© 2020 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 – 080/20 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2020 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 2 Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2020 Aktenzeichen: WD 4 - 3000 – 080/20 Abschluss der Arbeit: 7. August 2020 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Fragestellung im Lichte erhobener Kritik 4 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verschuldung in Ausnahmesituationen 5 4. Haushaltsverfassungsrechtliche Grundsätze 6 4.1. Jährlichkeit und Fälligkeit 6 4.2. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit 7 5. Beurteilung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes durch die Kritiker 8 5.1. Stellungnahme des BRH 8 5.2. Gutachten/Gröpl 8 5.3. Stellungnahmen der Sachverständigen im Lichte der Kritik 10 6. Bewertung 11 6.1. Kritische Ausgabeermächtigungen 11 6.2. Verzicht auf die Einnahmen aus der „Asyl-Rücklage“ 13 7. Fazit 14 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 4 1. Einleitung Der Gesetzgeber hat das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 20201 auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses2 am 2.7.2020 beschlossen. Zugleich hat der Bundestag den nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG erforderlichen Beschluss3 über das Bestehen einer außergewöhnlichen Notsituation und über einen Tilgungsplan gefasst. Das zweite Haushaltsnachtragsgesetz 2020 vom 14.7.2020 ist rückwirkend zum 1.1.2020 in Kraft getreten. Der Koalitionsausschuss hat am 3.6.2020 ein Konjunkturprogramm (Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket ) im Volumen von 130 Mrd. € beschlossen. Betroffen sind im Wesentlichen die Haushaltsjahre 2020 und 2021. Die finanzielle und rechtliche Umsetzung von Maßnahmen des Konjunkturprogramms für das Haushaltsjahr 2020 erfolgt durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 und das Haushaltsbegleitgesetz.4 Hierfür sieht das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 eine zusätzliche Nettokreditaufnahme von 61,7 Mrd. € vor. Insgesamt beläuft sich die Kreditermächtigung des BMF zum Haushaltsausgleich gemäß § 2 Abs. 1 HG 2020 auf 217,7 Mrd. €. Die zulässige Regelobergrenze des Art. 115 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG wird um 118,7 Mrd. € überschritten . Ausweislich des nach Art. 115 Abs. 2 Satz 7 GG gefassten Tilgungsplans werden die aufgenommenen Kredite ab dem Bundeshaushalt 2023 sowie in den folgenden 19 Haushaltsjahren in Höhe von jeweils einem Zwanzigstel des Betrages der Kreditaufnahme, die nach Art. 115 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG zulässige Verschuldung überstiegen hat, zurückgeführt. 2. Fragestellung im Lichte erhobener Kritik Die vom Gesetzgeber aufgrund der Corona-Pandemie im Rahmen des Zweiten Nachtragshaushalts festgestellte Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine staatliche Kreditaufnahme unter den Ausnahmebedingungen des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ist unstreitig und deshalb auch nicht Gegenstand dieses Sachstands. Verfassungsrechtlich fraglich ist indes, ob die Erforderlichkeit der Nettokreditaufnahme in der vom Gesetzgeber beschlossenen Höhe von 1 Vom 14.7.2020, BGBl. I S. 1669. 2 BT-Drs. 19/20600. 3 In der Fassung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses vom 1.7.2020, BT-Drs. 19/20128 und 19/20716. 4 Gesetz über begleitende Maßnahmen zur Umsetzung des Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets vom 14.7.2020, BGBl. I S. 1683. Zu beiden Gesetzentwürfen hat der Haushaltsausschuss am 29.6.2020 eine Öffentliche Anhörung durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Anhörung sind in die Abschlussberatungen eingegangen. Vgl. BT-Drs. 19/20601. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 5 61,7 Mrd. € bestand. Die Kritik5 im Hinblick auf eine mögliche „Überdimensionierung“ der Kreditaufnahme gründet sich im Wesentlichen darauf, dass der Zweite Nachtragshaushalt 2020 wegen der Veranschlagung bestimmter kreditfinanzierter Ausgaben die Verfassungsgrundsätze der Jährlichkeit, Fälligkeit, Wahrheit und Klarheit beeinträchtigen könnte und die vorhandene „Asyl- Rücklage“ von 48,2 Mrd. € zur Haushaltsfinanzierung nicht eingesetzt worden sei. 