© 2020 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 088/20 Zur verfassungsrechtlichen Gebotenheit einer Einschränkung der Rückwirkung der Reform der abgaberechtlichen Vermögensabschöpfung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht Inwieweit verlangt das Rückwirkungsverbot eine zeitliche Begrenzung des Anwendungsbereichs des neuen § 357a Abgabenordnung (AO) wie durch § 34 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) vorgesehen ? Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. 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Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 2 Zur verfassungsrechtlichen Gebotenheit einer Einschränkung der Rückwirkung der Reform der abgaberechtlichen Vermögensabschöpfung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht Inwieweit verlangt das Rückwirkungsverbot eine zeitliche Begrenzung des Anwendungsbereichs des neuen § 357a Abgabenordnung (AO) wie durch § 34 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) vor-gesehen? Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 088/20 Abschluss der Arbeit: 18.08.2020 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Reform der Vermögensabschöpfung durch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz 5 3. Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot 6 3.1. Das absolute Rückwirkungsverbot im Strafrecht, Art. 103 Abs. 2 GG 7 3.2. Das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot, Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG 7 3.2.1. Retroaktive („echte“) Rückwirkung 8 3.2.2. Retrospektive („unechte“) Rückwirkung 8 4. Einordnung des § 375a AO 8 4.1. Konstitutive / deklaratorische Neuregelung 8 4.2. Rückwirkung 9 5. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rückwirkung 9 5.1. Bagatellbelastung 10 5.2. Absehbarkeit der Gesetzesnovellierung 10 5.3. Unklare und verworrene Rechtslage 11 5.4. Überwiegende zwingende Gründe des Allgemeinwohls 12 6. Fazit 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 4 1. Einleitung Mit Wirkung zum 01. Juli 2017 hat der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung beschlossen.1 Das Reformgesetz sollte die bestehende Gesetzessystematik zur Vermögensabschöpfung vereinfachen und Einziehungslücken schließen.2 Kernstück der Reform sind dabei die §§ 73 ff. Strafgesetzbuch (StGB). Die Vermögensabschöpfung ermöglicht es dem Staat, einen durch oder zum Zwecke der Begehung einer Straftat erlangten Vermögensvorteil (§ 73 Abs. 1 StGB) oder dessen entsprechenden Gegenwert (§ 73c StGB) einzuziehen.3 Damit trägt die Maßnahme dem Bedürfnis nach einer Wiederherstellung der Rechtsordnung Rechnung und greift ordnend in die durch die Straftat unrechtmäßig geschaffene Vermögenslage ein.4 Sie soll in erster Linie dem Täter vor Augen führen, dass der Staat „strafrechtswidrige Bereicherungen nicht [duldet] (…) und Straftaten sich nicht lohnen“.5 Die Vermögensabschöpfung hat insofern nicht eine repressiv-vergeltende, sondern eine präventiv-ordnende Funktion.6 Im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Zweites Corona-Steuerhilfegesetz)7 hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01. Juli 2020 weitere Änderungen an dem Instrument der Vermögensabschöpfung vorgenommen, die insbesondere den Ausschluss der Einziehung von Steuergeldern im Falle steuerrechtlicher Verjährung betreffen. Wie kürzlich höchstrichterlich bestätigt stand bislang § 73e StGB iVm. § 47 Abgabenordnung (AO) einer Vermögensabschöpfung entgegen, wenn der steuerrechtliche Anspruch (des Staates) verjährt war.8 Dies wurde nunmehr durch die Einführung des § 375a AO dahingehend geändert, dass eine eingetretene Verjährung die Einziehung nach §§ 73 StGB nicht hindert. Allerdings wurde die Neuregelung hinsichtlich ihrer zeitlichen Wirkung für die Vergangenheit wesentlich eingeschränkt. 1 BT-Drs. 18/11640 v. 22.3.2017. 2 Ebenda. 3 Spatscheck/Spilker: Zeitliche Grenzen der Einziehung von verkürzten Steuerbeträgen (DStR 2020, 1664). 4 Saliger in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, Rn. 2. 5 BVerfG Beschluss vom 14. 1. 2004 - 2 BvR 564/95. 6 Ebenda. 7 BGBl. I 2020, 1512, 1515. 8 BGH Beschluss v. 24.10.2019 – 1 StR 173/19, NStZ-RR 2020, 46. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 5 Grund für die Einschränkung der Rückwirkung des § 375a AO sei, so teilte das Bundesministerium der Finanzen (BMF) im Zuge einer Anfrage der Süddeutschen Zeitung und des WDR mit, das Rechtsstaatsprinzip und das damit verknüpfte Rückwirkungsverbot für belastende Gesetze.9 Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, ob die durch § 34 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) vorgenommene Einschränkung der Rückwirkung des neu eingeführten § 375a AO im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) bzw. des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geboten ist. 2. Reform der Vermögensabschöpfung durch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz Durch die Einführung des § 375a AO wurde die Verfolgungslücke, die der bis dahin umstrittene, jedoch höchstrichterlich bestätigte Ausschluss der Vermögensabschöpfung im Falle steuerrechtlicher Verjährung bewirkte, geschlossen. Gem. § 73e StGB ist die Einziehung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte u.a. ausgeschlossen, wenn der Anspruch auf Rückzahlung erloschen ist. Der Gesetzgeber wollte durch diese Wendung „gewährleisten, dass der Einziehungsadressat vor einer doppelten Inanspruchnahme - durch den Verletzten einerseits und die hoheitliche Einziehungsanordnung andererseits - geschützt wird“.10 Ausweislich der Gesetzesbegründung ging es dabei wesentlich um solche Fälle, in denen eine infolge einer rechtswidrigen Tat geschuldete Leistung bereits gem. § 362 Abs. 1 BGB bewirkt wurde. Im Gegensatz zur allgemeinen Verjährung im Zivilrecht, bei der gemäß § 214 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) lediglich ein Leistungsverweigerungsrecht besteht, bedingt die abgaberechtliche Verjährung ein „Erlöschen“ des Steueranspruches nach §§ 47, 232 AO. Im Sinne der Einheitlichkeit des Gesetzeswortlautes müsse daher, wie der Bundesgerichtshof (BGH) ausführt, § 73e StGB dahingehend ausgelegt werden, dass er auch erloschene Steueransprüche erfasst.11 Entsprechend stehe die Verjährung steuerrechtlicher Ansprüche einer Einziehung nach § 73e StGB entgegen. Daher war eine Abschöpfung unrechtmäßig erlangter Steuervorteile bislang nur im zeitlich eng begrenzten Rahmen der steuerrechtlichen Festsetzungsverjährung gem. §§ 169- 171 AO möglich.12 Für Fälle von Steuerhinterziehung bestand so nach Ablauf der zehnjährigen Verjährungsfrist aus § 169 Abs. 2 Satz 2 AO eine faktische Amnestie, da zwar aufgrund von § 76a 9 Tagesschau „Geld ist wohl in vielen Fällen weg“, 16.07.2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/cumex -139.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE, Süddeutsche Zeitung „Sie dürfen die Beute behalten“, 16.07.2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/cum-ex-steuern-1.4969137. 10 BT-Drs. 18/9525, S. 69. 11 BGH Beschluss v. 24.10.2019 – 1 StR 173/19. 12 Je nach Anknüpfungstatbestand verjähren Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis in Fünf beziehungsweise Zehn (etwa Steuerhinterziehung) Jahren. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 6 Abs. 2 Satz 1 StGB eine Einziehung grundsätzlich trotz Verjährung möglich, gemäß § 73e StGB jedoch aufgrund des erloschenen Steueranspruches ausgeschlossen war. Eine andere Ansicht vertrat mit Hinweis auf den Normzweck des § 76e StGB (Verhinderung einer doppelten Inanspruchnahme des Einziehungsadressaten) das Landgericht Bonn.13 Danach seien die von § 73e StGB erfassten Fälle gerade nicht der Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme ausgesetzt und eine Einziehung folglich trotz steuerrechtlicher Verjährung noch möglich.14 § 375a AO stellt nunmehr klar, dass das Erlöschen des Steueranspruches „einer Einziehung rechtswidrig erlangter Taterträge nach den §§ 73 bis 73c des Strafgesetzbuches nicht“ mehr entgegensteht .15 Es handelt sich mithin um eine Novellierung der Gesetzessystematik der Vermögensabschöpfung aus §§ 73 ff. StGB soweit diese abgaberechtliche Ansprüche betrifft. Die Neuregelung des § 375a AO wurde indes zugleich durch § 34 EGAO hinsichtlich ihrer Rückwirkung eingeschränkt. Danach fallen nur solche Zahlungsansprüche unter § 375a AO, die bis zum Stichtag 01.07.2020 nicht nach § 47 iVm. §§ 169-171, 228-232 AO steuerrechtlich verjährt sind. Für steuerrechtliche Ansprüche, bei denen bis einschließlich 30.06.2020 Verjährung eingetreten ist, findet § 375a AO keine Anwendung. 3. Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot Das Grundgesetz kennt zwei verschiedene Ausformungen des Rückwirkungsverbotes: Das allgemeine , sog. „rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot“, welches seine normative Grundlage im Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG findet und das spezielle, in Art. 103 Abs. 2 GG normierte strafrechtliche Rückwirkungsverbot.16 Beiden ist gemein, dass sie Gebote ausschließlich hinsichtlich belastender Gesetzesänderungen enthalten.17 13 LG Bonn Urteil v. 18.03.2020, 62 KLs - 213 Js 41/19 - 1/19. 14 Ebenda, Rn. 2063. 15 BGBl. I 2020, 1512, 1515. 16 Schulze-Fielitz, Dreier-GG, 3. Aufl. 2015, GG Art. 20, Rn. 154. 17 Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 153. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 7 3.1. Das absolute Rückwirkungsverbot im Strafrecht, Art. 103 Abs. 2 GG Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot bestimmt, dass eine Strafbegründung sowie eine Strafverschärfung mit Wirkung nur für die Zukunft erlassen werden kann.18 Das Prinzip hat absolute Wirkung und ist somit keiner Abwägung zugänglich.19 Anknüpfungspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG ist die Strafe im Sinne des Gesetzes, also staatliche Sanktionen, „die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient“.20 Keine Strafe im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG stellt nach wohl allgemeiner Ansicht die Vermögensabschöpfung dar, denn diese dient lediglich der „Beseitigung eines Vorteils, dessen Verbleib den Täter zu weiteren Taten verlocken könnte“.21 Zudem betrifft das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG grundsätzlich nur die Frage der Strafbarkeit bzw. des Unrechts und der Schuld einer Tat und nicht, wie hier gegenständlich, deren Verfolgbarkeit.22 Die Einziehung von Taterträgen ist eine präventiv-ordnende Maßnahme und keine repressiv-vergeltende (s.o.). Daher spricht einiges dafür, dass die Novellierungen der Abgabenordnung aus dem Zweiten Corona-Hilfegesetz tatbestandlich nicht vom absoluten Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst sind. 3.2. Das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot, Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG Das im rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot enthaltene Rückwirkungsverbot wird durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf „retroaktive /echte“ und „retrospektive/unechte“ Rückwirkung differenziert.23 Dabei gilt, dass die unechte Rückwirkung grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, die echte Rückwirkung grundsätzlich verfassungswidrig ist.24 18 BVerfG Beschluss v. 29.11.1989 – 2 BvR 1491, 1492/87, BVerfGE 81, 132, 135. 19 BVerfG Urteil v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133, 171 f. 20 Ebenda, 170. 21 Remmert, Maunz/Dürig, 90. EL Februar 2020, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 57, Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 21 f. 22 BGH Beschluss v. 7.3.2019 – 3 StR 192/18, NJW 2019, 1891, Rn. 41. 23 BVerfG Urteil v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, 11. 24 Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 154. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 8 3.2.1. Retroaktive („echte“) Rückwirkung Eine „echte Rückwirkung“ liegt regelmäßig vor, „wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte , der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift“.25 Es handelt sich hierbei um Gesetze , die einen in der Vergangenheit liegenden und vollständig abgeschlossenen Tatbestand betreffen .26 3.2.2. Retrospektive („unechte“) Rückwirkung Dem gegenüber liegt eine „unechte Rückwirkung“ vor, wenn ein Gesetz mit Wirkung für die Zukunft beschlossen wurde, dabei aber auf „gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet“.27 Für die Beurteilung der Frage, ob ein neues Gesetz mit „echter“ oder nur „unechter“ Rückwirkung ausgestattet ist kommt es demnach maßgeblich darauf an, ob es belastend in Tatbestände eingreift, die gewissermaßen abgeschlossen sind, oder ob der betroffene Tatbestand lediglich bereits vor Verkündung des Gesetzes „ins Werk gesetzt“ worden ist.28 4. Einordnung des § 375a AO 4.1. Konstitutive / deklaratorische Neuregelung Eine Subsumtion der