© 2019 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 – 113/19 Einzelfragen zur Neuverschuldungsregelung nach Art. 109 Abs. 3 und 115 Abs. 2 GG Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 2 Einzelfragen zur Neuverschuldungsregelung nach Art. 109 Abs. 3 und 115 Abs. 2 GG Aktenzeichen: WD 4 - 3000 – 113/19 Abschluss der Arbeit: 20. September 2019 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Nettoneuverschuldung des Bundes 4 2.1. Grundsatz des Haushaltsausgleichs ohne Nettokreditaufnahme (Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG) 4 2.2. Abweichungen vom materiellen Haushaltsausgleich 5 2.2.1. Strukturelle Komponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG) 5 2.2.2. Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG) 5 2.3. Kontrollkonto und Rückführungsverpflichtung (Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG) 8 2.3.1. Kontrollkonto 8 2.3.2. Rückführungsverpflichtung 10 2.3.3. Irrelevanz für die Nettokreditaufnahme 11 3. Erfassung rechtlich selbständiger Haushalte 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 4 1. Fragestellung Die Fragestellung zielt auf die Darstellung des Verschuldungsspielraums des Bundes im Rahmen der Regelung nach Art. 109 Abs. 3 und 115 Abs. 2 GG ab, insbesondere in Hinblick auf die Konjunkturkomponente , das Kontrollkonto und die Erfassung rechtlich selbständiger Haushalte. 2. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Nettoneuverschuldung des Bundes Die Grundsatzbestimmung des neuen Staatsschuldenrechts über die Grenzen der staatlichen Verschuldung bildet seit der Föderalismusreform II1 Art. 109 Abs. 3 GG.2 Durch die Neuregelung wurden zum einen die Grenzen der Verschuldung des Bundes näher ausgestaltet. Zum anderen wurde erstmals die Verschuldung der Länder konkreten grundgesetzlichen Vorgaben unterworfen . Diese Vorgaben des Art. 109 GG wurden für den Bund durch eine entsprechende Neufassung des Art. 115 GG umgesetzt und konkretisiert. Weitere Konkretisierungen enthält das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes (G 115).3 2.1. Grundsatz des Haushaltsausgleichs ohne Nettokreditaufnahme (Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG) Eine wesentliche Änderung durch die Föderalismusreform II ist das Gebot des Haushaltsausgleichs ohne „Einnahmen aus Krediten“ gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Begriff der „Einnahmen aus Krediten“ bezieht sich auf die Nettoneuverschuldung des Bundes.4 In der verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Gebots in Anlehnung an den „Close to balance- Grundsatz“ des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes5 kommt der Ausnahmecharakter der Staatsverschuldung als Finanzierungsinstrument zum Ausdruck.6 Abweichend vom Gebot des materiellen Haushaltsausgleichs ist eine Nettoneuverschuldung des Bundes nach dem sog. Dreikomponentenmodell7 in bestimmten Grenzen erlaubt. Die Struktur- und die Konjunkturkomponente bilden die Regelgrenze der zulässigen Nettoneuverschuldung des Bundes 1 57. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Juli 2009 BGBl. I S. 2248. 2 Vgl. dazu Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 115 Rn. 9. 3 Vom 10. August 2009, BGBl. I S. 2702, zuletzt geändert durch Art. 245 der Verordnung vom 31.8.2015, BGBl. I S. 1474. 4 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 7; Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 35. 5 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17.06.1997, ABl. EG C 236 vom 02.08.1997, S. 1. 6 Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 123. 