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verschuldung in Ausnahmesituationen Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG erlaubt dem Bund, bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, aufgrund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages die Kreditobergrenzen nach Art. 115 Abs. 2 S. 2 und 3 GG zu überschreiten. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden (Art. 115 Abs. 2 S. 7 GG). Die aufgenommenen Kredite sind binnen eines angemessenen Zeitraums zurückzuführen (Art. 115 Abs. 2 Satz 8 GG). Nach Maßgabe des Verfassungswortlauts ist die Höhe der auf Grundlage von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zusätzlich aufzunehmenden Kredite betragsmäßig nicht limitiert.6 Das Tatbestandsmerkmal der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage bezieht sich auf den durch die zusätzliche Kreditaufnahme zu deckenden Finanzbedarf zur Bewältigung und Überwindung der Auswirkungen der tatbestandlich vorliegenden Naturkatastrophe.7 Im Hinblick auf den Normzweck , die Handlungsfähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung sicherzustellen, ist davon auszugehen , dass Art. 115 Abs. 6 Satz 2 GG zu einer ergänzenden Kreditaufnahme in dem Umfang ermächtigt, in dem die finanziellen Mittel für die Bewältigung und Überwindung der Naturkatastrophe benötigt werden.8 Dem Gesetzgeber kommt bei der Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Naturkatastrophe“, „Kontrollverlust des Staates“ und „erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage“ ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu.9 Dieser ist 5 Vgl. BRH, schriftliche Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung über das Verfahren zum Entwurf des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2020 (BT-Drs. 19/20000) und zum Entwurf eines Gesetzes über begleitende Maßnahmen zur Umsetzung des Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets (BT-Drs. 19/20057), abrufbar unter https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/langfassungen-ab- 2013/2020/zweiter-nachtragshaushalt-verfassungsrechtlich-bedenklich-pdf; Gröpl, Rechtsgutachten zur Vereinbarkeit des Entwurfs über die Feststellung eines Zweiten Nachtrages zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2020 mit den haushaltsverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes, insbesondere mit der sog. Schuldenbremse, erstattet im Auftrag des Bundes der Steuerzahler e. V., abrufbar unter https://www.steuerzahler .de/fileadmin/user_upload/Presseinformationen/2020/BdSt_Rechtsgutachten_Verfassungswidrigkeit_Nachtragshaushalt .pdf. 6 Einhellige Rechtsauffassung: Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 89. EL Oktober 2019, Art. 115 Rn 197; Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 115 Rn 53; Wendt, in: v. Mangold, Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 115 Rn 56; Heun, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 115 Rn 38 und 45. 7 BT-Drs. 16/12410, S. 13 i.V.m. S. 11. 8 Kube, a.a.O., Art. 115 Rn 197; Heintzen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 109 Rn 57; Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 56 m.w.N. 9 Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 52. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 6 allerdings durch das Gebot einer restriktiven Interpretation der Tatbestandsvoraussetzungen geboten , um zu vermeiden, dass der Ausnahmecharakter dieser Norm unterlaufen wird.10 Zudem muss nach allgemeiner Ansicht die Kreditaufnahme nach Ausmaß und Zweck auch dazu bestimmt und geeignet sein, die Notsituation zu beseitigen.11 Dies setzt eine sachgerechte Diagnose über das Vorliegen einer Notlage voraus und erfordert eine begründete Prognose, dass durch die erhöhte Kreditaufnahme das Ziel der Bewältigung der Notlage erreicht werden kann.12 Verfassungsgerichtlich beschränkt sich die Überprüfung der diesbezüglichen Einschätzung und Beurteilung des Gesetzgebers darauf, ob sie nachvollziehbar und vertretbar ist.13 Darüber hinaus muss die erhöhte Kreditaufnahme erforderlich und angemessen sein.14 Die Erforderlichkeit verlangt eine Beschränkung der zusätzlichen Kreditaufnahme auf das erforderliche Maß hinsichtlich der Bewältigung und Überwindung der Krisensituation. Hierbei ist vor allem zu prüfen, ob andere Konsolidierungsmaßnahmen