Deutscher Bundestag Fragen zum steuerrechtlichen Kinderexistenzminimum Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 4 – 3000 - 111/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 2 Fragen zum steuerrechtlichen Kinderexistenzminimum Verfasserinnen: Aktenzeichen: WD 4 – 3000 - 111/11 Abschluss der Arbeit: 25. August 2011 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Die Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums im Steuerrecht 4 2.1. Allgemeines 4 2.2. Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit 4 2.3. Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums 4 2.4. Betreuungs- und Erziehungsbedarf 5 3. Funktion von Kinderfreibeträgen und Kindergeld 6 3.1. Freibeträge 6 3.2. Kindergeld 6 3.3. Bedeutung der Günstigerprüfung 7 4. Einzelne Fragestellungen 8 4.1. Welche Konsequenzen hätte es für die Günstigerprüfung, wenn das Kindergeld nicht mehr auf sozialrechtliche Regelbedarfe angerechnet, sondern als freiwillige Leistung des Staates gewährt würde? Müsste das so veränderte Kindergeld dann auch zusätzlich zum Kinderfreibetrag gewährt werden oder könnte man beim heutigen System der Günstigerprüfung bleiben? (Frage 4, 2. Teil) 8 4.2. Wäre es grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig für Kinder im Sozialhilfebezug eine Leistung für Betreuung, Erziehung und Ausbildung zu gewähren, die das steuerrechtliche Existenzminimum eines Kindes nicht erhöht, weil diese Leistungen steuerlich bereits durch den entsprechenden Freibetrag abgegolten sind? (Frage 6) 8 4.3. Wie begründet sich die Höhe des Freibetrages für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (derzeit 2640 Euro) konkret? War die Erhöhung verfassungsrechtlich geboten oder ist sie als eine freiwillige Erhöhung durch den Gesetzgeber anzusehen? Könnte diese Erhöhung zurückgenommen werden? (Frage 7) 8 4.4. Wie hoch müsste der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (aufgegliedert nach seinen Komponenten) mindestens sein, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen? Welches Berechnungsschema liegt dem zugrunde? (Frage 8) 9 4.5. Könnte der Gesetzgeber darauf verzichten, eine freiwillige Zusatzleistung für Kinder in bestimmten Familien, die nicht zur Deckung ihres Existenzminimums dient, bei der Berechnung des steuerlichen Kinderfreibetrags zu berücksichtigen? (Frage 10) 10 5. Kritische Stimmen in der Fachliteratur 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 4 1. Vorbemerkung Vorliegend soll zunächst die rechtliche Ausgangslage dargestellt werden und sodann mit Bezug hierauf eine Stellungnahme zu den einzelnen Fragen zum steuerrechtlichen Existenzminimum erfolgen. 2. Die Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums im Steuerrecht 2.1. Allgemeines Aus Art. 1 Abs.1, 20 Abs. 1, 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) leitet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Grundsatz her, dass dem Steuerpflichtigen von seinem Einkommen mindestens der Betrag steuerfrei verbleiben muss, den er und seine Familie zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts , als Mindestvoraussetzung eines menschenwürdigen Daseins, benötigen (steuerrechtliches Familienexistenzminimum). Der existenznotwendige Bedarf bilde von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer.1 Der Freistellung des Kinderexistenzminimums dienen die Vorschriften über das Kindergeld bzw. die steuerlichen Freibeträge in § 32 Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG). 2.2. Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit2 Das Existenzminimum muss auch bei hohen Einkommen des Steuerpflichtigen steuerfrei bleiben. Nur derjenige Teil des Einkommens darf überhaupt der Besteuerung unterworfen werden, welcher den für das Existenzminimum festgelegten Betrag übersteigt. Dies folgt aus dem aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit als Ausprägung des Gebots der Steuergleichheit.3 Denn durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder wird die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern im Gegensatz zu kinderlosen Paaren mit gleichem Ausgangseinkommen gemindert. In Höhe des Existenzminimums der Kinder ist dabei das Einkommen der Eltern gebunden und steht ihnen nicht zur freien Verfügung. 2.3. Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums Die Höhe des Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen sowie den in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarfen ab.4 Zur Quantifizierung des steuerrechtlichen Existenzminimums knüpft das BVerfG an die sozialrechtlich normierten Bedarfe an, die verbrauchsbezogen ermittelt und ständig den sich wandelnden Lebensverhältnissen 1 BVerfGE 82, 60 v. 29.05.1990, Rz. 99 ff; BVerfGE 87, 153 v. 25.09.1992, Rz. 64 f.; BVerfGE 99, 216 v. 10.11.1998, Rz. 67; BVerfGE 99, 246 v. 10.11.1998, Rz. 49 ff.; BVerfGE 110, 412 v. 08.06.2004, Rz. 65; vgl. hierzu R. Seer/V. Wendt, Die Familienbesteuerung nach dem so genannten „Gesetz zur Familienförderung“, NJW 2000, 1904; M. Jachmann/K. Liebl, Wesentliche Aspekte der Familienbesteuerung, DStR 2010, 2009. 2 BVerfGE 82, 60, Rz. 101 ff; BVerfGE 110, 412; BVerfGE 99, 216, Rz. 66 ff; vgl. zum Leistungsfähigkeitsprinzip auch Birk/Wernsmann, JZ 2001, S. 218 ff. 3 Das Gebot der Steuergleichheit fordert zumindest für die direkten Steuern eine Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. 4 BVerfGE 87, 153, Rz. 68. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 5 angepasst werden. Jedenfalls der Betrag, der als existenznotwendiger Bedarf im Sozialrecht festgelegt und der dem mittellosen Bürger als staatliche Leistung zur Verfügung gestellt wird, muss auch dem Steuerpflichtigen nach Abzug der Einkommensteuer von seinem Einkommen verbleiben . Die sozialrechtlich festgelegten Mindestbedarfe bilden daher die Untergrenze für das steuerrechtliche Existenzminimum.5 Explizit abgelehnt hat das BVerfG dagegen eine Zugrundelegung des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruches, welcher dem Kind gegen die Eltern zusteht, da dieser den sozialen Status der Familie berücksichtige.6 Um die Einfachheit und Klarheit der steuerrechtlichen Regelungen7 soweit wie möglich zu gewährleisten , kann der Gesetzgeber die Beträge für das steuerrechtliche Existenzminimum typisieren und pauschalieren. Dabei muss das Ziel verfolgt werden, möglichst eine vollumfängliche Freistellung der existenzsichernden Aufwendungen von der Steuer für alle Gruppen von Steuerzahlern zu erreichen.8 Zwar muss nicht jedem Einzelfall Rechnung getragen werden, eine Pauschalierung , die von vornherein bei Beziehern bestimmter (höherer) Einkommen eine Freistellung des Bedarfs nicht erreicht, genügt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Dies ist nicht mit einer Vereinfachung im Masseverfahren zu rechtfertigen, ebenso wenig mit der höheren Leistungsfähigkeit dieser Gruppe.9 Zu den Existenzminimumberichten der Bundesregierung vgl. Sachstand WD 6 – 3000-130/11, S. 4, Nr. 1. 