© 2019 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 116/19 Unionsrechtliche Rahmenbedingungen eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Wohnungsgenossenschaften Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fragestellung Der Auftraggeber möchte wissen, ob de lege ferenda für Aufwendungen von genossenschaftlich organisierte Wohnungen ebenfalls ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz entsprechend der Nr. 10 des Anhangs III der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie (MwStSysRL) beansprucht werden könnte. 2. Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Wohnungsgenossenschaften In Anhang III der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSysRL) werden die unionsrechtlich zulässigen Tatbestände für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz genannt. Nr. 10 des Anhangs lautet : „Lieferung, Bau, Renovierung und Umbau von Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus “. In der englischen Fassung der Richtlinie heißt es unter Punkt 10: „provision, construction, renovation and alteration of housing, as part of a social policy“. Deutschland hat die Möglichkeit des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für den sozialen Wohnungsbau bislang nicht in das Umsatzsteuergesetz (UStG) aufgenommen. Für die Beantwortung der Fragestellung, ob auch die Bau- und Renovierungstätigkeiten von Wohnungsgenossenschaften unter den Ermäßigungstatbestand der Nr. 10 des Anhang III der MwStSysRL fallen würden, ist zunächst die Reichweite des Tatbestands zu klären (2.1.) und sodann der Rechtscharakter und die Tätigkeiten einer Wohnungsgenossenschaft zu bestimmen (2.2.). Abschließend sind die Tätigkeiten der Wohnungsgenossenschaft unter den Ermäßigungstatbestand der Nr. 10 des Anhangs III MwStSysRL zu subsumieren (2.3.). 2.1. Inhalt und Reichweite der Nr. 10 des Anhangs III MwStSysRL Die Nr. 10 des Anhangs III MwStSysRL bezieht sich Lieferungen und Leistungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Der soziale Wohnungsbau ist kein Begriff des Umsatzsteuerrechts. Der soziale Wohnungsbau nach dem am 1.1.2002 außer Kraft getretenen II. Wohnungsbauförderungsgesetz (II. WoBauG) und dem Gesetz über die soziale Wohnraumförderung (Wohnraumförderungsgesetz – WoFG) ist als ein Vertrags- und Finanzierungsinstrument organisiert. Durch unterschiedliche Formen von Subventionen (Baukosten- und Aufwendungszuschüsse, Zinsverbilligung ) werden die Mieten unter die Kostenmiete gesenkt. § 1 Abs. 1 des II. WoBauG aF enthielt eine Legaldefinition des sozialen Wohnungsbaus: „Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände haben den Wohnungsbau unter besonderer Bevorzugung des Baues von Wohnungen, die nach Größe, Ausstattung und Miete oder Belastung für die breiten Schichten des Volkes bestimmt und geeignet sind, zu fördern.“ § 1 Abs. 1 des WoFG enthält eine Legaldefinition der sozialen Wohnraumförderung. Diese besteht in der Förderung des Wohnungsbaus und anderer Maßnahmen zur Unterstützung von Haushalten bei der Versorgung mit Mietwohnraum, einschließlich genossenschaftlich genutzten Wohnraums, und bei der Bildung von selbst genutztem Wohneigentum. Der soziale Wohnungsbau als auch die soziale Wohnraumförderung sind somit Rechtsbegriffe aus dem Bau- und Wohnungsförderungsrecht. Während der soziale Wohnungsbau als hoheitliches Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 116/19 Seite 5 Aufgabenfeld definiert wird, beschreibt die Definition der sozialen Wohnraumförderung die Förderobjekte . Dazu wird in der Legaldefinition ausdrücklich auch genossenschaftlich genutzter Wohnraum gezählt. Genossenschaftlich genutzter Wohnraum kann somit grundsätzlich zum sozialen Wohnungsbau gezählt werden. Fraglich ist jedoch, ob alle wohnungsbezogenen Aktivitäten einer Wohnungsgenossenschaft dem sozialen Wohnungsbau zuzuordnen sind. 2.2. Rechtscharakter und Aufgabenfelder einer Wohnungsgenossenschaft „Eine Wohnungsgenossenschaft ist eine Personengruppe, deren Personenzahl nicht geschlossen ist, und die