© 2015 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 103/15 Folgen der Erbschaftsteuer-Entscheidung des BVerfG Was geschieht, wenn der Gesetzgeber nicht handelt? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 2 Folgen der Erbschaftsteuer-Entscheidung des BVerfG Was geschieht, wenn der Gesetzgeber nicht handelt? Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 103/15 Abschluss der Arbeit: 06.07.2015 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Inhalt des Urteils 4 3. Argumente für ein Entfallen der Erbschaftsteuer nach dem 30.06.2016 7 4. Fortgeltung der bisherigen Regelungen bis zur Neuregelung? 8 5. Gutachterliche Einschätzung 8 5.1. Weitergeltungsanordnung des verfassungswidrigen Rechts nur bis 30.6.2016 oder auch darüber hinaus? 8 5.2. Handlungsmöglichkeiten im Vollstreckungswege für das BVerfG 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 4 1. Fragestellung Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung ist die Frage nach der Rechtsfolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 17.12.2014 (1 BvL 21/12) zur verfassungswidrigen Privilegierung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuergesetz (ErbStG), wenn der Gesetzgeber der Aufforderung des BVerfG zur Änderung des ErbStG nicht fristgemäß nachkommen sollte. 2. Inhalt des Urteils Das BVerfG hat seine Entscheidung zur Erbschaftsteuer bezüglich der Verfassungswidrigkeit der §§ 13a und 13b jeweils in Verbindung mit der Tarifvorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG sowie die sich aus der Entscheidung ergebenden Rechtsfolgen wie folgt begründet: (C. I.) Der 1. Senat hält die Bestimmungen über die Verschonung des unentgeltlichen Erwerbs begünstigten Vermögens von der Schenkung- und Erbschaftsteuer in §§ 13a und 13b ErbStG mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar, soweit die Verschonung über den Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift, ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen. “Gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen außerdem die Freistellung von der Pflicht zur Einhaltung der Lohnsummenregelung nach § 13a Abs. 1 Satz 4 ErbStG als Voraussetzung der Verschonung, soweit sie für Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten gilt, und die Regelung über das Verwaltungsvermögen in § 13b Abs. 2 Satz 1 ErbStG, soweit sie bei Vorliegen der übrigen Förderbedingungen begünstigtes Vermögen selbst dann insgesamt in den Genuss des Verschonungsabschlags gelangen lässt, wenn es bis zu 50% aus vom Gesetz als grundsätzlich nicht förderungswürdig angesehenem Verwaltungsvermögen besteht. 1“ “§§ 13a und 13b ErbStG sind schließlich nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit sie zu nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlungen führende steuerliche Gestaltungen zulassen oder jedenfalls bis zum 6. Juni 2013 zuließen, nämlich die exzessive Ausnutzung der Befreiung von der Lohnsummenpflicht durch die Aufspaltung in Besitz- und Betriebsgesellschaft , die Umgehung der 50 %-Regel des § 13b Abs. 2 Satz 1 ErbStG für Verwaltungsvermögen durch Nutzung von Konzernstrukturen und die Begünstigung von Geldvermögen durch die Schaffung von "Cash-Gesellschaften". Die festgestellten Verfassungsverstöße betreffen für sich genommen die §§ 13a und 13b ErbStG zwar jeweils nur in Teilbereichen, erfassen damit aber die gesamte Verschonungsregelung in ihrem Kern.2“ […] “Mit den festgestellten Gleichheitsverstößen erweisen sich wichtige Bausteine der Gesamtregelung als verfassungswidrig. Ohne sie können die restlichen - nicht beanstandeten – 1 BVerfG BStBl II 2015, 50 (Rn. 279) 2 BVerfG a.a.O., (Rn. 280-281) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 5 Regelungsbestandteile der §§ 13a und 13b ErbStG nicht sinnvoll angewandt werden. Jedenfalls würde dies zu Ergebnissen führen, die vom Gesetzgeber so nicht gewollt sind. Ein verfassungsgemäßer Zustand kann daher nur durch eine umfassende Nachbesserung oder grundsätzliche Neukonzeption der Gesamtverschonungsregelung herbeigeführt werden.