2.4. Betreuungs- und Erziehungsbedarf Neben den Aufwendungen für den existenziellen Sachbedarf des Kindes wird die Leistungsfähigkeit der Eltern nach der Rechtsprechung des BVerfG durch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf als Bestandteil des steuerlichen Kinderexistenzminimums gemindert.10 Es fordert daher eine Berücksichtigung dieses Bedarfs bei der Bemessung der Einkommensteuer, da Eltern gegenüber kinderlosen Steuerzahlern sonst benachteiligt würden (Verletzung des Gebots der horizontalen Steuergleichheit). Zum Betreuungsbedarf führt das BVerfG aus, dass dieser einkommensteuerlich unbelastet bleiben müsse, ohne dass es darauf ankomme, wie der Bedarf gedeckt werde, also durch persönliche oder Fremdbetreuung.11 Unter Erziehungsbedarf versteht es die Aufwendungen der Eltern, die dem Kind die persönliche Entfaltung, seine Entwicklung zur Eigenstän- 5 Vgl. BVerfGE 87, 153, Rz. 68 f. (verfassungswidrige Regelung des Grundfreibetrags, der den durchschnittlichen Sozialhilfebedarf deutlich unterschreite, Rz. 81 ff.); BVerfGE 99, 246 v. 10.11.1998, Rz. 50 ff.; BVerfGE 82, 60, Rz. 119 ff. (verfassungswidrige Kindergeldkürzung, da in einem wesentlichen Teil der Fälle die steuerliche Entlastung die Höhe der Sozialhilfeleistungen nicht mehr erreiche). 6 BVerfGE 82, 60, Rz. 118. 7 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt das Gebot der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Steuerlasten, welches die Einfachheit und Klarheit steuerrechtlicher Regelungen verlangt, vgl. BVerfGE 99, 216, Rz. 94. 8 BVerfGE 87, 153 Rz. 70. 9 Vgl. BVerfGE 99, 246 Rz. 59, 67 ff. 10 BVerGE 99, 216, Rz. 68 ff., 87 ff. 11 BVerfGE 99, 216 Rz, 69 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 6 digkeit und Eigenverantwortlichkeit ermöglichen, z.B. durch Mitgliedschaft in Vereinen, Erlernen moderner Kommunikationstechniken und Zugang zu Kultur- und Sprachfertigkeit.12 Zur konkreten Höhe oder den vom Betreuungsbedarf erfassten Aufwendungen macht das BVerfG dem Gesetzgeber keine Vorgaben. In Umsetzung dieser Rechtsprechung wurde durch das Gesetz zur Familienförderung13 mit Wirkung ab 1. Januar 2000 der Betreuungsfreibetrag eingeführt, der durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung14 mit Wirkung ab Veranlagungszeitraum 2002 durch eine Erziehungs- und Ausbildungskomponente ergänzt wurde. 3. Funktion von Kinderfreibeträgen und Kindergeld Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber frei, die verfassungsrechtlich geforderte Freistellung des Existenzminimums von der Besteuerung durch Gewährung von Freibeträgen oder im Wege von Ausgleichszahlungen im Sozialrecht zu bewirken. Auch ein Mischsystem sei denkbar. In der Wirkung jedoch müsse die sozialrechtliche Lösung einer Freistellung durch Freibeträge gleichkommen.15 3.1. Freibeträge Die Freistellung durch Freibeträge erfolgt durch Abzug in entsprechender Höhe von der Bemessungsgrundlage . Seit dem Veranlagungszeitraum 2010 wird für das sächliche Existenzminimum ein Freibetrag in Höhe von 2.184 Euro und für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf ein Freibetrag in Höhe von 1.320 Euro für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen gewährt (=hälftiges Existenzminimum, dass jeweils von einem Elternteil zu tragen ist), § 32 Abs. 6 EStG.16 Bei Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden (§§ 26, 26b EStG), und in einigen in Abs. 6 S. 3 Nr. 1 und 2 aufgezählten Fällen, wenn beispielsweise der andere Elternteil verstorben ist, verdoppeln sich die Beträge, so dass sie das gesamte Existenzminimum umfassen. 