zur Reduzierung einer Neuverschuldung ausgeschöpft worden sind.15 Im Hinblick auf die Angemessenheit sind die Interessen der gegenwärtigen Generationen an einer schnellen und effektiven Krisenbewältigung mit den Interessen künftiger Generationen an möglichst geringen zukünftigen Zins- und Tilgungsbelastungen abzuwägen.16 4. Haushaltsverfassungsrechtliche Grundsätze 4.1. Jährlichkeit und Fälligkeit Nach dem Grundsatz der Jährlichkeit ist für jedes Haushaltsjahr ein Haushaltsplan aufzustellen.17 Die befristete Planung hat eine zeitliche Bindung der parlamentarischen Ermächtigung dergestalt zur Folge, dass Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen nur bis zum Ende des Haushaltsjahrs geleistet bzw. in Anspruch genommen werden dürfen (Grundsatz der zeitlichen Bindung).18 Beide Grundsätze bezwecken, dass das parlamentarische Budgetrecht durch seine Ausübung in 10 Reimer, in: Beck OK, Art. 115 Rn 56; Kube, a.a.O., Art. 115 Rn 194; Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 52. 11 Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Auflage 2019, Rn 457. 12 Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 53a; zur früheren Verfassungslage (Art. 115 GG a. F. – erhöhte Kreditaufnahme bei Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) vgl. BVerfGE 79, 311, 345. 13 BVerfGE 79, 311, 343; BVerfGE 119, 96, 147 ff.; Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 53a. 14 Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 53a m.w.N. 15 Wendt, a.a.O., Art. 115 Rn 53a. 16 Reimer, in: Beck OK GG, Art. 115 Rn 146. 17 Dies gilt auch unbeschadet der durch die Haushaltsreform von 1969 eröffneten Möglichkeit, den Haushaltsplan für zwei Haushaltsjahre, nach Jahren getrennt, aufzustellen. Vgl. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 110 Rn 60. 18 Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 44. Erg.-Lfg., Januar 2011, Art. 110 Rn 23. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 7 regelmäßigen Zeitabständen gewahrt bleibt.19 In Ermangelung eines verfassungsrechtlichen Verbots hat allerdings der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum, die Grenze der zeitlichen Bindung durch Ausnahmen über die strikte Jährlichkeit auszudehnen.20 Eine solche Ausnahme bildet z. B. die Übertragbarkeit von Ausgaben für Investitionen gemäß § 19 Abs. 1 Bundeshaushaltsordnung (BHO). Eng verbunden mit dem Jährlichkeitsgrundsatz ist das Fälligkeitsprinzip, nach dem im Haushaltsplan nur diejenigen Einnahmen und Ausgaben veranschlagt werden dürfen, die im Haushaltsjahr voraussichtlich zu erwarten sind und folglich kassenwirksam werden.21 Das Fälligkeitsprinzip dient dazu, eine bedarfsgerechte Veranschlagung sicherzustellen. Das bedeutet, dass Deckungsmittel nur in Höhe des voraussichtlichen tatsächlichen Finanzbedarfs veranschlagt und übermäßige Ausgabereste bei übertragbaren Ausgaben vermieden werden.22 4.2. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit Das Prinzip der Haushaltswahrheit beinhaltet die Pflicht, die im Haushaltsjahr voraussichtlich zu erwartenden Einnahmen und voraussichtlich zu leistenden Ausgaben mit größtmöglicher Genauigkeit zu errechnen oder zu schätzen.23 Bei Ansätzen, deren Prognose mit Unsicherheiten behaftet ist, haben die am Haushaltsprozess Beteiligten Beurteilungsspielräume.24 Dies gilt insbesondere für von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängige Etatposten.25 Ob eine Prognose vertretbar ist, muss aufgrund einer Gesamtbewertung der konkreten Entscheidungssituation unter Berücksichtigung des betroffenen Sach- und Regelungsbereichs, der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung und deren Folgen sowie der verfügbaren Tatsachengrundlage bestimmt werden.26 Nach herrschender Ansicht liegt ein Verstoß gegen das Prinzip der Haushaltswahrheit nur dann vor, wenn es sich um vorsätzliche Verschleierung oder fahrlässige Fehleinschätzung handelt.27 Der Grundsatz der Haushaltsklarheit enthält die Forderung, den Haushaltsplan transparent und übersichtlich zu gestalten.28 Diesem Zweck dient die Haushaltssystematik nach den §§ 13 und 14 BHO. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 21 Lewinski/Burbat, in: Beck OK, § 11 BHO Rn 23. 22 Lewinski/Burbat, a.a.O., § 11 BHO Rn 24. 23 BVerfGE 119, 96, 129. 24 BVerfGE 119, 96, 130; BVerfGE 79, 311, 329. 