“ Jedenfalls würde dies zu Ergebnissen führen, die vom Gesetzgeber so nicht gewollt sind. Ein verfassungsgemäßer Zustand kann daher nur durch eine umfassende Nachbesserung oder grundsätzliche Neukonzeption der Gesamtverschonungsregelung herbeigeführt werden . Die festgestellten Gleichheitsverstöße erfassen folglich die §§ 13a und 13b ErbStG insgesamt. Dies gilt für die Vorschriften in ihrer Ursprungsfassung des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24. Dezember 2008 (BGBl I S. 3018), darüber hinaus aber auch für die Folgefassungen. Denn die Schließung der Gesetzeslücke betreffend die "Cash-Gesellschaften " durch den mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 26. Juni 2013 eingefügten § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 4a ErbStG hat diesen Mangel zwar beseitigt, die Verfassungswidrigkeit der anderen Gestaltungsmöglichkeiten, der uneingeschränkten Begünstigung sehr großer Vermögen, der Lohnsummenregelung und der Verwaltungsvermögensgrenze im Übrigen aber unberührt gelassen. 3“ “Die Gesamtverfassungswidrigkeit der Besteuerung des Unternehmensübergangs nach Maßgabe der §§ 13a und 13b ErbStG bei Erbschaft und Schenkung erfasst notwendig auch die Besteuerung des unentgeltlichen Übergangs von nicht begünstigtem (Privat-)Vermögen . Entfallen nämlich die steuerbegünstigenden Vorschriften der §§ 13a und 13b ErbStG, könnten nicht stattdessen die allgemeinen Regeln über den erbschaftsteuerlichen Zugriff auf Erbe oder Schenkung auch für den Übergang von Betrieben Anwendung finden. Eine Belastung aller Unternehmensübergänge nach den allgemeinen erbschaftsteuerrechtlichen Grundsätzen ohne unternehmensspezifische Privilegierungen widerspräche offensichtlich dem in dem Steuerverschonungskonzept der §§ 13a und 13b ErbStG zum Ausdruck gekommenen - und im Grundsatz verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstandenden (dazu B. III. 2.) - Willen des Gesetzgebers. Auf der anderen Seite fehlt es für einen völligen Verzicht auf die Besteuerung des unentgeltlichen Erwerbs betrieblichen Vermögens im Falle der Verfassungswidrigkeit von §§ 13a und 13b ErbStG an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage wie auch an einem hinreichenden Rechtfertigungsgrund für eine derart umfassende Steuerbefreiung. Ohne eine vom Willen des Gesetzgebers getragene Besteuerungsregelung für Unternehmensübergänge ist eine lastengerechte Erhebung der Erbschaftsteuer in den übrigen Fällen jedoch ebenfalls nicht ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG möglich. Dem wird durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des vom Bundesfinanzhof vorgelegten § 19 Abs. 1 ErbStG Rechnung getragen. Diese Regelung, welche die Besteuerung begünstigten wie nicht begünstigten Vermögens gleichermaßen betrifft, ist daher ebenfalls für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG zu erklären. Damit ist die Erhebung der Erbschaftsteuer auch für den Übergang von Privatvermögen blockiert.4“ 3 BVerfG BStBl II 2015, 50 (Rn. 282) 4 BVerfG a.a.O. (Rn. 283-284) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 6 Im darauffolgenden Abschnitt C. II. schränkt das BVerfG dieses Verdikt der Verfassungswidrigkeit der Tarifnorm des § 19 Abs. 1 ErbStG sodann aber wieder ein: “Allerdings bleibt es hier bei der bloßen Feststellung der Unvereinbarkeit der §§ 13a und 13b und des § 19 Abs. 1 ErbStG mit Art. 3 Abs. 1 GG. Zugleich wird die begrenzte Fortgeltung dieser Normen angeordnet und dem Gesetzgeber die Neuregelung binnen einer angemessenen Frist aufgegeben. 1. Die bloße Unvereinbarkeitserklärung einer verfassungswidrigen Norm ist regelmäßig geboten , wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das ist grundsätzlich bei Verletzungen des Gleichheitssatzes der Fall. Stellt das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG fest, folgt daraus in der Regel die Verpflichtung des Gesetzgebers, rückwirkend, bezogen auf den in der gerichtlichen Feststellung genannten Zeitpunkt, die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten . Hierzu kann das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Frist setzen. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen. Im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung hat das Bundesverfassungsgericht allerdings wiederholt die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist eingeräumt , um binnen angemessener Zeit verfassungsgemäße Regelungen zu erlassen. 2. a) Der Senat hält es danach für geboten, die §§ 13a und 13b in Verbindung mit § 19 Abs. 1 ErbStG lediglich für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG zu erklären und zugleich deren Fortgeltung anzuordnen. Die aus einem solchen Ausspruch folgende Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen, verbunden mit der Pflicht des Gesetzgebers zur - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats - rückwirkenden Neuregelung brächte erhebliche haushaltswirtschaftliche Unsicherheiten und nach einer solchen Neuregelung gravierende verwaltungstechnische Probleme bei der dann gebotenen Rückabwicklung mit sich. Während der in diesem Fall regellosen Übergangszeit bis zur Neugestaltung der Bestimmungen könnten Erb- und Schenkungsfälle steuerrechtlich nicht abgewickelt werden. Mangels gültiger Regelung bliebe während der Übergangszeit auch das Aufkommen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer nach Grund und Umfang im Unklaren. Die Erbschaft - und Schenkungsteuer leistet zwar nur einen untergeordneten Beitrag zum Gesamtsteueraufkommen . Als Steuer, deren Aufkommen ausschließlich den Ländern zufließt (Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG), kommt ihr aber für die finanzielle Ausstattung der Länder erhebliche Bedeutung zu; in den Jahren 2012 und 2013 machte sie annähernd 30 % des Aufkommens an Ländersteuern aus (vgl. Tabellarische Übersicht der kassenmäßigen Steuereinnahmen nach Steuerarten und Gebietskörperschaften in den Kalenderjahren 2010 bis 2013 des Bundesministeriums der Finanzen). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 7 Schwer erträglich wäre die Ungewissheit über den Inhalt der künftigen, dann mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in Kraft zu setzenden Regeln des Erbschaft - und Schenkungsteuerrechts aber vor allem für die Inhaber von Unternehmen und ihre künftigen Erben oder sonstigen Nachfolger. Sie haben ein berechtigtes Interesse an einer verlässlichen Rechtsgrundlage für die Nachfolgeplanung auch in steuerrechtlicher Hinsicht. b) Mit Rücksicht auf die vorstehenden Erwägungen ordnet der Senat die Fortgeltung der für gleichheitswidrig befundenen Normen bis zu einer Neuregelung an. Die Fortgeltung der beanstandeten Vorschriften ist auch deshalb hinnehmbar, weil der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 4a ErbStG durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 26. Juni 2013 eine der Hauptlücken für unerwünschte steuerliche Gestaltungen durch "Cash-Gesellschaften" weitgehend geschlossen hat. Außerdem ist zu berücksichtigen , dass die Anordnung der Fortgeltung der verfassungswidrigen Normen keinen Vertrauensschutz gegen eine auf den Zeitpunkt der Verkündung dieses Urteils bezogene rückwirkende Neuregelung begründet, die einer exzessiven Ausnutzung gerade der als gleichheitswidrig befundenen Ausgestaltungen der §§ 13a und 13b ErbStG die Anerkennung versagt. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 30. Juni 2016 zu treffen .5“ 3. Argumente für ein Entfallen der Erbschaftsteuer nach dem 30.06.2016 In der Literatur wird weit überwiegend die Auffassung vertreten, dass mit ergebnislosem Ablauf der vom BVerfG dem Gesetzgeber gesetzten Frist zum 30.06.2016 für eine Neuregelung der verfassungswidrigen Normen des ErbStG, die Erbschaftsteuer in Gänze nicht mehr zu erheben wäre6. Hierzu wird auf den Abschnitt C. I. der Urteilsbegründung7 verwiesen. Insbesondere die Formulierung : “Dem wird durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des vom Bundesfinanzhof vorgelegten § 19 Abs. 1 ErbStG Rechnung getragen. Diese Regelung, welche die Besteuerung begünstigten wie nicht begünstigten Vermögens gleichermaßen betrifft, ist daher ebenfalls für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG zu erklären. Damit ist die Erhebung der Erbschaftsteuer auch für den Übergang von Privatvermögen blockiert.