3.2. Kindergeld Kindergeld kann nach der jeweiligen Gesetzeskonzeption verschiedene Zwecke verfolgen: Zum einen kann es die Funktion haben, die kindbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszugleichen (vorliegend als steuerrechtliche Ausgleichsfunktion bezeichnet). Zum anderen kann es die Funktion einer allgemeinen Sozialleistung besitzen. Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Kindergeldregelungen ist also danach zu differenzieren, welche Funktion des Kindergelds jeweils betroffen ist.17 In seiner Entscheidung vom 29.05.199018 12 BVerfGE 99, 216, Rz. 90, 92. 13 BGBl I 1999, 2552. 14 BGBl I 2001, 2974. 15 BVerfGE 110, 412, Rz. 67; BVerfGE 82, 60 Rz. 96. 16 Die Erhöhung erfolgte mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, BGBl I 09, 3950. 17 Ausführlich hierzu BVerfGE 110, 412, Rz. 63 ff. 18 BVerfGE 82, 60. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 7 wies das BVerfG darauf hin, dass eine Kürzung des Kindergeldes ab einer bestimmten Einkommenshöhe nach der damals geltenden Rechtslage19 dann nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden gewesen wäre, wenn die steuerliche Entlastung durch Kinderfreibeträge erfolgt wäre. Hintergrund dessen ist, dass dann das Kindergeld nur in seiner Funktion als Sozialleistung betroffen gewesen wäre, nicht mehr jedoch in seiner steuerlichen Ausgleichsfunktion. Das BVerfG führt dazu in Rz. 91 aus: „Da das Kindergeld die besondere wirtschaftliche Belastung der Eltern durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder teilweise ausgleichen soll, kann bei den Empfängern nach dem unterschiedlichen Grad differenziert werden, in dem die kindesbedingte wirtschaftliche Belastung die Familie trifft.“ Weiter in Rz. 95: „§ 10 II BKGG ist jedoch deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil das gekürzte Kindergeld […] nicht mehr in verfassungsmäßiger Weise seiner Funktion gerecht geworden ist, der Minderung der Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen , die durch den Unterhalt ihrer Kinder bedingt ist, Rechnung zu tragen.“ 3.3. Bedeutung der Günstigerprüfung Nach der heutigen Regelung in § 31 EStG hat sich der Gesetzgeber für ein „Optionsmodell“20 entschieden , nach welchem die Freistellung entweder durch Kindergeld oder durch Freibeträge bewirkt wird, § 31 Abs. 1 S. 1 EStG. Kindergeld nach §§ 31, 62 ff. EStG wird monatlich für jeden Steuerpflichtigen unabhängig vom Einkommen in gleicher Höhe ausgezahlt, § 66 EStG. Gleichzeitig hat der Steuerpflichtige seine Lohnsteuer abhängig vom Einkommen in unterschiedlicher Höhe monatlich zu entrichten. Erreicht das Kindergeld nicht die Höhe, die zur Freistellung des Existenzminimums erforderlich ist21, so kann der verfassungsmäßige Zustand nur unter Zugrundelegung der Freibeträge gem. § 32 Abs. 6 EStG hergestellt werden. Ist das Kindergeld dagegen höher als dieser Betrag, so stellt es in Höhe des überschießende Teils eine Sozialleistung dar, die der Förderung der Familie dient, vgl. § 31 S. 2 EStG. Die Frage, ob nach diesen Grundsätzen Kindergeld oder die Freibeträge gewährt werden, wird anhand einer von der Finanzbehörde von Amts wegen vorzunehmenden Vergleichsrechnung, der sogenannten „Günstigerprüfung“, entschieden, vgl. § 31 S. 4 EStG.22 Den Vergleich nimmt das Finanzamt wie folgt vor: Zunächst wird die steuerliche Wirkung der Freibeträge ermittelt, die sich aus der Differenz der tariflichen Einkommensteuer des Steuerpflichtigen einmal mit und einmal ohne Berücksichtigung der Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG ergibt. Dieser Differenzbetrag wird in einem zweiten Schritt dem Betrag des Kindergeldanspruchs gegenübergestellt . Ist letzterer höher, so bleibt es bei der Auszahlung des Kindergeldes. 