7 Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 5 (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG). Die dritte Komponente stellt eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen dar (Art. 115 Abs. 2 Satz 6 ff. GG).8 2.2. Abweichungen vom materiellen Haushaltsausgleich 2.2.1. Strukturelle Komponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG) Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG lässt in Abweichung von dem Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs die strukturelle Verschuldungskomponente zu. Zulässig ist eine strukturelle Nettoneuverschuldung in Höhe von höchstens 0,35 % im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Einfachgesetzlich wird diese Regelung im Ausführungsgesetz zu Art. 115 in § 2 Abs. 1 Satz 1 und § 3 konkretisiert. Diese Vorschriften bereinigen die ohne Neuverschuldung auszugleichenden Einnahmen und Ausgaben vorab um finanzielle Transaktionen (Veräußerung und Erwerb von Beteiligungen, Kreditaufnahmen beim und Tilgungen an den öffentlichen Bereich, Darlehensrückflüsse und -vergaben) und beeinflussen so mittelbar das Volumen der zulässigen Kreditaufnahme .9 Maßstab für die Bestimmung der Obergrenze ist gemäß § 4 Satz 2 G 115 das nominale Bruttoinlandsprodukt des der Aufstellung des Haushaltes vorangegangenen Jahres. Das Bruttoinlandsprodukt wird durch das Statistische Bundesamt ermittelt. Die Inanspruchnahme des strukturellen Verschuldungsrahmens ist an keine weiteren Voraussetzungen gebunden.10 2.2.2. Konjunkturkomponente (Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG) Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG modifiziert die strukturelle Kreditobergrenze des Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG durch eine Konjunkturkomponente. Danach „sind zusätzlich bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen“. Die Regelung erweitert oder verengt den nach Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG eröffneten strukturellen Nettoverschuldungsrahmen in Abhängigkeit von den erwarteten Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung auf den Haushalt. In Abschwungphasen erweitert sich der Verschuldungsrahmen entsprechend den erwarteten Auswirkungen der Entwicklung, in Aufschwungphasen verengt sich der Rahmen korrespondierend.11 8 Auf die Darstellung dieser Ausnahmekomponente wird hier verzichtet, da sie für die vorliegende Fragestellung keine Relevanz hat. Ausführlich zu dieser Ausnahmekomponente vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 115 Rn. 38 ff. 9 Einzelheiten hierzu bei Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 20. 10 Der Verfassungsgesetzgeber begründet dies mit dem Nutzen für künftige Generationen, der auf der Annahme beruht, dass im Bundeshaushalt zukunftswirksame Ausgaben zumindest in Höhe von 0,35 % des BIP enthalten sind. Vgl. BT-Drs. 16/12410, S. 6; zur Besorgnis politischer Ausschöpfung vgl. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 41 f. 11 BT-Drs. 16/12410, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 6 Eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage liegt gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 G 115 vor, wenn eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird (Produktionslücke). Dabei wird die Produktionslücke gesetzlich definiert als Abweichung des auf Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens 12 zu schätzenden Produktionspotentials vom erwarteten Bruttoinlandsprodukt für das Haushaltjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird. Demzufolge definiert sich die Normallage durch eine Normalauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten, welche bei Identität von zu schätzendem Produktionspotential und erwartetem Bruttoinlandsprodukt vorliegt .13 Durch die Verpflichtung auf die symmetrische Berücksichtigung der konjunkturellen Auswirkungen 14 auf den Haushalt wird bezweckt, ein prozyklisches Verhalten der Finanzpolitik zu vermeiden . Das bedeutet, dass die Finanzpolitik auf die mit einer Unterauslastung des Produktionspotentials verbundenen Mindereinnahmen bzw. Mehrausgaben nicht mit konjunkturschädlichen Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen reagiert, sondern defizitwirksam das geplante Ausgabenniveau trotz rückläufiger Steuereinnahmen aufrecht erhält und zusätzliche konjunkturbedingte Mehrausgaben – beispielsweise für den Arbeitsmarkt – bewältigt (Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren). Neben der Eröffnung eines Kreditspielraums entfaltet die Konjunkturkomponente allerdings