25 VerfGH NRW, DÖV 2004, S. 124. 26 BVerfGE 119, 96, 130. 27 Nebel, a.a.O., Art. 110 Rn 26 m.w.N. 28 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 8 5. Beurteilung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes durch die Kritiker Kritisch29 im Hinblick auf die Erforderlichkeit der notlagenbedingten Kreditausweitung und die vorstehend genannten Haushaltsgrundsätze werden insbesondere die folgenden im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2020 veranschlagten Ausgabeermächtigungen gesehen: - Investitionsausgaben in Höhe von 3 Mrd. € für Digitalisierungsvorhaben in der Verwaltung , neue Rüstungsprojekte und Sicherheitsprojekte; - Zuführung in Höhe von 1 Mrd. € an das Sondervermögen „Digitale Infrastruktur“ für Digitalisierungsmaßnahmen der Länder; - Zuführung in Höhe von 1,5 Mrd. € an das Sondervermögen „Ganztagsschulausbau“ für Kita- und Ganztagsbetreuungsbaumaßnahmen; - Zuschuss in Höhe von 26,2 Mrd. € an den „Energie- und Klimafonds“.30 5.1. Stellungnahme des BRH Der BRH äußert Zweifel, dass „… die geplante Senkung der EEG-Umlage, aber auch ein Großteil der vorgesehenen investiven Maßnahmen im Haushalt 2020 gar nicht ausgabenwirksam werden. Mit Blick hierauf wäre eine Anpassung der NKA31 an den Ausgabebedarf auch ein Beitrag zur haushaltsrechtlich gebotenen Beachtung der Grundsätze der Jährlichkeit, der Fälligkeit sowie der Haushaltswahrheit.“ Der BRH begründet seine Einschätzung bezüglich der mangelnden Fälligkeit der investiv ausgerichteten Hilfen zugunsten der Länder und Gemeinden und der aufgestockten investiven Maßnahmen des Bundes damit, dass bereits in den letzten Jahren investive Mittel oftmals erst mit erheblicher Verzögerung abgeflossen oder in den Haushalten als Ausgabereste geparkt worden seien.32 Er vermöge nicht zu erkennen, warum diese Situation jetzt anders sein sollte.33 Nach Einschätzung des BRH ist zu erwarten, dass ein nicht unerheblicher Teil der jetzt „ins Schaufenster gestellten“ investiven Mittel dort zunächst verbleibe. Der für 2020/2021 erhoffte konjunkturelle Effekt könne dann nicht eintreten. 5.2. Gutachten/Gröpl Nach der Rechtsansicht von Gröpl würden die vorstehend genannten Investitionsausgaben und die Zuführungen zu den Sondervermögen „Digitale Infrastruktur“, „Ganztagsschulausbau“ und 29 BRH, a.a.O., S. 3 und 9; Gröpl, a.a.O., S. 31 ff. 30 Insbesondere für den Ausgleich der Absenkung der EEG-Umlage (11 Mrd. €), „Innovationsprämie für Elektroautos “ (2 Mrd. €), Energetische Gebäudesanierung (2 Mrd. €), Umsetzung Nationale Wasserstoffstrategie (7 Mrd. €), Ladesäulen, Batteriezellfertigung, Forschung und Entwicklung im Bereich der Elektromobilität (2,5 Mrd. €), Bus- und LKW-Flotten-Modernisierung-Programm (1,2 Mrd. €) und weitere Projekte. 31 NKA = Nettokreditaufnahme 32 BRH, a.a.O., S. 9. 33 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 9 „Energie- und Klimafonds“ gegen die Verfassung verstoßen. Zur Begründung führt er Verstöße des Haushaltsgesetzgebers gegen die Grundsätze der Jährlichkeit und Wirtschaftlichkeit sowie gegen die Schuldenregel an.34 Die These in Bezug auf die Schuldenregelverletzung basiert im Wesentlichen auf dem Fehlen des unmittelbaren Veranlassungszusammenhangs der vorstehend genannten Ausgaben:35 „Dem Haushaltsgesetzgeber ist es von Verfassungs wegen verwehrt, alle diejenigen Maßnahmen als verschuldungsnotwendig zu deklarieren, die in irgendeiner Weise dazu beitragen, die Notlage zu überwinden, solange sie nicht notlagenfördernd („kontraproduktiv“) und damit schädlich sind. Der verfassungsrechtliche Ausnahmecharakter der Notlagenverschuldung steht der Versuchung entgegen, jede gemeinwohlfördernde Maßnahme als notlagenüberwindend und damit als kreditfinanzierungsgeeignet zu qualifizieren. Verfassungswidrig ist es namentlich, eine Notlage und die durch sie ermöglichte Nettokreditaufnahme als Begründung für die Umsetzung oder Intensivierung solcher politischen Programme zu missbrauchen, die bereits vor Beginn der Notlage Teil der politischen Agenda der Regierung waren und nicht unmittelbar zur Überwindung der Notlage beitragen. Notlagenüberwindend und damit kreditfinanzierungsfähig sind nur solche Maßnahmen, die offensichtlich direkt und zeitnah dazu ergriffen werden, die Notlage zu bekämpfen . Hierbei treffen den Haushaltsgesetzgeber Darlegungsobliegenheiten: Er hat zu erkennen zu geben, ob er mit der Beurteilung der gesetzlich verankerten Organe der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung übereinstimmt oder aus welchen Gründen er abweicht. Darüber hinaus hat er durch Benennung von Inhalt und Umfang bestimmter arbeitsmarkt - und wirtschaftspolitischer oder sonstiger Maßnahmen näher aufzuzeigen, welche Wirkung von diesen Maßnahmen konkret für die Überwindung der Notlage erwartet werden kann.