© 2020 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 122/20 Fragen zur Ausnahme des Kurzarbeitergeldes aus dem Progressionsvorbehalt nach § 32b Einkommensteuergesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fragestellung Wäre es aus steuerrechtlicher beziehungsweise steuersystematischer Sicht möglich, das Kurzarbeitergeld vom Progressionsvorbehalt (gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz - EStG) auszunehmen? Welche rechtlichen Gründe sprächen eventuelle dagegen? Welche anderen steuerrechtlichen Aspekte würden dadurch berührt? 2. Wesentlicher Inhalt von § 32b Einkommensteuergesetz § 32b Abs. 1 EStG bestimmt, dass auf das zu versteuernde Einkommen eines unbeschränkt Steuerpflichtigen ein besonderer Steuersatz anzuwenden ist, wenn er zeitweise oder während des gesamten Veranlagungszeitraums Leistungen oder Einkünfte nach § § 32b Abs. 1, 1a EStG erhalten beziehungsweise erzielt hat. Diese Leistungen sind steuerfrei (oder durch ein Doppelbesteuerungsabkommen von der Einkommensteuer befreit). Zu den steuerfreien Leistungen gehört auch das Kurzarbeitergeld (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a EStG). Der besondere Steuersatz ergibt sich gemäß § 32b Abs. 2 Satz 1 EStG, indem der Steuersatz für das zu versteuernde Einkommen zuzüglich der dem Progressionsvorbehalt unterliegenden steuerfreien Einkünfte nach dem jeweils anzuwendenden Tarif in § 32a EStG (in Prozent) ermittelt wird. Dieser besondere Steuersatz ist auf das zu versteuernde Einkommen ohne die steuerfreien Leistungen anzuwenden.1 Der Progressionsvorbehalt wurde durch das Einkommensteuer-Reformgesetz (EStRefG) vom 5. August 19742 eingefügt. Die Anwendung des Progressionsvorbehalts auch auf das Kurzarbeitergeld erfolgte durch das 2. Haushaltsstrukturgesetz (HStruktG) vom 22. Dezember 19813. In der entsprechenden Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses4 wird zur Begründung der Erweiterung des Progressionsvorbehalts auf Sozial- oder Lohnersatzleistungen wie das Kurzarbeitergeld ausgeführt: „Im Hinblick auf das Leistungsbilanzdefizit, den Umstrukturierungsbedarf der deutschen Wirtschaft und die geld- und kapitalmarktpolitischen Erfordernisse und damit zur langfristigen Sicherung der Arbeitsplätze ist es notwendig, die Investitionstätigkeit anzuregen, die Dynamik öffentlicher Ausgaben zu begrenzen und die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte zurückzuführen.“ 1 Dißars in: Frotscher/Geurts, EStG, § 32b EStG Randziffer 70ff., Stand: 15. Juli 2017, Haufe Steuer Office Kanzlei- Edition. 2 Bundesgesetzblatt (BGBl) I 1974, Seite 1769. 3 BGBl I 1981, Seite 1523. 4 Bundestags-Drucksache 9/971, Seite 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 122/20 Seite 5 In den vergangenen Jahren wurde der Anwendungsbereich des Progressionsvorbehalts auf weitere steuerfreie Einnahmen erweitert, zuletzt unter anderem auf das Elterngeld.5 3. Funktion des Progressionsvorbehalts Durch den Progressionsvorbehalt verfolgt der Gesetzgeber das fundamentale und übergeordnete Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Auch steuerfreie Einnahmen erhöhen seiner Meinung nach die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen.6 Ohne § 32b EStG würden die jeweiligen Einnahmen nicht nur nicht in die Bemessungsgrundlage einbezogen, sondern es ergäbe sich aufgrund des progressiven Verlaufs des Einkommensteuertarifes auch ein niedriger Durchschnittssteuersatz für die steuerpflichtigen Einkünfte. Insoweit könnten bezogener Arbeitslohn plus zeitweise bezogene steuerfreie Lohnersatzleistungen in der Summe über dem Nettolohn bei durchgehender Beschäftigung liegen. Dies soll durch den Progressionsvorbehalt verhindert werden.7 Demgegenüber wird auch die Meinung vertreten, dass eine Besteuerung nicht erforderlich sei. Die Einnahmen insbesondere durch Lohnersatzleistungen seien bereits steuerlich vorbelastet, weil Berechnungsgrundlage dafür der Nettolohn sei.8 In seiner Entscheidung vom 3. Mai 1995 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) oder dem Sozialstaatsprinzip durch die Einbeziehung von Lohnersatzleistungen in den Anwendungsbereich des Progressionsvorbehalts gesehen.9 4. Herausnahme des Kurzarbeitergeld aus den Progressionsvorbehalt Der Progressionsvorbehalt ist eine Spezialregelung des Einkommensteuertarifs im EStG. Die Gesetzgebungskompetenz für die Einkommensteuer steht im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 105 Abs. 2, Art. 106 Abs. 3 GG dem Bund zu. Am Aufkommen der Einkommensteuer sind der Bund und die Länder je zur Hälfte beteiligt, die Gemeinden erhalten einen Anteil. In Bezug auf verfassungsrechtliche Aspekte stellt die Abschaffung eines Steuertatbestandes grundsätzlich keinen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen dar. Vielmehr be- 5 Bundestags-Drucksache 16/1889 Seite 3.; Pfirrmann in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Auflage 2020, § 32b EStG Randnummer 6. 