen bleiben und sich nicht auf einem niedrigen Niveau stabilisieren. Dem Ziel, Zinsvorteile des Steuerpflichtigen auszugleichen, kann nur Rechnung getragen werden , wenn für ihn zumindest die Möglichkeit besteht, die zu zahlenden Zinsen durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge auch tatsächlich zu erzielen. Diese Chance besteht aber realistisch betrachtet wegen der anhaltenden Niedrigzinsphase nicht.42 Darüber hinaus hat Prof. Dr. Hey43 in Bezug auf den Glättungsgedanken bei Nachzahlungszinsen generelle Bedenken. Die Bearbeitung der Steuerbescheide ist schneller geworden. Der Steuerpflichtige kann nur über einen relativ kurzen Zeitraum über den Steuerbetrag verfügen. Das reduziert die Möglichkeit, Zeiträume niedriger Zinsen durch Hochzinsphasen auszugleichen. 37 Seer, DB 2014, S. 1948. 38 Hey, FR 2016, S. 491. 39 Hey, FR 2016, S. 491. 40 Loose in FS Kruse (2001), S. 300. 41 BT- Drucksache 18/2795, S. 4. 42 Ortheil, BB 2015, 675 (676). 43 Hey, FR 2016 S. 491. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 126/19 Seite 12 Letztlich vermag keiner der Vertreter zu urteilen welche Zeitspanne ein Beobachtungszeitraum umfasst. Doch angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten halten namhafte Stimmen in der Literatur den § 238 AO der Höhe nach für nicht mehr verfassungsgemäß.44 5. Fazit Nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG ist die Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen gemäß §§ 233 a i.V.m. 238 AO verfassungsgemäß. Der BFH hat in seinen AdV-Beschlüssen aus dem Jahr 2018 jedoch erstmal die Zinshöhe als verfassungswidrig zweifelhaft beurteilt. Mit Blick auf die vom BVerfG aufgestellten Grundsätze ist eine Rechtsprechungsänderung durchaus denkbar. Das BVerfG hat zu Beginn des Jahres eine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe in § 238 AO für 2019 angekündigt. Die Finanzverwaltung nimmt Zinsfestsetzungen momentan nur noch unter Vorläufigkeitsvermerk vor. Im Interesse einer realitätsgerechten Besteuerung plädiert die Literatur schon länger für eine Absenkung des Zinssatzes. Mit berechtigten Argumenten sieht sie die Regelung der § 233a AO in Verbindung mit § 238 AO jedenfalls der Höhe nach für verfassungswidrig und anpassungsbedürftig an. Reformvorschläge wurden bereits formuliert. Die Ausgestaltung der Höhe und Art des Zinssatzes unterliegt dabei einem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. * * * 44 Beckmann/Thiele, BB 2016, S. 2839; Hey, FR 2016 S. 491; Seer, DB 2014, 1945 ff; Loose in Tipke/Kruse, § 238 AO Rz. 2, Januar 2016; Heuermann in HHSp., § 238 AO Rz. 3, Februar 2015 (m.w.N.).