“ Als Beleg für den fehlenden direkten Veranlassungszusammenhang führt Gröpl folgende Darlegungen des Gesetzgebers im Überschreitungsbeschluss des Bundestages36 an: „Es geht darum, die Volkswirtschaft schnell wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu führen, der Arbeitsplätze und Wohlstand sichert. Dies soll durch ein umfangreiches Konjunkturund Krisenbewältigungspaket unterstützt werden, mit dem nicht nur Maßnahmen zur Bekämpfung der unmittelbaren Auswirkungen der Krise fortgesetzt werden sollen, sondern mit dem auch ein aktiv gestalteter Modernisierungsschub ausgelöst werden soll.“ Auch werden nach Ansicht von Gröpl zahlreiche Maßnahmen des „Energie- und Klimafonds“ und die Investitionsvorhaben der Sondervermögen „Digitale Infrastruktur“ und „Ganztagsschul- 34 Gröpl, a.a.O., S.42ff. 35 Gröpl, a.a.O., S. 30. 36 BT-Drs. 19/20128; Anmerkung des Verfassers: Zur Begründung der zusätzlichen Kreditaufnahme findet sich im Überschreitungsbeschluss auch folgende Darlegung des Gesetzgebers: „Um die unmittelbaren und mittelbaren Folgen der Krise schnell zu überwinden und gleichzeitig einen Modernisierungsschub auslösen zu können, sind staatliche Maßnahmen in erheblichem Umfang erforderlich. Auf Grund des Ausmaßes der Krise besteht weiterhin eine außergewöhnliche Notsituation im Sinne von Art. 115 Absatz 2 Satz 6 des Grundgesetzes.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 10 ausbau“ nicht 2020, sondern erst ab 2021 kassenwirksam. Die notlagenbedingte Kreditfinanzierung der Rücklagenzuführungen verstoße daher gegen die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Jährlichkeit.37 5.3. Stellungnahmen der Sachverständigen im Lichte der Kritik Vorstehende Kritik zielt im Kern auf die Frage ab, ob der Gesetzgeber die genannten investiven Ausgaben der Höhe und der Kassenwirksamkeit nach im Rahmen des ihm verfassungsrechtlich eingeräumten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums bemessen hat und damit seiner Pflicht zur Schätzgenauigkeit in vertretbarer Weise nachgekommen ist. Gleiches gilt für die Konjunkturwirksamkeit dieser Maßnahmen im Hinblick auf den Zweck der Krisenbewältigung. Einen Orientierungsmaßstab dafür, ob die Prognosen des Gesetzgebers diese Anforderungen unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Unsicherheit der Entscheidungssituation zu erfüllen vermögen, können die entsprechenden Prognosen der Sachverständigen, die an der Öffentlichen Anhörung zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2020 und zum Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket teilgenommen haben, bilden. Übereinstimmend haben die Sachverständigen38 festgestellt, dass sich Deutschland derzeit in der tiefsten Rezession der Nachkriegsgeschichte befinde, eine allgemeine Verunsicherung der privaten Haushalte und Unternehmen bestehe und die wirtschaftliche Erholung entscheidend von der Verhinderung einer Zweiten Infektionswelle abhängig sei. Vor diesem Hintergrund sei auch das Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket notwendig, insbesondere die darin enthaltenen öffentlichen Investitionsvorhaben, weil diese eine direkte Nachfragewirkung und möglicherweise positive langfristige Effekte auf die Produktion entfalten würden.39 Im Hinblick auf den Abfluss der investiven Mittel hat Wieland40 festgestellt: „Drei Hindernisse können für eine rasche Umsetzung ausgemacht werden: Administrative Hürden bzw. Verwaltungskapazitäten, Kapazitätsauslastung im Baugewerbe und die finanzielle Ausstattung der Kommunen.“ Ob in der aktuellen Situation mehr Kapazitäten im Baugewerbe verfügbar werden oder nicht, sei schwer abzuschätzen. Dafür spräche der Rückgang der privaten Bauinvestitionen, während eine mögliche pandemiebedingte Verschärfung des Arbeitskräftemangels im Baugewerbe zum gegenteiligen Effekt führen könnte. Insgesamt muss konstatiert werden, dass die Entscheidungssituation des Haushaltsgesetzgebers von immensen Unsicherheiten gekennzeichnet ist, die eine auch nur einigermaßen zutreffende Bemessung der in Rede stehenden investiven Mittel erheblich erschweren. Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Mittelabfluss partiell – in unbekannter Höhe – im Haushaltjahr 2020 nicht erfolgen wird. Der unzureichende Mittelabfluss führt aber nicht dazu, dass die gegenwärtig zwingend erforderliche vertrauensbildende Wirkung öffentlicher Investitionen in der Wirtschaft verloren geht. Letztlich wird man dem Haushaltsgesetzgeber im Hinblick 37 Gröpl, a.a.O., S.33ff. 38 Vgl. Wieland/Sachverständigenrat, Stellungnahme S. 1ff.; Fuest/ifo INSTITUT, Stellungnahme S. 1f.; Krebs/Universität Mannheim, Stellungnahme, S. 1. 39 Wieland, a.a.O., S. 3 und 4. 40 Wieland, a.a.O., S. 5f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 11 auf seine Pflicht zur Prognosegenauigkeit wohl zugestehen müssen, dass er die von den Sachverständigen in Anspruch genommenen Unsicherheiten als Begründung für unzureichende Schätzgenauigkeit unter gegenwärtig herrschenden Bedingungen auch für sich reklamieren kann. 6. Bewertung Im Hinblick auf die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der hier in Rede stehenden investiven Ausgaben und Rücklagendotierungen kommt es entscheidend auf die Bewertung der Frage an, ob diese zur Bewältigung und Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie erforderlich und geeignet sind. Problematisch in dieser Hinsicht ist die Justiziabilität der Höhe der notlagenbedingten Kreditaufnahme , da diese nach dem Verfassungswortlaut des Art. 115 Abs. 2 GG offen ist. Um eine übermäßige Kreditaufnahme zu verhindern, ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Normzwecks der Bestimmung, die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen zu gewährleisten , Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nur zu einer zusätzlichen Kreditaufnahme in dem Umfange ermächtigt, die auch tatsächlich zur Bewältigung und Überwindung der Krise benötigt werden . Dieses Erfordernis der materiellen Beschränkung des Volumens der zusätzlichen Kreditaufnahme ist zur Wahrung des Ausnahmecharakters der Vorschrift restriktiv auszulegen. Insoweit besteht in der Verfassungsliteratur Einigkeit. Streit dürfte sich an der Strenge des in der gegenwärtigen Krisensituation anzulegenden Prüfungsmaßstabes der Erforderlichkeit entzünden. Der in dieser Hinsicht von Gröpl entwickelte Maßstab des unmittelbaren Veranlassungszusammenhangs 41 erlaubt dem Gesetzgeber nur solche Maßnahmen zu ergreifen, die unmittelbar durch die Corona-Pandemie veranlasst sind und offensichtlich direkt und zeitnah zur Bewältigung und Überwindung der Notlage beitragen. Hiernach dürfte der Gesetzgeber nur solche Maßnahmen als notlagenüberwindend und damit als verschuldungsgeeignet qualifizieren, die nicht bereits vor Ausbruch der Krise auf der politischen Tagesordnung der Regierung standen oder die nur mittelbar zur Krisenbewältigung geeignet sind. Folgt man diesen Erforderlichkeitsanforderungen, dann lassen sich die o.g. investiven Ausgaben und die Rücklagendotierungen als verfassungsrechtlich problematisch einstufen. 6.1. Kritische Ausgabeermächtigungen Auch in Anerkennung des Postulats der restriktiven Auslegung der Erforderlichkeit der Notlangenverschuldung erscheinen diese Erforderlichkeitsanforderungen und die damit verbundene Einschränkung des Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers in Anbetracht des gegenwärtigen Ausmaßes und der nach wie vor bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der Dauer und der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise als zu streng. Es ist nicht ersichtlich, weshalb Investitionen zum Abbau bestehender Digitalisierungsdefizite in der Verwaltung, die als Hemmnis, etwa im Hinblick auf Kontaktvermeidung durch Homeoffice- Arbeit, schon zu Beginn der Corona-Krise erkannt wurden, nicht geeignet und damit nicht erforderlich zur Bewältigung der Krise sein sollten, zumal die Dauer der Krise derzeit nicht absehbar 41 „Notlagenspezfisches Konnexitätsprinzip“, vgl. Gröpl, a.a.O., S. 30. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 12 ist. Das alleinige Bestehen der Digitalisierungsdefizite bereits vor Ausbruch der Krise dürfte daher im Hinblick auf die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen zur Krisenbewältigung kaum Sperrwirkung entfalten. Davon relativierend dürfte die Bewertung in Bezug auf die Rüstungsprojekte ausfallen. Eine zeitnahe Inangriffnahme dieser Projekte könnte zur Verbesserung der Kapazitätsauslastung der beauftragten Unternehmen führen und über die dadurch induzierten Stabilisierungs- und Konjunktureffekte zur Krisenbewältigung beitragen. Der Eintritt dieser Effekte vor Ende der Krise ist allerdings wegen der Komplexität solcher Projekte und der damit verbundenen längerfristigen Projektrealisierung kaum zu erwarten. Der Zuschuss zum „Energie- und Klimafonds“ im Haushaltsjahr 2020 dient dazu, die in das Haushaltsjahr 2021 vorgelagerten Investitionsmaßnahmen notlagenbedingt zu finanzieren. Auch hier stellt sich die Frage, weshalb von der vorgezogenen Realisierung der schon vor Krisenausbruch für spätere Haushaltsjahre geplanten Maßnahmen eine Sperrwirkung im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit zur Krisenbewältigung ausgehen soll. Der Absenkung der EEG-Umlage und den Investitionen zur Förderung und Erforschung neuer Technologien sowie im Hinblick auf die Wirtschaftstransformation werden von den Sachverständigen eine nicht unerhebliche konjunkturelle Wirkung ab 2021 und längerfristig auch nachhaltige Wachstumseffekte attestiert.42 Auch im Hinblick auf die Schuldenbegrenzungs-Regelung des Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG dürfte es dem Gesetzgeber unter Berücksichtigung des ihm zustehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums nicht verwehrt sein, Maßnahmen entsprechend seiner politischen Wertentscheidung zu ergreifen, die der Krisenüberwindung und gleichzeitig der Wirtschaftstransformation dienen. Mit der letzten Zielsetzung längerfristig verbundene nachhaltige Wachstumseffekte tragen dazu bei, die Kosten der Krise auch im Interesse zukünftiger Generationen zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Unsicherheiten hinsichtlich der Krisendauer erscheinen die Maßnahmen im Rahmen des „Energie- und Klimafonds“ in Bezug auf den Zweck der Krisenbewältigung geeignet und damit erforderlich. Der Einwand, die Dotierungen der Rücklagen würden das auch im Verhältnis zum Gesetzgeber geltende Wirtschaftlichkeitsprinzip43 verletzen, weil sie erst ab 2021 konjunkturwirksam werden und damit nicht unmittelbar krisenüberwindend wirken könnten, erscheint kaum tragfähig. Es ist dem Haushaltsgesetzgeber nicht verwehrt, Rücklagen durch notlagenbedingte Kreditfinanzierung zu bilden bzw. bestehende aufzustocken, sofern die vorsorgliche Mittelbereitstellung für das 42 Vgl. Wieland/Sachverständigenrat, a.a.O., S. 4; Fuest/ifo INSTITUT, a.a.O., S. 2; Krebs/Universtität Mannheim, a.a.O., S. 3 und 6. 43 Kritisch dazu: Vgl. Nebel, a.a.O., Art. 110, Rn 25ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 13 Haushaltsjahr 2021 der Finanzierung von Maßnahmen dienen soll, die in einem erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang mit der Krisenbewältigung stehen.44 Dies dürfte vorliegend wie oben ausgeführt der Fall sein.45 6.2. Verzicht auf die Einnahmen aus der „Asyl-Rücklage“ Die „Asyl-Rücklage“ wurde im Rahmen des Zweiten Nachtragshaushalts 201546 gebildet, um in den Folgejahren die Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen zu finanzieren. Gespeist aus Haushaltsüberschüssen der Haushaltsjahre 2015 – 2019 wies die Rücklage Ende 2019 ein Volumen von 48,2 Mrd. € auf. Im Rahmen des Ersten Nachtragshaushaltsgesetzes 2020 wurde die o.g. Zweckbindung aufgehoben.47 Seitdem steht sie zur Haushaltsfinanzierung zur Verfügung. Zudem hat der Haushaltsgesetzgeber die noch im Ersten Nachtragshaushalt 2020 geplante Entnahme aus der Rücklage in Höhe von rund 10,7 Mrd. € im Zweiten Nachtragshaushalt 2020 rückgängig gemacht. Die Nichtverwendung der Rücklage zur Finanzierung der Maßnahmen zur aktuellen Krisenbewältigung und damit zur Verringerung der Nettokreditaufnahme im Zweiten Nachtragshaushalt 2020 hat der Bundesminister der Finanzen mit der „… Stärkung der haushaltspolitischen Handlungsfähigkeit in den kommenden Jahren“ begründet.48 Dem Gesetzgeber ist es erlaubt, Rücklagen aus Haushaltsüberschüssen zu bilden und zum Zwecke der Risikovorsorge