“ Die Verfassungswidrigkeit der Tarifnorm schließe eine Anwendbarkeit des bisherigen ErbStG ab dem 1.7.2016 aus. 5 BVerfG a.a.O. (Rn 285-293) 6 So bspw. Seer beim 133. Bochumer Steuerseminar am 27.02.2015: Die Zukunft der Erbschaftsteuer nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, S. 6-8; Kahle/Hiller/Eichholz DStR 2015, 183-189 (188f.); Haarmann , BB 2015, 32-33; Welling/Rüchardt/Pauli: Schriftenreihe zur Erbschaftsteuerreform v. 23.03.2015, S. 9 7 BVerfG a.a.O. (Rn. 278-284) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 8 Das BVerfG habe keine explizite Weitergeltung nach Ablauf der Frist ausgesprochen. Dies führe, bei Ablauf der Frist ohne eine entsprechende Neuregelung, dazu, dass das ErbStG insgesamt nicht mehr anzuwenden wäre.8 4. Fortgeltung der bisherigen Regelungen bis zur Neuregelung? Der für die Erbschaftsteuer-Entscheidung am Bundesverfassungsgericht zuständige Berichterstatter , Herr Richter am BVerfG Prof. Eichberger, hat sich nach Veröffentlichung der Entscheidung auf mehreren öffentlichen Veranstaltungen zur Frage der Fortgeltung des bisherigen ErbStG über den 30.06.2016 eindeutig geäußert.9 Demnach würden die für verfassungswidrig befundenen Teile des Gesetzes bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, und nicht nur bis zum 30.06.2016 fortgelten. Es werde daher nicht durch das Verstreichen des Zeitraums zu einem heimlichen Untergang der Erbschaftsteuer kommen.10 Zu der Frage, ob schlussendlich ein für verfassungswidrig befundenes Gesetz weitergelten könne, verwies Eichberger auf die Ausführungen des BVerfG im ZDF-Urteil11 und zur Grunderwerbsteuer12. 5. Gutachterliche Einschätzung 5.1. Weitergeltungsanordnung des verfassungswidrigen Rechts nur bis 30.6.2016 oder auch darüber hinaus? Diejenigen, die von einem Wegfall der Erbschaftsteuer ab dem 1.7.2016 ausgehen, argumentieren vor allem mit der Frist für den Gesetzgeber zur Neuregelung der für verfassungswidrig erklärten Normen des ErbStG. Zudem verweisen sie auf die Urteilsbegründung in C. I., wo das BVerfG nicht nur die Verschonung beim Übergang betrieblichen Vermögens in §§ 13a und 13b ErbStG für verfassungswidrig erklärte, sondern auch die Tarifvorschrift des § 19 ErbStG. Gem. § 31 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bei konkreten Normenkontrollen Gesetzeskraft. Gemäß § 31 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG ist die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen, soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt wurde. Die im Bundesgesetzblatt zur BVerfG-Entscheidung v. 17.12.2014 zur Erbschaftsteuer veröffentlichte Entscheidungsformel lautet: 8 Welling/Rüchardt/Pauli: a.a.O. 9 Dokumentiert für die 54. Berliner Steuergespräche am 9.2.2015 in: FR 2015, 497-503 (499 f.) 10 Eichberger bei den 54. Berliner Steuergesprächen; a.a.O. 11 BVerfG, Beschl. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, BGBl. I 2014, 380 12 BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11, DStR 2012, 1649 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 9 “1. Mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes sind seit dem Inkrafttreten des Erbschaftsteuerreformgesetzes zum 1. Januar 2009 unvereinbar § 13a des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) vom 22. Dezember 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 3950) und § 13b des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz ) vom 24. Dezember 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 3018) jeweils in Verbindung mit § 19 Absatz 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Februar 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 378), auch in den seither geltenden Fassungen. 2. Das bisherige Recht ist bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 30. Juni 2016 zu treffen.