19 Zum Zeitpunkt der Entscheidung ergänzten sich Kindergeld und Kinderfreibetrag, so dass sich erst aus ihrer Summe der entsprechenden Entlastungsbetrag ergab. 20 M. Preißer/J. Schneider, Einkommensteuerrecht von A bis Z, 2006, S. 506. 21 Aufgrund des progressiven Steuersatzes wird die Differenz mit steigendem Einkommen größer. 22 Hierzu Loschelder, in: L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, 30. Aufl. 2011, § 31 Rz. 10 f.; M. Preißer/J. Schneider , Einkommensteuerrecht von A bis Z, 2006, S. 506 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 8 Ist dagegen die steuerliche Wirkung der Freibeträge größer, so müssen die dem Steuerpflichtigen zustehenden Freibeträge bei der Veranlagung von der Bemessungsgrundlage (dem Einkommen) abgezogen werden und, um eine Doppelberücksichtigung des Kindes zu vermeiden, der Betrag des Kindergeldes der ermittelten tariflichen Einkommensteuer hinzugerechnet werden. 4. Einzelne Fragestellungen 4.1. Welche Konsequenzen hätte es für die Günstigerprüfung, wenn das Kindergeld nicht mehr auf sozialrechtliche Regelbedarfe angerechnet, sondern als freiwillige Leistung des Staates gewährt würde? Müsste das so veränderte Kindergeld dann auch zusätzlich zum Kinderfreibetrag gewährt werden oder könnte man beim heutigen System der Günstigerprüfung bleiben? (Frage 4, 2. Teil) Eine Nichtanrechnung von Kindergeld auf sozialrechtliche Regelbedarfe ist eine primär sozialrechtliche Frage, die grundsätzlich keine Auswirkungen auf das oben dargestellte Zusammenspiel von Kindergeld und Kinderfreibetrag im Steuerrecht und somit auch nicht auf die aus dem Optionsmodell folgende Günstigerprüfung hat. Denn eine solche Leistung, ihre Zulässigkeit unterstellt , würde das Kindergeld in seiner Funktion als Sozialleistung betreffen. Man kann daher aus steuerrechtlicher Sicht beim System der Günstigerprüfung bleiben. 4.2. Wäre es grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig für Kinder im Sozialhilfebezug eine Leistung für Betreuung, Erziehung und Ausbildung zu gewähren, die das steuerrechtliche Existenzminimum eines Kindes nicht erhöht, weil diese Leistungen steuerlich bereits durch den entsprechenden Freibetrag abgegolten sind? (Frage 6) Die Einführung einer Leistung für Betreuung, Erziehung und Ausbildung, sofern die Leistung dem sozialrechtlichen Mindestbedarf zugerechnet wird, würde sich nach den oben dargelegten Grundsätzen zur Höhe des Existenzminimums auf das steuerrechtliche Existenzminimum in der Weise auswirken, dass die Leistung in die Berechnung von dessen Untergrenze einfließt. Steht den sozialrechtlich definierten Bedarfen eine entsprechende steuerliche Entlastung (bereits) gegenüber , dann muss der Freibetrag nicht erhöht werden. 