im Bereich des Wohnens oder der Immobilienwirtschaft gemeinsame Zwecke verfolgt . Durch gruppenmäßige Selbsthilfe soll eine wohnungs- und immobilienwirtschaftliche Besserstellung ihrer Mitglieder realisiert werden. Es handelt sich um einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Geschäftsbetrieb i.d.R. in der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft (eG), der mit der Personengruppe in einer Leistungsbeziehung steht und eine direkte oder indirekte Förderung der Genossenschaftsmitglieder erreichen soll. Die Mitgliederförderung durch Selbsthilfe ist das Wesensprinzip der Wohnungsgenossenschaft, wobei es sich um eine wirtschaftliche Nutzenstiftung (Ermöglichung der Nutzung preiswerter Wohnungen, des Erwerbs preisgünstigen Wohneigentums bzw. der Inanspruchnahme attraktiver Dienstleistungen rund um das Wohnen) handelt. Bei Wohnungsgenossenschaften geht es um eine individuelle Förderung der Mitglieder und nicht – wie bei kommunalen Wohnungsgesellschaften - um eine Versorgung breiter Schichten der Bevölkerung mit Wohnungen. Im Zusammenwirken zwischen Personenvereinigung und Geschäftsbetrieb ist das Prinzip der Doppelnatur der Genossenschaften zu sehen; außerdem sind Wohnungsgenossenschaften an den Unternehmensgrundsätzen der genossenschaftlichen Selbstverwaltung (Genossenschaftsorgane), dem Subsidiaritätsprinzip, dem Solidaritätsprinzip u.a. ausgerichtet.“1 Es gibt unterschiedliche Arten von Wohnungsgenossenschaften: „Nach den unterschiedlichen strategischen Geschäftsfeldern der Wohnungsgenossenschaft sind verschiedene Unternehmensarten zu unterscheiden, die entsprechend differierende Aufgaben für ihre Mitglieder übernehmen. a) Bei der Vermietungsgenossenschaft handelt es sich um eine Wohnungsgenossenschaft, deren Geschäftstätigkeit primär oder ausschließlich auf die Nutzungsüberlassung von Wohnungen an die Genossenschaftsmitglieder ausgerichtet ist. Wenn sich nicht weniger als 90 Prozent des Geschäftsvolumens einer derartigen Wohnungsgenossenschaft aus Einnahmen aus der Vermietung von Wohnraum an die Mitglieder ergeben, ist die Genossenschaft steuerbefreit. b) Bei der Bauträgerwohnungsgenossenschaft ist die Geschäftstätigkeit dahingehend ausgerichtet, Wohnungen oder Eigenheime zu erstellen und an die Genossenschaftsmitglieder zu verkaufen. c) Eine Kombination dieser beiden Genossenschaftsarten ist in der Vermietungs- und Eigentumswohnungsgenossenschaft gegeben, die in Deutschland die Mehrzahl der Wohnungsgenossen- 1 Gabler Wirtschaftslexikon: Wohnungsgenossenschaft; abrufbar unter: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition /wohnungsgenossenschaft-48911/version-272157 [zuletzt abgerufen am 17.9.2019] Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 116/19 Seite 6 schaften ausmacht. Die überwiegende Zahl der Wohnungsgenossenschaften führt das Vermietungsgeschäft an die Mitglieder durch und hat noch in geringerem Umfang das Bauträgergeschäft als Geschäftsfeld. d) Eine wohnungsbezogene Dienstleistungsgenossenschaft ist dann vorhanden, wenn diese für ihre Mitglieder und in geringerem Umfang für die Nichtmitglieder Leistungen anbietet, die nicht nur in der Vermietung von Wohnungen und der Vermittlung von Wohneigentum, sondern auf Geschäftsfelder „rund um das Wohnen“ ausgerichtet sind (altersgerechtes Wohnen und Versorgen , Vermittlung von immobilienbezogenen Versicherungen und Bausparverträgen, Entgegennahme von Spargeldern der Mitglieder durch die Wohnungsgenossenschaften mit Spareinrichtung ). e) Eine Dienstleistungsgenossenschaft mit immobilienwirtschaftlicher Herkunft tritt dann auf, wenn ein solches Unternehmen vielfältige Geschäftssparten übernommen hat - auch solche, die nicht dem Wohnungs- und Immobilienbereich zuzuordnen sind -, jedoch die wirtschaftshistorische Herkunft aus dem Bereich der Wohnungsgenossenschaft gegeben ist (Reisebüros, Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte , Durchführung von Handwerks- und allg. Dienstleistungen). Obwohl gegenwärtig in Deutschland die Vermietungsgenossenschaften mit Bauträgeraktivitäten dominieren , wird zukünftig in den Wohnungsgenossenschaften der Dienstleistungsbereich als Geschäftsfeld von steigender Bedeutung sein.