“ Diese Entscheidungsformel hat somit Gesetzeskraft. Fraglich ist, ob die Urteilsbegründung C.I. ebenfalls an der Gesetzeskraft teilhat. Sachentscheidungen in Normenkontrollverfahren sind Entscheidungen im Sinne des § 31 Abs. 2 BVerfGG und entfalten Gesetzeskraft.13 Dies gilt jedoch nicht für Sondervoten, Leitsätze und obiter dicta.14 Abschnitt C. I. enthält die Aussagen zu Art und Umfang der Verfassungswidrigkeit der §§ 13a, 13b und 19 Abs. 1 ErbStG. Es handelt sich um tragende Entscheidungsgründe, die an der Gesetzeskraft gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG teilhaben. Während der Abschnitt C.I. mit dem Ausspruch der Verfassungswidrigkeit den Umfang der Anwendungssperre festlegt, wird im nachfolgenden Abschnitt C.II. die sog. Weitergeltungsanordnung festgelegt. „Erst die Weitergeltungsanordnung überwindet die Anwendungssperre. Die befristete Weitergeltungsanordnung sichert die vorläufige Anwendbarkeit der Norm. Allein die Weitergeltungsanordnung und nicht das verfassungsrechtlich defizitäre Gesetz bildet dann bis zu einer gesetzlichen Neuregelung „die eigentliche“ Rechtsgrundlage für die Realisierung des mit der für verfassungswidrig erklärten Norm verfolgten Anliegens.15“ Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit in C.I. und die Weitergeltungsanordnung in C.II. stehen somit nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich vielmehr. Grundsätzlich erklärt das BVerfG die Tarifvorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG. Ohne die Weitergeltungsanordnung in C.II. wäre die Erhebung der Erbschaftsteuer auch für den Übergang von Privatvermögen blockiert.16 13 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 31 Rn. 86 (abgerufen über beck-online am 2.6.2015) 14 Bethge a.a.O. Rn. 90-92 15 Bethge a.a.O. Rn. 227 16 BVerfG a.a.O. Rn.284 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 10 Entscheidend für die Rechtsfolgen ab dem 1.7.2016 - für den Fall, dass eine Neuregelung des ErbStG unterbleibt - ist somit nur, ob die Weitergeltungsanordnung über den 30.6.2016 hinaus Bestand hat. Die Weitergeltungsanordnung im zweiten Punkt des Tenors besteht aus zwei Aussagen: Zum einen ist das bisherige Recht bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar. Zum anderen wird der Gesetzgeber verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2016 eine Neuregelung zu treffen. Es sind nun zwei Interpretationen denkbar: 1. Variante: Die Weitergeltungsanordnung im ersten Satz wird durch den Regelungsauftrag an den Gesetzgeber im zweiten Satz näher bestimmt und zeitlich beschränkt. 2. Variante: Die Weitergeltungsanordnung in Satz 1 besteht bis zu einer Neuregelung und diese muss nach dem 30.06.2016 nicht zwingend durch den Gesetzgeber erfolgen. Die Frist in Satz 2 gilt nur für den Gesetzgeber. Nach Fristablauf kann das BVerfG selbst als Notgesetzgeber eine Übergangsbestimmung erlassen. Für die erste Variante mag zunächst das geläufige Verständnis des Gesetzgebungsverfahrens sprechen . Für die Gesetzgebung ist nach dem Grundgesetz der Deutsche Bundestag zuständig. In einem “normalen Gesetzgebungsverfahren“ kommt das BVerfG nicht vor. Der Wortlaut der Weitergeltungsanordnung könnte zudem dahingehend interpretiert werden, dass das BVerfG eine allgemeine Aussage zur Weitergeltung der verfassungswidrigen Normen bis zur Neuregelung treffen wollte. Und sodann den Auftrag an den Gesetzgeber zeitlich befristet und näher konkretisiert. Allerdings spricht gegen diese Auslegung der Vergleich mit früheren Entscheidungsformeln des BVerfG in ähnlichen Konstellationen. In der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit von Teilen des Vermögensteuergesetzes17 lautete die Entscheidungsformel: „2. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung bis spätestens bis zum 31. Dezember 1996 zu treffen. Längstens bis zu diesem Zeitpunkt ist das bisherige Recht weiterhin anwendbar.