insofern eine beschränkende Wirkung, als sie aufgrund ihrer Ausrichtung auf die normierten Parameter der Produktionslücke und der Budgetsemielastizität kaum Möglichkeiten lässt, Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zusätzlich mit sog. diskretionären Maßnahmen, etwa in Gestalt von Konjunkturprogrammen, zu begegnen. Zugleich soll die Konjunkturkomponente dazu anhalten, in wirtschaftlich günstigen Zeiten Überschüsse zu erzielen , mit denen die im Abschwung aufgenommene Verschuldung zurückgeführt werden kann. Dies dient der in der Verfassungsvorschrift geforderten symmetrischen Berücksichtigung konjunkturell guter und schlechter Wirtschaftsentwicklung und trägt insbesondere auch den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung.15 12 Die Berechnung der Produktionslücke erfolgt gem. § 5 Abs. 2 und Abs. 4 des Artikel 115-Gesetzes sowie gem. § 2 Abs. 2 der Artikel 115-Verordnung aufgrund eines Konjunkturbereinigungsverfahrens, das in Übereinstimmung mit den im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts geltenden Methoden anzuwenden ist. 13 Vgl. Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 43. 14 Zu Einzelheiten des Verfahrens zur Bestimmung der Konjunkturkomponente vgl. Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 115 Rn. 161 ff. 15 Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/12410, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 7 Die Konjunkturkomponente ergibt sich als Produkt aus der Produktionslücke, d. h. der Abweichung des Bruttoinlandsprodukts vom Produktionspotential, und der Budgetsemielastizität. Letztere gibt an, wie sich der Saldo der Einnahmen und Ausgaben des Bundes bei einer Veränderung des Bruttoinlandsprodukts verändert.16 Die folgenden Beispiele erläutern – ausgehend von einer Strukturkomponente in Höhe von 11,358 Mrd. Euro – die Berechnung der Konjunkturkomponente und ihre Auswirkungen auf die zulässige Nettoneuverschuldung: Konjunkturkomponente erhöht Nettokreditaufnahmespielraum 1. Ermittlung der Produktionslücke 1.1 erwartetes nominales BIP 3.335,0 Mrd. € 1.2 nominales Produktionspotential 3.357,394 Mrd. € 1.3 nominale Produktionslücke (1.1 – 1.2) - 22,394 Mrd. € 2. Budgetsemielastizität des Bundeshaushalts 0,205 3. Konjunkturkomponente (Produkt aus 1.3 und 2) - 4,591 Mrd. € 4. Strukturkomponente 11,358 Mrd. € 5. maximal zulässige Nettokreditaufnahme (4. – 3.) 15,949 Mrd. € 16 Der Schätzung der Produktionslücke liegen die amtlichen Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) sowie die zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung von der Bundesregierung erwartete gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf der Grundlage der Ergebnisse des interministeriellen Arbeitskreises „Gesamtwirtschaftlichen Vorausschätzungen“ für die kurze Frist bzw. der Ressortabstimmung für die mittlere Frist zugrunde . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 8 Konjunkturkomponente schränkt Neuverschuldungsspielraum ein 1. Ermittlung der Produktionslücke 1.1 erwartetes nominales BIP 3.360,0 Mrd. € 1.2 nominales Produktionspotential 3.341,056 Mrd. € 1.3 nominale Produktionslücke (1.1 – 1.2) 18,944 Mrd. € 2. Budgetsemielastizität des Bundeshaushalts 0,205 3. Konjunkturkomponente (Produkt aus 1.3 und 2) 3,884 Mrd. € 4. Strukturkomponente 11,358 Mrd. € 5. maximal zulässige Nettokreditaufnahme (4. – 3.) 7,474 Mrd. € 2.3. Kontrollkonto und Rückführungsverpflichtung (Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG) Nach Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG werden „Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der nach den Sätzen 1 bis 3 zulässigen Kreditobergrenze…auf einem Kontrollkonto erfasst; Belastungen , die den Schwellenwert von 1,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt überschreiten, sind konjunkturgerecht zurückzuführen.