Neuregelung des § 375a AO unter die Begriffe der „echten“ bzw. „unechten “ Rückwirkung muss sich aufgrund des Erfordernisses belastender Änderung an der zuvor bestehenden Rechtslage orientieren. Sofern es sich bei der Gesetzesnovellierung nicht um eine belastende , sondern um eine erleichternde oder lediglich deklaratorische bzw. redaktionell klarstellende Änderung handelt, kommt eine „echte“ Rückwirkung nicht in Betracht. Zwar könnte hierin dennoch formal eine „echte“ Rückwirkung liegen, mangels Belastung bzw. aufgrund der vorher bereits gleich bestehenden Rechtslage fehlt es jedoch insoweit an einem das Rückwirkungsverbot konstituierenden Vertrauenstatbestand.29 Laut BVerfG hat eine rückwirkende Regelung konstitutiven Charakter, wenn die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte, der 25 BVerfG Beschluss v. 31.05.1960 – 2 BvL 4/59, BVerfGE 11, 139, 145 f. und Tenor. 26 Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 156. 27 BVerfG Beschluss v. 23.03.1971 – 2 BvL 17/69, BVerfGE 30, 329, 402. 28 BVerfG Beschluss v. 14.05.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 242. 29 BVerfG Urteil v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 9 mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte.30 Jedenfalls ist „[e]ine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber […] in jedem Fall als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn der Gesetzgeber damit nachträglich einer höchstrichterlich geklärten Auslegung des Gesetzes den Boden zu entziehen sucht“.31 Hinsichtlich der Regelung der §§ 73 ff. StGB, insbesondere des § 73e StGB, bestand bis zur Einführung des § 375a AO eine geklärte Rechtslage. Der BGH hatte sich im Sinne eines einheitlichen Gesetzeswortlautes für einen Ausschluss der Vermögensabschöpfung bei steuerrechtlich verjährten Ansprüchen ausgesprochen. Auch dass das LG Bonn mit Hinweis auf den Normzweck eine Anwendung des § 73e StGB auf verjährte Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis verneinte, ist insoweit unschädlich. Die Einführung des § 375a AO stellt somit keine rein deklaratorische, sondern eine konstitutive Novellierung des Gesetzes dar. 4.2. Rückwirkung Die Regelung des neu eingefügten § 375a AO erfasst tatbestandlich verjährte Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis auf Rückzahlung rechtswidrig erlangter Taterträge. Entgegen der alten Rechtslage können somit Taterträge, deren Einziehung aufgrund eingetretener Verjährung bislang nach § 73e StGB ausgeschlossen war, der Einziehung unterworfen werden. Das Gesetz greift folglich im Hinblick auf bereits verjährte Ansprüche aus dem Steuerverhältnis in einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich zulasten der Adressaten einer möglichen Einziehung ein. Dies spricht für eine retroaktive bzw. „echte“ Rückwirkung im Sinne des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebotes . In der Gesamtschau ist daher festzuhalten, dass das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz in seinem Art. 6 mit der Einführung des § 375a AO eine Norm mit „echter“ Rückwirkung enthält. Eine solche ist allerdings verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig. Daher scheint die zeitliche Beschränkung in § 34 EGAO zunächst geboten. 5. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rückwirkung Der Erlass eines Gesetzes mit „echter“ Rückwirkung ist zwar aufgrund des dem Rechtsstaatsprinzips aus Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG innewohnenden Vertrauensschutzes grundsätzlich unzulässig , kann im Einzelfall jedoch gerechtfertigt sein.32 Nach ständiger Rechtsprechung ist dies insbesondere dann anzunehmen, wenn es an einem den Vertrauensschutz begründenden Tatbestand fehlt. Danach wird „das Vertrauen der Betroffenen in das Fortbestehen der geltenden Rechtslage […] nicht geschützt, wenn zwingende Gründe des gemeinen Wohls die nachträgliche Änderung der Rechtslage rechtfertigen oder wenn sie in dem 30 BVerfG Urteil v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, 12. 31 Ebenda. 32 Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 158. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 10 Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückgezogen wird, mit einer solchen Regelung rechnen mußten“.33 Ferner sind Ausnahmen zulässig, wenn die belastende Wirkung des Gesetzes nur geringfügig ist.34 Letztlich soll eine Ausnahme auch dann gelten, wenn der Gesetzgeber mit der Reform eine unklare und verworrene Rechtslage aufzuklären suchte.35 Es bestehen somit im Wesentlichen vier Ausnahmen des Verbotes „echter“ Rückwirkung, die allerdings als Fallgruppen nur besondere Ausprägungen des im Einzelfall maßgeblichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bilden36: – Die rückwirkende Änderung der Rechtslage stellt sich für Betroffene als nur geringfügige Belastung dar (Bagatellbelastung) – Die Gesetzesänderung war im Zeitpunkt des Anknüpfungstatbestandes bereits ernsthaft zu erwarten – Das Gesetz dient der Aufklärung einer unklaren und verworrenen Rechtslage – Überwiegende, zwingende Gründe des Allgemeinwohls rechtfertigen die nachträgliche Änderung der Rechtslage 5.1. Bagatellbelastung Im Fall des § 375a AO handelt es sich nicht um eine Bagatellbelastung, da die finanziellen Belastungen der Vermögensabschöpfung nach §§ 73 ff. StGB im Einzelfall erheblich sein können. 5.2. Absehbarkeit der Gesetzesnovellierung Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot gilt, wenn aufgrund einer ernstlich zu erwartenden Änderung der Gesetzeslage ohnehin kein Vertrauen in den Bestand der Rechtslage begründet werden konnte.37 Hinsichtlich der Absehbarkeit ist zum einen erheblich, ob und mit welchem Grad an Sicherheit der Erlass des neuen Gesetzes zu erwarten war und ferner, ob dies bereits vor bzw. während des Ablaufs des Anknüpfungstatbestandes der Fall war. Grundsätzlich ist erst ab 33 BVerfG Urteil v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261, 271. 34 Schwarz: Rückwirkung von Gesetzen, JA 2013, 683, 685. 35 BVerfG Urteil v. 19.12.1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261, 272. 36 Schulze-Fielitz, siehe Fn. 16, Rn. 155. 37 Ebenda, 273. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 11 dem Zeitpunkt, „in dem der Bundestag ein rückwirkendes Gesetz beschlossen hat, […] das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts nicht mehr schutzwürdig“.38 Für den Fall einer Gesetzesreform erfolgt die Bestimmung des Zeitpunktes, ab welchem der Vertrauensschutz nicht mehr gegeben und folglich eine „echte“ Rückwirkung zulässig ist, im Spannungsfeld zwischen der Rechtssicherheit des Bürgers und dem staatlichen Interesse an einer möglichst effektiven Gesetzgebung.39 Hieran anknüpfend hat das BVerfG wiederholt solche Gesetze für verfassungsrechtlich unproblematisch erachtet, deren Wirkung von der Verkündung auf den Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses im Bundestag zurückreicht.40 Der neue § 375a AO erfasst im Wortlaut zumindest auch solche Fälle, deren Anküpfungstatbestand bereits seit einigen Jahren abgeschlossen war, nämlich jene, bei denen die steuerrechtliche Verjährung bereits vor Beschluss des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes eingetreten war. Der maßgebliche Zeitpunkt ernstlicher Erwartbarkeit einer Gesetzesreform, mit Ablauf dessen der rechtsstaatliche Vertrauensschutz gelockert wäre, ist somit der Tag des Gesetzesbeschlusses, mithin der 29.06.2020. Für vor diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossene Tatbestände greift der Vertrauensschutz des Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG. 5.3. Unklare und verworrene Rechtslage Im Merkmal der Klärung einer unklaren und verworrenen Rechtslage findet sich rekursiv auf die allgemeine Frage, ob es sich bei dem Gesetz um eine rückwirkende Änderung der bestehenden Rechtslage handelt (s.o. 4.1.) eine Rechtfertigung „echter“ Rückwirkung. Dabei kommt es darauf an, „ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen“.41 Im Hinblick auf die insoweit eindeutige Auslegung des BGH kann hiervon jedoch nicht ausgegangen werden.42 Es herrschte zumindest seit dem betreffenden Beschluss vom 24.10.2019 keine unklare Rechtslage mehr. 38 Ebenda. 39 BVerfG Beschluss v. 14.05.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 261. 40 Etwa BVerfG Beschluss v. 29.10.1969 – 1 BvL 19/69, BVerfGE 27, 167, 173 f., BVerfGE Beschluss v. 14.05.1986 – 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 275; differenzierend BVerfG Beschluss v. 23.03.1971 – 2 BvL 2/66, 2 BvR 168/66, 2 BvR 196/66, 2 BvR 197/66, 2 BvR 210/66, 2 BvR 472/66, BVerfGE 30, 367, 388, wo das Gericht offen lässt, ob bereits das öffentliche Bekanntwerden von Reformabsichten dem Vertrauensschutz entgegenstehen kann. 41 BVerfG Urteil v. 21.07.2010 – 1 BvR 2530/05, 1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, BVerfGE 126, 369, 393. 