6 Hey in: Tipke/Lang Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 3 Randnummer 42. 7 Wagner in: Blümich EStG § 32b EStG Randnummer 15. 8 Müller, Regina: Für eine Abschaffung des Progressionsvorbehalts, in: Wirtschaftsdienst 2010, Heft 1, Seite 45 ff. 9 BVerfG vom 03. Mai 1995, 1 BvR 1176/88 (Fassung in juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 122/20 Seite 6 deutet eine Abschaffung die Beseitigung eines Eingriffs. Sofern jedoch lediglich einzelne Positionen des § 32b EStG von der Besteuerung ausgenommen werden sollen, ist dies im Licht des Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlungsgrundsatz)zu beurteilen. Nach Rechtsprechung des BVerfG ist das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.10 Das BVerfG erkennt dem Gesetzgeber eine weitgehende Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Erschließung von Steuerquellen zu. Es sei demnach grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden , welche Sachverhalte er als gleich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG werten will. Will er eine bestimmte Steuerquelle erschließen, andere hingegen nicht, dann ist der allgemeine Gleichheitssatz solange nicht verletzt, als die Differenzierung auf sachgerechten Erwägungen, beispielsweise finanzpolitischer, volkswirtschaftlicher, sozialpolitischer oder steuertechnischer Natur, beruht .11 Dazu führt das BVerfG in seiner bereits zitierten Entscheidung aus dem Jahr 199512 zur Unterwerfung des Arbeitslosengeldes unter den Progressionsvorbehalt aus, dass der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit einer Vorschrift habe, die von vielfältigen Faktoren beeinflusst wird. Er betont, dass der jeweils betroffene Sachbereich besonderen Einfluss hat, um entscheiden zu können, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt. Aus diesen Gründen dürfte eine Änderung des bestehenden Systems zumindest gesetzgeberischen Begründungsaufwand erfordern. 5. Einführung einer vollen Besteuerung des Kurzarbeitergeldes Anstelle einer völligen Steuerfreiheit oder einer Steuerfreiheit mit Progressionsvorbehalt könnte auch eine volle Besteuerung des Kurzarbeitergeldes in Betracht gezogen werden. Eine volle Besteuerung des Kurzarbeitergeldes bedürfte einer Änderung des § 3 EStG. Auch hierfür liegt entsprechend der obigen Ausführungen die Gesetzgebungskompetenz beim Bund. Die in § 3 EStG enthaltenen steuerfreien Einnahmen lassen sich im Wesentlichen in 3 Kategorien aufteilen: Sozialzwecknormen, Fiskalzwecknormen und Vereinfachungszwecknormen.13 Die Steuerfreiheit des Kurzarbeitergeldes gemäß § 3 Nr. 2 EStG verfolgt einen sozialen Zweck. Insofern ist die Einführung der vollen Besteuerung dieser Leistungen im Lichte des Sozialstaatsprinzips aus Art. 20 GG zu betrachten. 10 BVerfGE vom 07. Oktober 1980, 55, 72 (88); Nußberger in: Sachs Grundgesetz, Art. 3 GG Randnummer 13. 11 BVerfG vom 03. Mai 1995, 1 BvR 1176/88 (Fassung in juris) Randnummer 6. 12 BVerfG vom 03. Mai 1995, 1 BvR 1176/88 (Fassung in juris) Randnummer 8. 13 Hey in: Tipke/Lang Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 8 Randnummer 137. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 122/20 Seite 7 Der Anwendungsbereich des Sozialstaatsprinzips ist nicht klar abgrenzbar, sondern vielmehr flexibel . Das BVerfG berücksichtigt das Sozialstaatsprinzip in unterschiedlichen Konstellationen. Ausgangspunkt ist die allgemeine Verpflichtung, „für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“. Dieser Grundsatz lässt sich in seiner inhaltlichen Weite und Unbestimmtheit auf neu entstehende Problemstellungen beziehen. Eingegrenzt wird der Anwendungsbereich durch die Orientierung auf den „Schutz des Schwächeren“, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, und das Ziel eines menschenwürdigen Daseins für alle in den Grenzen des Territorialprinzips. Dem entspricht die Sorge um vom Schicksal besonders Benachteiligte, der Schutz bei Krankheit oder die Garantie des Existenzminimums.14 Das BVerfG führt hinsichtlich der Unterwerfung von Sozial- oder Lohnersatzleistungen wie dem Kurzarbeitergeld unter den Progressionsvorbehalt wie folgt aus:15 „Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, auch Arbeitslosenbezüge oder sonstige Einkommenssurrogate im Rahmen der Besteuerung zu berücksichtigen, sofern - wie bei vorliegender Regelung der Fall - die Grundsätze der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beachtet werden.