4.3. Wie begründet sich die Höhe des Freibetrages für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (derzeit 2640 Euro) konkret? War die Erhöhung verfassungsrechtlich geboten oder ist sie als eine freiwillige Erhöhung durch den Gesetzgeber anzusehen? Könnte diese Erhöhung zurückgenommen werden? (Frage 7) Für den Betreuungs- und Erziehungs- bzw. Ausbildungsbedarf orientierte sich der Gesetzgeber bei seiner Einführung an Beträgen, die im Steuerrecht verankert waren. Die Höhe des ursprünglichen Betreuungsfreibetrags war an die alte Regelung des § 33c EStG angelehnt (bisheriger Abzugsbetrag für Betreuungskosten Alleinerziehender)23, die des neugeschaffenen einheitlichen Freibetrags für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung an den bis dahin höchstmöglichen 23 Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung, BT-Drs. 14/1513, S. 14. Die in § 33c a.F. enthaltenen Beträge sowie (für den Erziehungsbedarf) den bis dahin geltenden Haushaltsfreibetrag zog auch das BVerfG in seiner Entscheidung als „zahlenmäßige Orientierung“ heran, BVerGE 99, 216, Rz. 93, 99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 9 Ausbildungsfreibetrag.24 Die Erhöhung des Freibetrages auf 2.640 Euro erfolgte mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz . Im Gesetzentwurf wird die Maßnahme als „Ausdruck einer besonderen Wertschätzung der Gesellschaft“ bezeichnet, durch welche die wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit von Familien mit Kindern gestärkt werden solle.25 Im 8. Existenzminimumbericht vom 30.05.201126 heißt es dazu: „Zur Verbesserung der steuerlichen Berücksichtigung von Aufwendungen der Familien für die Betreuung und Erziehung oder Ausbildung der Kinder wurde dieser Freibetrag ab dem Veranlagungszeitraum 2010 von jährlich 2.160 auf 2.640 Euro erhöht .“ Konkretere Angaben finden sich hierin nicht. Eine Kürzung des Freibetrags, wenn sie auch bei Einhaltung der oben genannten Kriterien zur Höhe des steuerrechtlichen Existenzminimums grundsätzlich denkbar wäre, setzt wohl voraus, dass die Beurteilungsgrundlage für die Festlegung sich geändert hat. Sonst setzte sich der Gesetzgeber zu seiner eigenen Wertung in Widerspruch. Dabei ist auch zu beachten, dass die Lebenshaltungskosten grundsätzlich steigend sind. Anderes könnte gelten, wenn es sich bereits ursprünglich um einen aus Sicht des Gesetzgebers das Notwendige übersteigenden Betrag handelte (also jenseits des steuerrechtlichen Existenzminimums). 4.4. Wie hoch müsste der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (aufgegliedert nach seinen Komponenten) mindestens sein, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen? Welches Berechnungsschema liegt dem zugrunde? (Frage 8) Zunächst ist hervorzuheben, dass der Freibetrag nicht in einzelne Komponenten aufgegliedert werden kann, denn er wird nicht für Betreuung, Erziehung und Ausbildung kumulativ gewährt, sondern für Betreuungs- und Erziehungskosten auf der einen (für minderjährige Kinder) oder Ausbildungskosten auf der anderen Seite (für volljährige Kinder)27, die je nach Alter und Entwicklungsstadium des Kindes eine unterschiedlich große Rolle spielen. Es handelt sich insofern um einen einheitlichen pauschalierten Freibetrag. Das BVerfG hat die Möglichkeit, einen vereinheitlichten Entlastungstatbestand des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs zu schaffen, ausdrücklich hervorgehoben und vor allem mit dem Gebot der Einfachheit und Klarheit steuerlicher Regelungen (s.o.) begründet.28 Der Gesetzgeber hat aufgrund der notwendig vorzunehmenden Wertungen bei der Festlegung des Existenzminimums einen Beurteilungsspielraum. Auch ist zu beachten, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse dem stetigen Wandel unterliegen. Eine konkrete Bezifferung des Freibetrages ist deshalb nicht ohne Weiteres möglich. Hinsichtlich der Frage, ob der Freibetrag seiner steuerlichen Entlastungsfunktion der Höhe nach gerecht wird, nimmt auch das BVerfG nur eine Evidenzkontrolle vor. Als verfassungsrechtlich geboten kann eine Erhöhung (erst) dann an- 24 Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Familienförderung, BT-Drs. 14/6160, S. 11 f.; Siebter Existenzminimumbericht , BT-Drs. 16/11065, S. 5. 