42 BGH Beschluss v. 24.10.2019 – 1 StR 173/19. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 12 5.4. Überwiegende zwingende Gründe des Allgemeinwohls Letztlich können auch überwiegende, zwingende Gründe des Allgemeinwohls die „echte“ Rückwirkung eines Gesetzes rechtfertigen.43 Während Gründe des Allgemeinwohls regelmäßig die Zulässigkeit „unechter“ Rückwirkung begründen können, sind sie im Falle „echter“ Rückwirkung allerdings nur im Ausnahmefall zur Rechtfertigung geeignet.44 Hierbei gilt, dass eine gesetzliche Rückwirkung dann unzulässig ist, wenn eine Abwägung des Vertrauens der Betroffenen auf den Fortbestand des Rechtszustandes nach der bisherigen gesetzlichen Regelung und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit ergibt, „daß das Vertrauen auf die Fortgeltung der bestehenden Lage den Vorrang verdient “.45 Im Falle des § 375a AO stehen sich in der Abwägung das Interesse der Betroffenen an Rechtssicherheit sowie deren – gleichsam allerdings aufgrund der normativen Beschränkung der Vermögensabschöpfung auf rechtswidrig erlangte Taterträge gemindertes – Grundrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG einerseits und das Allgemeininteresse, durch Straftaten eingetretene Störungen der Vermögensordnung zu beseitigen und zugleich den Tätern wie der Rechtsgemeinschaft vor Augen zu führen, dass strafrechtswidrige Bereicherungen nicht geduldet werden und Straftaten sich nicht lohnen, entgegen.46 Die Vermögensabschöpfung dient zugleich dem Ziel, das „Vertrauen der Bevölkerung in die Gerechtigkeit und die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung zu stärken “.47 In diesem Spannungsfeld kann eine „echte“ Rückwirkung ausnahmsweise zulässig sein. Aufgrund der rechtlich verwandten Fragestellung sei jedoch auf die bislang unklare Rechtslage hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Rückwirkung der Reform der Vermögensabschöpfung aus dem Jahre 2017 verwiesen. Während das OLG München etwa die Rückwirkung der novellierten §§ 73 ff. StGB für verfassungsrechtlich unbedenklich hielt48, hat der Bundesgerichtshof dasselbe mit Beschluss vom 07.03.2019 aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt.49 43 Grzeszick, Maunz/Dürig, 90. EL Februar 2020, GG Art. 20, Rn. 85. 44 Grzeszick, siehe Fn. 43, Rn. 85. 45 Sommermann, v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, GG Art. 20, Rn. 297; BVerfG Beschluss v. 13.05.1986 – 1 BvR 99/85, 1 BvR 461/85, BVerfGE 72, 176, 196. 46 OLG München Urteil v. 19.07.2018 - 5 OLG 15 Ss 539/17, Rn. 74; siehe auch: BVerfG Beschluss v. 14.01.2004 - 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 27. 47 BVerfG Beschluss v. 14.01.2004 - 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 27. 48 OLG München Urteil v. 19.07.2018 - 5 OLG 15 Ss 539/17. 49 BGH Beschluss v. 07.03.2019 - 3 StR 192/18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 088/20 Seite 13 Eine abschließende Beurteilung der Frage, ob zwingende Gründe des Allgemeinwohls eine „echte“ Rückwirkung des § 375a AO ausnahmsweise rechtfertigen, kann an dieser Stelle nicht erfolgen. 6. Fazit Das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz führt in Art. 6 mit § 375a AO eine Norm mit „echter“ Rückwirkung ein. § 34 EGAO unterbindet wiederum die Rückwirkung, indem es den Anwendungsbereich der Norm auf zum Stichtag des Inkrafttretens noch nicht verjährte Steueransprüche begrenzt . Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Gebotenheit einer solchen Einschränkung kommt es insbesondere auf die Frage an, ob die „echte“ Rückwirkung des § 375a AO ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Diese Frage kann im Hinblick auf die insoweit ebenso umfangreiche wie uneinheitliche Rechtsprechung hier nicht abschließend geklärt werden. Eine andere Frage ist es, ob die Einführung des § 34 EGAO aufgrund des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes zwingend notwendig war. Dies kann im engeren semantischen Sinne angesichts der uneindeutigen Rechtslage verneint werden. ***