“ Der Progressionsvorbehalt stellt gegenüber der vollen tariflichen Besteuerung eine verminderte Steuerbelastung des Steuerpflichtigen dar, die Einführung einer vollen Besteuerung dürfte zu einer Mehrbelastung für Empfänger von Sozial- oder Lohnersatzleistungen führen. Insofern könnte ein Konflikt zum Leistungsfähigkeitsprinzip bestehen, weil bereits fraglich sein dürfte, ob nicht bereits bei Empfang von Sozial- oder Lohnersatzleistungen die Grenze der Belastung der Leistungsfähigkeit erreicht ist. Dabei spielt jedoch die Belastungswirkung durch die konkrete gesetzliche Regelung und die Auslegung des zu erlassenden Gesetzes eine entscheidende Rolle. Eine pauschale Aussage zur Verfassungsmäßigkeit ist an dieser Stelle nicht möglich. § 32b EStG ist im Zusammenhang mit der sich aus § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG ergebenen Pflicht zur Veranlagung zu sehen. Wenn die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren oder die positive Summe der Einkünfte und Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen, jeweils mehr als 410 Euro beträgt, ist der Steuerpflichtige verpflichtet, eine Steuerklärung abzugeben. Nach der aktuell maßgeblichen Lohn- und Einkommensteuerstatistik aus dem Jahr 2016 wurden im Jahr 2016 insgesamt in rund 6,7 Millionen Fällen steuerpflichtige Lohn- und Einkommensersatzleistungen veranlagt.16 Aus Sicht der Finanzverwaltung dürfte ein erheblicher Verwaltungsaufwand entfallen, wenn angesichts steigender Fälle, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen, die Veranlagungspflicht entfiele. 14 Sachs in: Sachs Grundgesetz Art. 20 GG Randnummer 46. 15 BVerfG vom 03. Mai 1995, 1 BvR 1176/88 (Fassung in juris) Randnummer 11. 16 Statistisches Bundesamt, Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2016, Wiesbaden 2020. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 122/20 Seite 8 Das Kurzarbeitergeld wird vom Arbeitgeber ausgezahlt, der gegenüber der Bundesagentur einen Rückerstattungsanspruch hat und fließt dementsprechend in die Lohnsteuerberechnung ein. Sofern diese Einnahmen wie die übrigen Einkünfte aus unselbständiger Arbeit voll zu versteuern wären, könnte dies bereits bei der Berechnung der Lohnsteuer berücksichtigt werden. Eine gesonderte Veranlagung entfiele demzufolge, was zu einer Verfahrens- und Verwaltungsvereinfachung führen dürfte. Eine Änderung des bisherigen Systems durch Einführung der vollen Besteuerung wird Auswirkungen auf die Steuerlast des Steuerpflichtigen und das Steueraufkommen des Staates haben. Dabei können die Auswirkungen auf die Steuerlast des einzelnen Steuerpflichtigen unterschiedlich sein. Es kann durch den Progressionsvorbehalt beziehungsweise den Verzicht darauf konstellationsabhängig sowohl zu Steuernachzahlungen als auch zu Steuererstattungen kommen.17 Wie bereits der oben zitierten Beschlussempfehlung bei Einführung des Progressionsvorbehalts für Sozial- oder Lohnersatzleistungen zu entnehmen ist, wird durch die, wenn auch verminderte Besteuerung, zumindest auch ein Fiskalzweck zur staatlichen Einnahmenerzielung verfolgt. Laut Lohn- und Einkommensteuerstatistik aus dem Jahr 2016 sind im Jahr 2016 25,6 Mrd. Euro steuerpflichtige Lohn- und Einkommensersatzleistungen angefallen.18 Zu der konkreten Frage, wie sich ein Verzicht auf den Progressionsvorbehalt auf das Steueraufkommen auswirkt, fehlt es laut Statistischem Bundesamt an statistischen Untersuchungen und Erhebungen. * * * 17 Dazu ausführlich und mit Rechenbeispielen: Jarass, Lorenz: Mehr Einkommen bei Kurzarbeitergeld wegen Steuererstattung , in: Betriebsberater 2020, Seite 1111 ff.; Jarass, Lorenz: Wann drohen Steuernachzahlungen wegen Kurzarbeit?, in: Betriebsberater 2020, Seite 1374ff. 18 Statistisches Bundesamt, Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2016, Wiesbaden 2020.