“ 2.3.1. Kontrollkonto Durch die vorstehenden Regelungen wird für den Bund die Beachtlichkeit der nach Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 3 GG maximal zulässigen Nettoneuverschuldung nicht nur auf die Aufstellung des Haushalts, sondern auch auf den Haushaltsvollzug erstreckt.17 Abweichungen der Kreditaufnahme im Haushaltsvollzug von der Soll-Kreditaufnahme sind in der Praxis „kaum zu vermeiden “.18 Eine Über- bzw. Unterschreitung der Grenzen des Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG kann beispielsweise darauf beruhen, dass die tatsächlichen Auswirkungen der konjunkturellen Entwicklung sich anders gestaltet haben als bei der Aufstellung des Haushalt angenommen. Die Abweichungen sollen aber über das einzelne Haushaltsjahr hinaus verbucht werden. Hierdurch wird im Zusammenhang mit der statuierten Ausgleichspflicht vermieden, dass die in Art. 115 Abs. 2 Satz 17 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 33; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 10 ff. 18 So die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 16/12410, S. 12 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 9 2 GG normierte Obergrenze für die strukturelle Verschuldung maßgeblich und dauerhaft überschritten wird.19 Die Überwachung der Einhaltung der Schuldenregel erfolgt nach Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG i.V.m. § 7 G 115 mithilfe eines Kontroll- oder Ausgleichskontos. Um festzustellen, wann und inwieweit eine Über- bzw. Unterschreitung der Grenze des Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG vorliegt, wird der konjunkturelle Verschuldungsspielraum anhand der tatsächlichen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts des abgelaufenen Haushaltsjahres neu berechnet und aus der Gesamtkreditaufnahme herausgerechnet, um die tatsächliche strukturelle Kreditaufnahme zu ermitteln. Danach erfolgt ein Abgleich mit der nach Satz 2 zulässigen strukturellen Verschuldung unter Einbeziehung der finanziellen Transaktionen.20 Positive wie negative Abweichungen sind auf dem laufend fortzuschreibenden Kontrollkonto zu erfassen.21 19 Vgl. BT-Drs. 16/12410, S. 12 f.; Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 24. 20 Einzelheiten dazu bei Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 24 f. 21 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 10 Hierzu folgendes Beispiel: 1. Maximal zulässige Nettokreditaufnahme bei Haushaltsaufstellung: 1.1 Strukturkomponente 9,0 Mrd. € 1.2 Konjunkturkomponente 12,2 Mrd. € 1.3 Saldo aus finanziellen Transaktionen - 0,2 Mrd. € Ergebnis 21,0 Mrd. € 2. Tatsächliche Nettokreditaufnahme 23,5 Mrd. € Alternativ: 19,0 Mrd. € 3. Zulässige Kreditobergrenze nach Haushaltsabschluss: 3.1 Strukturkomponente 9,0 Mrd. € 9,0 Mrd. € 3.2 Konjunkturkomponente 11,6 Mrd. € 11,6 Mrd. € 3.3 Saldo aus finanziellen Transaktionen - 0,4 Mrd. € - 0,4 Mrd. € Ergebnis 20,2 Mrd. € 20,2 Mrd. € 4. Ergebnis aus 3. – 2. [= Belastung (-) bzw. Gutschrift (+)] - 3,3 Mrd. € + 1,2 Mrd. € 2.3.2. Rückführungsverpflichtung Die grundgesetzliche Ausgleichsverpflichtung besagt, dass Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 % des BIP überschreiten, konjunkturgerecht zurückzuführen sind. Durch die ab Erreichen des Schwellenwertes normierte Rückführungspflicht wird gewährleistet, dass die Regelgrenze für die strukturelle Verschuldung im Haushaltsvollzug weder erheblich noch dauerhaft überschritten wird.22 22 BT-Drs. 16/12410, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 11 Die Rückführungspflicht wird einfachgesetzlich durch § 7 G 115 konkretisiert. § 7 Abs. 3 G 115 bestimmt, dass sich bereits bei einer Überschreitung des Wertes von 1 % des BIP (Verschärfung der verfassungsrechtlichen Vorgabe von 1,5 % des BIP) die strukturelle Nettoneuverschuldungsgrenze im Folgejahr um den überschießenden Betrag verringert, höchstens allerdings um 0,35 % des BIP, so dass es insoweit zu einer gänzlichen Aufzehrung des strukturellen Nettoneuverschuldungsrahmens kommen kann.23 Zudem ist die Absenkung der Grenze nach § 7 Abs. 3 G 115 davon abhängig, dass es sich um ein Jahr mit positiver Veränderung der Produktionslücke handelt .24 Im Ergebnis verhindert Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG grundsätzlich, dass die Regelungen zur Schuldenbremse im Haushaltsvollzug unterlaufen werden.25 Zusammenfassend stellt sich die zulässige jährliche Nettokreditobergrenze nach Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 4 GG wie folgt dar: Strukturkomponente (0,35 % des nominalen BIP) +/- Konjunkturkomponente +/- Saldo aus finanziellen Transaktionen - Reduzierungsbetrag gemäß Abbauverpflichtung aus § 7 Abs. 3 G 115 i.V.m. Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG ________________________________________________________________________ = Höchstgrenze der Nettoneuverschuldung bzw. Planung eines Überschusses.26 2.3.3. Irrelevanz für die Nettokreditaufnahme Den Maßstab hinsichtlich der Regelungen über das Kontrollkonto und die Rückführungsverpflichtung im Rahmen von Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG bilden ausschließlich die materiellen Vorgaben für die Obergrenze der Nettokreditaufnahme des Bundes gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 3 GG.27 Die Regelungen in Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 3 GG sind im Hinblick auf die Regelober- 23 Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 115 Rn. 182. 24 Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 47. 25 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 33; Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 48. 26 Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 19. 27 Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 59; Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz -Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 115 Rn. 178. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 12 grenze der Nettoneuverschuldung des Bundes für die Haushaltsaufstellung und den Haushaltsvollzug abschließend.28 Danach wird der Umfang der zulässigen jährlichen Nettokreditaufnahme durch die strukturelle und die konjunkturelle Komponente bestimmt. Eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme durch den Abbau eines positiven Kontrollkontosaldos sieht Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 3 GG als Ausnahme vom Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs nicht vor. Sie wäre daher unzulässig. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 4 GG erschöpft sich die Funktion des Verrechnungskontos in der Kontrolle und Begrenzung der Kreditüberschreitungen im Haushaltsvollzug .29 Ein negativer Saldo des Kontrollkontos zeigt an, in welchem Ausmaß ein „Überziehungskredit “30 im Haushaltsvollzug tatsächlich in Anspruch genommen wurde. Die Inanspruchnahme einer „Dispokreditlinie“ bis 1,5 % bzw. 1 % des BIP wird vom Verfassungsgesetzgeber bzw. einfachen Gesetzgeber toleriert. Bei Überschreitung dieser Grenze setzt die grundbzw . einfachgesetzlich angeordnete Sanktion ein, die geduldete „Kreditüberziehung“ übersteigende tatsächliche Kreditaufnahme zurückzuführen. Die Rückführungsverpflichtung trägt damit dem verschuldungsbeschränkenden Zweck des Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG und zugleich auch der Regelintention des Art. 115 Abs. 2 Satz 1 bis 3 GG, den jährlichen Schuldenzuwachs des Bundes zu begrenzen, Rechnung. Ein positiver Saldo des Kontrollkontos resultiert aus unterbliebener struktureller Kreditaufnahme in der Vergangenheit. Es handelt sich folglich um „virtuelle Guthaben“.31 Seine Verwendung ist gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG auf die Verrechnung mit tatsächlichen Kreditüberschreitungen im Haushaltsvollzug beschränkt. Eine hoher positiver Saldo32 ermöglicht also, dass bei schlechter Konjunkturlage die „Dispokreditlinie “ in Höhe von 1 % des BIP für Kreditüberschreitungen im Haushaltsvollzug für längere Zeit zur Verfügung steht und die Rückführungsverpflichtung bei Überschreitung dieser Grenze aufgrund des hohen Verrechnungspolsters entsprechend erst später einsetzt. 28 BT-Drs. 16/12410, S. 16; Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 36; Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 39; Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht , 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 19. 