25 BT- Drs. 17/15, S. 10, 18. 26 BT-Drs. 17/5550, S. 6. 27 Vgl. M. Breithaupt, FPR 2009, S. 141; 8. Existenzminimumbericht, BT-Drs. 17/5550, S. 6. 28 BVerfGE 99, 216, Rz. 94. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 10 gesehen werden, wenn die vom Gesetzgeber ermittelten Werte offensichtlich zu niedrig sind.29 Einzuhalten ist jedenfalls die Untergrenze sozialrechtlich definierter Mindestbedarfe (s.o.). Den Gesetzentwürfen und Existenzminimumberichten lässt sich ein bestimmtes Berechnungsschema nicht entnehmen. Ein solches ist auch verfassungsrechtlich nicht konkret vorgegeben. Zu den allgemeinen Anforderungen an die Berechnungsmethode vgl. Sachstand WD 6 – 3000- 130/11, S.7, Nr. 6. Zur Orientierung der Höhe an steuerrechtlichen Vorschriften vgl. 4.3. 4.5. Könnte der Gesetzgeber darauf verzichten, eine freiwillige Zusatzleistung für Kinder in bestimmten Familien, die nicht zur Deckung ihres Existenzminimums dient, bei der Berechnung des steuerlichen Kinderfreibetrags zu berücksichtigen? (Frage 10) Entscheidend für die Höhe des steuerlichen Kinderfreibetrags ist nach den oben dargelegten Grundsätzen, dass durch die Kinderfreibeträge eine steuerliche Freistellung des Existenzminimums bewirkt wird. Hat die freiwillige Zusatzleistung keine existenzsichernde Funktion, so ist sie auch für die Ermittlung des steuerrechtlichen Existenzminimums und damit die (Mindest-) Höhe des Kinderfreibetrags nicht relevant. Als Sozialleistung muss Kindergeld weder in einer bestimmten Höhe ausgezahlt werden noch in einer bestimmten Relation zu den Freibeträgen stehen .30 5. Kritische Stimmen in der Fachliteratur Eine Vermengung von Steuer- und Sozialrecht kritisiert Lang, 31 der sich dafür ausspricht, das Kinderexistenzminimum nur durch den Kinderfreibetrag steuerfrei zu stellen und das Kindergeld , das systematisch nicht ins EStG gehöre, als eine am Bedürfnisprinzip orientierte Sozialsubvention auszugestalten, die Eltern mit niedrigen Einkommen zusätzlich zum Freibetrag gewährt wird. Gegen die Rechtsprechung des BVerfG zum Betreuungs- und Erziehungsbedarf als Teil der Kinderexistenzminimums wenden sich Seer/Wendt32, die den Betreuungsfreibetrag, wie er vom BVerfG gefordert wird, im Hinblick auf die Eigenbetreuung als sozialpolitisch erwünschte Norm ansehen, die gemessen am Leistungsfähigkeitsprinzip unangebracht sei. Der Betreuungsbedarf sei gerade nicht von konkreten Aufwendungen unabhängig, die Minderung der Leistungsfähigkeit steuersystematisch nicht dem subjektiven Nettoprinzip (existenzsichernde Aufwendungen), sondern dem objektiven Nettoprinzip (Erwerbsaufwendungen) zuzuordnen. 29 Vgl. BVerfGE 82, 60, Rz. 119 m.w.N. 30 Loschelder, in: L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, 30. Aufl. 2011, § 31 Rn. 8. 31 in: Tipke/Lang, Steuerrecht, §9 Rz. 91 ff. 32 NJW 2000, S. 1907 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 – 3000 - 111/11 Seite 11 Ähnlich äußern sich Birk/Wernsmann33: Das BVerfG scheine auch in Leistungen, die nicht mit finanziellem Aufwand verbunden seien, eine von Verfassungs wegen zu berücksichtigende Minderung der finanziellen Leistungsfähigkeit zu sehen, was eine Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips aus sozialpolitischen Erwägungen darstelle. 33 JZ 2001, S. 218, 222 f.