“ Dieser Tenor weist im Gegensatz zur Entscheidungsformel im aktuellen Erbschaftsteuerurteil eine klare Verknüpfung der Frist zur Neuregelung mit der anschließenden Nichtanwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Normen auf. Da davon ausgegangen werden kann, dass das BVerfG die unterschiedlichen Varianten einer Entscheidungsformel nicht nur kennt, sondern auch bewusst in den jeweiligen Fallkonstellationen anwendet, liegt es nahe, dass die Nichtanwendbarkeit des ErbStG bei einem Nichthandeln des Gesetzgebers vom BVerfG hier gerade nicht beabsichtigt war. Auch die Differenzierung zwischen einer Fortgeltung bis zur Neuregelung einerseits und der Fristsetzung für den Gesetzgeber zur Neuregelung andererseits erscheint nur sinnvoll zu sein, 17 BVerfGE 93, 121-165 (121) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 11 wenn insoweit tatsächlich unterschiedliche Rechtsfolgen bestehen sollen. Dies sieht auch Dietz so: “Auf diese Weise wird ein Zustand der Rechtsunsicherheit vermieden. Dies scheint umso mehr zu gelten, wenn das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendbarkeit des “bisherigen Rechts bis zu einer Neuregelung“ anordnet. Geht es dem Gericht doch offenbar gerade darum, dass die verfassungswidrigen Normen erst mit dem Inkrafttreten der Neuregelung nicht mehr angewendet werden sollen.“18 Dafür sprechen zudem die entsprechenden öffentlichen Stellungnahmen des für die Entscheidung zuständigen Berichterstatters, Richter am BVerfG Prof. Eichberger, bspw. bei den 54. Berliner Steuergesprächen.19 Er führte hier aus, dass die für verfassungswidrig befundenen Teile des Gesetzes bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber und nicht nur bis zum 30.6.2016 fortgelten würden.20 Zwischenergebnis: Es ist davon auszugehen, dass die Weitergeltungsanordnung nicht am 30.6.2016 endet. Vielmehr bleibt der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts über das Fristende hinaus bestehen. Die §§ 13a und 13b jeweils in Verbindung mit § 19 Abs. 1 ErbStG wären auch über den 30.6.2016 hinaus anwendbar. 5.2. Handlungsmöglichkeiten im Vollstreckungswege für das BVerfG Mit Ablauf des 30.6.2016 - ohne gesetzgeberisches Handeln bei der Erbschaftsteuer - stellen sich sodann Fragen nach der Vollstreckbarkeit des Auftrages zur Gesetzesmodifikation gemäß § 35 BVerfGG. Dem BVerfG steht es gemäß § 35 BVerfGG zu, im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung zu regeln. Diese Norm wird vom BVerfG weit interpretiert. “Gestützt auf diese Kompetenz trifft das Gericht von Amts wegen […] alle Anordnungen, die erforderlich sind, um seinen ein Verfahren abschließenden Sachentscheidungen Geltung zu verschaffen. Der Vollstreckung […] sind auch Feststellungsurteile zugänglich […]. Aus dem umfassenden Gehalt der Vorschrift […] folgt aber, dass jene Anordnungen, wenn sich ihre Notwendigkeit erst nachträglich herausstellt, auch in einem selbstständigen Beschluss des Gerichts getroffen werden können.21“ 18 Dietz, Martin (2011): Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen: Zulässigkeit, Voraussetzungen und Rechtsfolgen . Dissertation Universität Greifswald, S. 243 19 Eichberger bei den 54. Berliner Steuergesprächen, a.a.O. 20 Eichberger: ebenda, S. 499 21 BVerfG – Urteil v. 21.3.1957 – BVerfGE 6, 300 (304) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 12 Hoppe22 hielt bereits bei der Diskussion um das BVerfG-Urteil vom 7.11.2006 zur Erbschaftsteuer bei Nichthandeln des Gesetzgebers Vollstreckungsanordnungen des BVerfG für zulässig, die eine (Nach-)Frist für die Neuregelung setzen, die Aufhebung der Weitergeltung verfassungswidrigen Rechts zu einem bestimmten Zeitpunkt festlegen oder den Erlass einer normvertretenden Übergangsregelung für denkbar. “§ 35 BVerfGG dient dem Vollzug der Sachentscheidung. Die Vollstreckung ist akzessorisch. Sie steht im Dienst der Sachentscheidung. Die Übergangsregelungen und Rechtsfolgeanordnungen, die ergehen, um der Sachentscheidung Geltung zu verschaffen und das vom Bundesverfassungsgericht gefundene Recht zu verwirklichen, wirken nur in den Grenzen des Tenors und der ihn tragenden Entscheidungsgründe. Der Vollstreckungsbeschluss kann die Sachentscheidung nicht erweitern.