vorzuhalten, um unsichere Belastungen zukünftiger Haushalte auszugleichen . Insoweit steht die Risikovorsorge auch im Einklang mit dem Jährlichkeitsprinzip. Treffen allerdings eine notlagenbedingte Haushaltsfinanzierung und das Vorhalten der Rücklage zusammen , bedarf die Risikovorsorge einer Rechtfertigung mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Schuldenregelung. Die Ermächtigung zu notlagenbedingter Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG verlangt, dass andere Deckungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Diesem Erfordernis kann der Verzicht auf die Einnahmen aus der Rücklage Rechnung tragen, wenn die Risikovorsorge in Gestalt der Aufrechterhaltung der haushaltspolitischen Handlungsfähigkeit in einem erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang zu den finanziellen Risiken der Krisenbewältigung steht. Die Aufhebung der Zweckbestimmung und insbesondere die Rückgängigmachung der geplanten Entnahme lassen erkennen, dass der Haushaltsgesetzgeber eine Neubewertung der Haushaltsrisiken vorgenommen hat und den unsicheren krisenbedingten zukünftigen Haushaltsbelastungen 44 VerfGH NRW, Urteil vom 15.3.2011, Rn 94 (juris). 45 Insofern stehen diese Rücklagenzuführungen auch im Einklang mit dem Jährlichkeitsgrundsatz. 46 Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2015 vom 20.11.2015, BGBl. I S. 2056, EPl. 60 Kap. 6002 Titel 91901. 47 Vgl. Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 27.3.2020, BGBl. I S. 556. 48 Schreiben des BMF zum Entwurf für ein Zweites Nachtragshaushaltsgesetz vom 15.6.2020, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 080/20 Seite 14 eine hohe Priorität einräumt. Diese Bewertung steht im Einklang mit der Einschätzung des Sachverständigenrates . In Anbetracht der bestehenden Unsicherheiten und der sich weltweit immer noch ausbreitenden Pandemie könne für 2021 auch eine schlechtere wirtschaftliche Entwicklung als derzeit prognostiziert nicht ausgeschlossen werden.49 Vor diesen Hintergrund dürfte die vorsorgliche Mittelbereithaltung in der Rücklage zum Ausgleich künftiger Haushalte der Anforderung nach Ausschöpfung anderer Deckungsmöglichkeiten derzeit noch genügen.50 7. Fazit Das Ergebnis der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2020 hängt entscheidend von der Strenge des Prüfungsmaßstabs hinsichtlich der Kriterien der Erforderlichkeit und Geeignetheit und des diesbezüglichen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums des Haushaltsgesetzebers ab. Legt man den strengen Maßstab des „unmittelbaren Veranlassungszusammenhangs “ von Gröpl zugrunde, lassen sich die genannten Ausgabeermächtigungen und der Verzicht auf die Auflösung der ehemaligen „Asyl-Rücklage“ als verfassungsrechtlich problematisch im Hinblick auf die notlagenbedingte Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG und die Grundsätze der Jährlichkeit, Fälligkeit und Haushaltswahrheit qualifizieren . Auch in Anerkennung des Postulats der restriktiven Auslegung der notlagenbedingten Neuverschuldungsregelung erscheint es geboten, die immensen Unsicherheiten hinsichtlich des Ausmaßes , der Dauer und der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise stärker in den Blick zu nehmen und die hierdurch maßgeblich bestimmte Entscheidungssituation des Haushaltsgesetzgebers bei der Bewertung zu berücksichtigen. Im Ergebnis dürfte nach der diesem Gebot Rechnung tragenden Bewertung das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 alles in allem mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Ausnahmeregelung nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG und den genannten Haushaltsgrundsätzen als vereinbar anzusehen sein. *** 49 Vgl. Wieland/Sachverständigenrat, a.a.O., S. 9; siehe auch Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 287 vom 30.7.2020: Stärkster Rückgang des BIP im 2. Quartal 2020 (- 10,1%) seit Beginn der vierteljährlichen BIP- Berechnungen im Jahr 1970. 50 Das Wirtschaftlichkeitsgebot vermag alleine die Verletzung dieser Anforderung angesichts des derzeitigen sowie kurz- bis mittelfristig erwarteten negativen Zinsniveaus und der Nutzung der Rücklage im Rahmen des Liquiditätsmanagements des Bundes nicht zu begründen. Zur Entwicklung des Zinsniveaus, vgl. Wieland/Sachverständigenrat , a.a.O., S. 8.