“2 Die Tätigkeitsbereiche einer Wohnungsgenossenschaft können somit sehr unterschiedlicher Art sein, wobei insbesondere Verkaufs- und sonstige Geschäftsfelder „rund ums Wohnen“ nicht dem sozialen Wohnungsbau zuzuordnen sind. Der soziale Wohnungsbau umfasst nur Wohnungen in die staatliche Förderung investiert wurde oder eine entsprechende Förderung beantragt ist, da der Begriff unmittelbar mit den dazugehörigen Förderinstrumenten verbunden ist (§ 1 Abs. 1 II. WoBauG aF). Fraglich ist jedoch, wie mit Wohnungen zu verfahren ist, die nach Ablauf der gesetzlichen Fristen aus der sozialen Wohnraumförderung herausfallen und frei vermietet werden können. 2.3. Auslegung des und Subsumption unter den Ermäßigungstatbestand Um die Reichweite des Ermäßigungstatbestands der Nr. 10 des Anhangs III der MwStSysRL bestimmen zu können, muss dieser nach unionsrechtlichen Vorgaben ausgelegt werden. Zum Anwendungsbereich dieses Ermäßigungstatbestands existiert bislang keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Zur Auslegungsmethodik für einen Ermäßigungstatbestand der MwStSysRL kann jedoch auf die ständige Rechtsprechung des EuGH zu anderen Normen des Anhang III zurückgegriffen werden. Die Rechtsprechung des EuGH gesteht den Mitgliedsstaaten zu, unter Beachtung des dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatzes der steuerlichen Neutralität 2 Siehe Fn. 1 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 116/19 Seite 7 die Besteuerungsgegenstände aus dem Anhang III der MwStSysRL zu bestimmen, auf die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewandt wird.3 Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität besagt, dass innerhalb eines Ermäßigungstatbestandes gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander im Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich zu behandeln sind.4 Der Gesetzgeber dürfte somit Bau-, Renovierungs- und Umbaukosten des sozialen Wohnungsbaus eines staatlichen Wohnungsunternehmens mehrwertsteuerrechtlich nicht anders behandeln als genossenschaftlich organisierte Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus. Ferner ist bei der Auslegung der Ausnahmetatbestände des Anhang III der MwStSysRL der Grundsatz der engen Auslegung ermäßigter Steuersätze zu beachten. „Nach ständiger Rechtsprechung sind die Begriffe, die zur Umschreibung der in Art. 135 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 genannten Steuerbefreiungen verwendet werden, eng auszulegen, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt.“5 Damit ist der Begriff des sozialen Wohnungsbaus als staatlich geförderter Wohnraum maßgeblich. Weitergehende Auslegungen anhand fremdsprachiger Fassungen der Richtlinie sind nicht geeignet die Tätigkeiten von Wohnungsgenossenschaft per se unter den Anwendungsbereich von Nr. 10 Anhang III zu fassen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ein späteres Ausscheiden der Wohnungen aus der Sozialbindung auch zum Wegfall des Ermäßigungstatbestandes führen müsste, denn die Legitimation des ermäßigten Steuersatzes hängt bei der Nr. 10 Anhang III direkt von der sozialen Zweckbindung der Wohnung ab. 3. Zusammenfassung Nr. 10 Anhang III der MwStSysRL würde bei entsprechender Übertragung ins UStG auch genossenschaftlich organisierte Wohnungen erfassen. Derartige Aufwendungen könnten aber nur dann von einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz profitieren, solange sie sich im sozialen Wohnraumfördersystem befinden. Entfällt die Sozialbindung, so wäre auch kein Raum mehr für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz. *** 3 EuGH, Urteil vom 11. September 2014 – C-219/13 –, Rn. 29 (juris) mwNw. 4 EuGH, Urteil vom 9. März 2017 – C-573/15 (juris) 5 EuGH, Urteil vom 19. Juli 2012, Deutsche Bank, C-44/11 (juris), EuGH, Urteil vom 20. November 2003, Taksatorringen , C-8/01, Slg. 2003, I-13711, Randnr. 36