29 Kontrollkonto hat die Funktion eines „Sündenregisters“, so Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 46. Ergänzungslieferung Juli 2012, Art. 115 Rn. 24. 30 Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 115 Rn. 178; Wendt, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 48; Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 115 Rn. 58. 31 Anders verhält es sich mit der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“, die aktuell ein „echtes“ Guthaben von rund 35 Mrd. Euro aufweist, das aus Haushaltsüberschüssen der Haushaltsjahre 2015 – 2018 gebildet wurde. 32 Der Stand des Kontrollkontos auf Basis des Haushaltsabschlusses 2018 beträgt 35,6 Mrd. €; vgl. Entwurf Haushaltsgesetzt 2020, BT Drs. 19/11800, S. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 – 113/19 Seite 13 3. Erfassung rechtlich selbständiger Haushalte Nach Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG sind die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Regelungsadressaten dieser Vorschrift sind hier nur die ausdrücklich erwähnten Gebietskörperschaften mit ihren Haushaltsgesetzen und -plänen33. In den Anwendungsbereich der Neuverschuldungsregelung sind auch die rechtlich unselbständigen Sondervermögen des Bundes einbezogen.34 Anders verhält es sich bei den juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts. Eine Zurechnung von Kreditaufnahmen der Sozialversicherungen an den Bund bzw. der Gemeinden an die Länder findet grundsätzlich nicht statt, da es sich bei diesen um selbständige juristische Personen handelt, deren Etats nicht durch die Parlamente von Bund und Ländern, sondern durch ihre eigenen Organe festgestellt werden (Rechtsträgerprinzip).35 Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG bezieht sich nur auf Geldkredite, die der Bund oder die Länder selbst aufnehmen. Die Verfassungsvorschrift gilt nicht für Kreditaufnahmen Dritter im Sinne der rechtlich selbständigen Haushalte, es sei denn, dass die Konstruktion der Kreditaufnahme eine Umgehung der verfassungsmäßigen Restriktionen darstellt. Sie ist beispielsweise anzunehmen, wenn mit den Krediteinnahmen Bundes- bzw. Landesaufgaben finanziert werden und der Schuldendienst vom Bund bzw. Land getragen wird36. Gleiches gilt für die Kreditaufnahme öffentlicher Unternehmen37. Eine Zurechnung der Kreditaufnahme solcher Unternehmen zum Bund bzw. Land ist zu verneinen, wenn die Unternehmen einen hinreichenden unternehmerischen Spielraum haben und die betriebswirtschaftlichen Risiken vorrangig von ihnen selbst zu tragen sind (z. B. Deutsche Bahn AG, Deutsche Flugsicherung GmbH)38. *** 33 Vgl. Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III, 3. Auflage, Rn. 23 zu Art. 115 GG; Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 44. Erg.-Lfg. Januar 2011, Rn. 16 zu Art. 109 GG. 34 Vgl. Hauser, in: Heuer/Schelle, Kommentar zum Haushaltsrecht, Stand April 2010, Rn. 29 zu Art. 109 GG. 35 Vgl. die Begründung in BT-Drs. 16/12410, S. 11. 36 Vgl. Nebel, a.a.O., Rn. 17 zu Art. 109 GG; Heun, a.a.O., Rn. 24 zur Art. 115 GG m.w.N. 37 Als öffentliche Unternehmen im Sinne des Finanz- und Personalstatistikgesetzes werden Einheiten bezeichnet, die aus den Kernhaushalten ausgegliedert sind, aber von diesen kontrolliert werden und deren Hauptsitz in Deutschland liegt. Das Kriterium der öffentlichen Kontrolle ist gegeben, wenn die Kernhaushalte der Gebietskörperschaften mit mehr als 50 v.H. des Nennkapitals oder Stimmrechts mittelbar bzw. unmittelbar an einem Unternehmen beteiligt sind. Ein weiteres Merkmal ist, dass öffentliche Unternehmen über ein eigenes, in der Regel kaufmännisches oder kamerales Rechnungswesen verfügen. Damit sind die Einnahmen und Ausgaben der ausgegliederten Einheiten nicht mehr im jeweiligen Kernhaushalt enthalten, sondern nur noch die Zu- und Abführungen ; Finanz- und Personalstatistikgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 22.02.2006, BGBl. I S. 438, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 27.05.2010, BGBl. I S. 671. 38 Vgl. Nebel, a.a.O., Rn. 17 zu Art. 109 GG.