“23 Das heißt, dass das BVerfG nur die für verfassungswidrig erklärten Normen mittels einer eigenen Übergangsregelung ersetzen könnte. Wollte das BVerfG eine eigene Übergangsregelung erlassen, müsste es sich um Regelungen handeln, die in das bestehende ErbStG einfügbar wären und mit den weiterhin geltenden Normen des ErbStG harmonieren würden. Denn ersetzbar wäre nicht das gesamte ErbStG, sondern nur die für verfassungswidrig erklärten Teilregelungen. Es könnte somit eigene vorläufige Verschonungsregelungen für Betriebsvermögen nach Maßgabe der BVerfG-Entscheidung entwickeln, die als kleine Lösung in das bisherige Gesetz integrierbar wären . Die Übergangsregelungen des BVerfG würden solange in Kraft bleiben, wie der Gesetzgeber keine Änderung an den für verfassungswidrig erklärten Regelungen vorgenommen hat. Sobald es ein parlamentarisch beschlossenes Gesetz zur Neufassung der erbschaftsteuerlichen Behandlung des Betriebsvermögens gäbe, träten die Übergangsregelungen des BVerfG außer Kraft. Das BVerfG greift mit dem Erlass von Übergangsregelungen in die Kompetenz des Gesetzgebers ein. Im Bewusstsein um diesen sensiblen Regelungsbereich hat das BVerfG das Prinzip der schonendsten Regelung24 entworfen. Ein gänzliches Absehen von den Verschonungsregelungen ist dagegen eher unwahrscheinlich, da das BVerfG bei der Beurteilung explizit auf die vom Willen des Gesetzgebers getragene Besteuerungsregelung für Unternehmensübergänge Bezug nimmt und diesen gesetzgeberischen Willen nicht ohne weiteres ignorieren würde. 22 Hoppe DVBl. 2009, 628-629 23 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, a.a.O., § 35 Rn. 47 24 BVerfGE 84, 9 (23); 91, 186 (207); 93, 37 (85); 103, 111 (141) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 13 Seer25 kritisiert Eichbergers Ausführungen zu einer möglichen Vollstreckungsanordnung des BVerfG. Eine Disziplinierung des Gesetzgebers wegen Untätigkeit durch ein Gericht von Amts wegen ohne anhängigen Fall sei undenkbar. Das BVerfG sei “kein taktisch, strategischer Player“. Dieser Einwand ignoriert jedoch die Existenz und Reichweite des § 35 BVerfGG. Wenn das Bundesverfassungsgericht eine Folgeregelung selbst trifft, dann tut es dies nur, weil der Gesetzgeber seiner Verpflichtung aus der BVerfG-Entscheidung nicht nachgekommen ist und ein Vollzugsinteresse besteht. Die Urteilskraft geht nicht allein von der Autorität des Gerichts aus, sondern kann und muss sich auch darauf stützen können, dass die beabsichtigen Rechtsfolgen für das Gericht notfalls gegen den Widerstand einer der Verfahrensbeteiligten durchgesetzt werden kann. Dass der Bereich der Gesetzgebung hier ein besonders sensibler ist, wird auch vom BVerfG erkannt . Hierfür spricht nicht zuletzt auch die behutsame Anwendung des § 35 BVerfGG in der Praxis. Fazit: Das bisherige Recht der §§ 13a und 13b jeweils in Verbindung mit § 19 Abs. 1 ErbStG ist bei gesetzgeberischer Inaktivität auch über den 30.6.2016 hinaus anwendbar. Es ist sodann aber mit einer Vollzugsregelung des BVerfG zu rechnen. Diese kann entweder in einer erneuten Fristsetzung für den Gesetzgeber und Beibehaltung der Fortgeltungsanordnung bestehen. Alternativ ist jedoch auch eine Ersatzregelung zu §§ 13a und 13b i.V.m. § 19 Abs. 1 ErbStG durch das BVerfG möglich. 25 Seer bei dem 133. Bochumer Steuerseminar am 27.2.2015: Die Zukunft der Erbschaftsteuer nach der Entscheidung des BVerfG, S. 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 103/15 Seite 14 Literaturverzeichnis Bethge, Herbert in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 45. Lfg. 2014 [abgerufen über www.beck-online.de] Dietz, Martin (2011). Verfassungsgerichtliche Unvereinbarerklärungen: Zulässigkeit, Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Dissertation Universität Greifswald Haarmann, Wilhelm (2015). Das Urteil des BVerfG zur Erbschaftsteuer – eine erste Einschätzung: Betriebsberater 2015, 32-33 Hoppe, Tilman (2009). 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