© 2018 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 – 055/18 Bedeutung von Haushaltsüberschüssen für die Schuldentilgung im Rahmen der Neuverschuldungsregelung nach Art. 115 GG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 2 Bedeutung von Haushaltsüberschüssen für die Schuldentilgung im Rahmen der Neuverschuldungsregelung nach Art. 115 GG Aktenzeichen: WD 4 - 3000 – 055/18 Abschluss der Arbeit: 10. April 2018 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Grundstruktur der Schuldenregel nach Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG 4 3. Verwendungsmöglichkeiten kassenmäßiger Haushaltsüberschüsse 5 4. Tilgungswirksamkeit von Haushaltsüberschüssen im Regelungssystem des Art. 115 Abs. 2 GG 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 4 1. Fragestellung Vorliegende Fragestellung zielt darauf ab, welche Wirkungen erzielte Haushaltsüberschüsse im Rahmen der Neuverschuldungsregelung nach Art. 115 GG auf die Tilgung bestehender Bundesschulden entfalten und ob eine ergänzende verfassungsrechtliche Regelung zur verpflichtenden Schuldentilgung durch Haushaltsüberschüsse eventuell Tilgungseffekte bewirken bzw. verstärken würde. 2. Grundstruktur der Schuldenregel nach Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG Die Neuverschuldungsregelung nach den vorstehend genannten Vorschriften ist in Anlehnung an den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt als Schuldenbegrenzungsregel konzipiert. Ihr liegt die Zielsetzung zugrunde, die jährliche strukturelle Nettokreditaufnahme (NKA) von Bund und Ländern zu begrenzen und dadurch mittelfristig die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote nachhaltig zu reduzieren.1 Im Rahmen des Grundsatzes ausgeglichener Haushalte gewährt Art. 115 Abs. 2 GG dem Bund den folgenden möglichen Neuverschuldungsspielraum: Strukturkomponente max. strukturelle NKA: 0,35 % des BIP - Saldo aus finanziellen Transaktionen in Analogie zum Stabilitäts- und Wachstumspakt - Konjunkturkomponente nach EU-Bereinigungsverfahren - (ggf.) Reduzierungsbetrag gem. § 7 Abs. 3 Art. 115-Gesetz2 Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von 1 % des BIP; nur im Aufschwung (= positive Konjunkturkomponente) = (+) max. zulässige NKA im Regelfall3 bzw. (-) Planung eines Haushaltsüberschusses 1 Vgl. BT-Drs. 16/12410, S 6f. 2 Vom 10.08.2009 (BGBl. I S. 2701, 2704), zuletzt geändert durch Art. 245 Verordnung vom 31.08.2015 BGBl. I S. 1474. 3 Ohne Berücksichtigung der Ausnahmeregelung für Notsituationen, die nur mit „Kanzlermehrheit“ und verbindlichem Tilgungsplan zulässig ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 5 Im Vergleich mit der alten am Investitionsbegriff orientierten Regelung weist die geltende Neuverschuldungsregel des Art. 115 GG insbesondere folgende Unterschiede auf: - Die Kreditobergrenze nach aktueller Rechtslage lässt sich nicht aus dem Haushaltsplan selbst ableiten. Sie wird maßgeblich durch externe Faktoren wie das BIP, die Produktionslücke 4 und die Budgetsensitivität5 determiniert. Gleiches gilt für den in der Haushaltsplanung auszuweisenden Haushaltsüberschuss. - Für die Höhe der Nettokreditaufnahme unerheblich ist auch die Qualität der damit finanzierten Ausgaben. Die Unterscheidung zwischen konsumtiven und investiven Ausgaben bleibt damit außer Betracht. - Ohne Bedeutung für die Bemessung der Kreditobergrenze ist schließlich auch, ob der Finanzierungsbedarf (als Summe der Ausgaben) durch Steuer- und Verwaltungseinnahmen sowie Einnahmen aus der nach Art. 115 Abs. 2 GG bestimmten Nettokreditaufnahme gedeckt ist oder nicht. 3. Verwendungsmöglichkeiten kassenmäßiger Haushaltsüberschüsse Die Möglichkeiten der Verwendung von Haushaltsüberschüssen sind in § 25 Bundeshaushaltsordnung (BHO)6 geregelt. Die Vorschrift knüpft in Abs. 1 an den kassenmäßigen Haushaltsüberschuss an. Eine „echter“ kassenmäßiger Haushaltsüberschuss entspricht gem. § 25 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 4 Nr. 3 BHO dem positiven Finanzierungssaldo, der sich im Rahmen des Haushaltsabschlusses aus der Differenz zwischen den tatsächlichen Einnahmen ohne Einnahmen aus Krediten und den tatsächlichen Ausgaben ergibt.7 Als Verwendungsmöglichkeiten kommen nach § 25 Abs. 2 BHO insbesondere in Betracht: - die Verminderung des Kreditbedarfs in dem der Entstehung des Haushaltsüberschusses folgenden Haushaltsjahr und - die Tilgung von Schulden durch Einstellung in den nächsten festzustellenden Haushaltsplan .8 4 Abweichung des BIP vom Produktionspotential. Vgl. § 4 Abs. 2 Art. 115-Gesetz 5 Gibt die Veränderung der Einnahmen und Ausgaben des Bundes bei einer Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität an. Vgl. § 5 Abs. 3 Art. 115-Gesetz. 6 Vom 19.8.1969, BGBl. I S. 1284, zuletzt geändert durch Art. 11 Gesetz vom 14.8.2017, BGBl. I S. 3122. 7 Vgl. Knörzer, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 48. Erg.-Lfg., Februar 2014, § 25 BHO Rn 2. 8 Als dritte Verwendungsmöglichkeit sieht Abs. 2 die Zuführung zur Konjunkturausgleichsrücklage gem. § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (vom 08.06.1967, BGBl. I S. 582, zuletzt geändert durch Art. 267 V vom 31.08.2015, BGBl. I S. 1474) vor. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 6 Davon abweichende Verwendungen des Haushaltsüberschusses z. B. in Gestalt der Rücklagenzuführung unterliegen der Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers.9 4. Tilgungswirksamkeit von Haushaltsüberschüssen im Regelungssystem des Art. 115 Abs. 2 GG Im Rahmen der Neuverschuldungsregel nach Art. 115 Abs. 2 GG kann ein im Vorjahr erzielter kassenmäßiger Haushaltsüberschuss (HÜ) zur Schuldentilgung im folgenden Haushaltsjahr verwendet werden, wenn Folgendes gilt: kassenmäßiger HÜ t-1 – zulässige NKA t = tilgungswirksamer HÜ t Hiernach setzt die Tilgungswirksamkeit des Haushaltsüberschusses voraus, dass er die zulässige Nettokreditaufnahme des folgenden Haushaltsjahres betragsmäßig übersteigt. Erforderlich im Hinblick auf beachtliche Tilgungseffekte sind demzufolge ein Haushaltsüberschuss des Vorjahres von erheblicher Größenordnung und/oder eine möglichst geringe zulässige Nettokreditaufnahme im folgenden Haushaltsjahr. Dies dürfte eher ausnahmsweise der Fall sein, etwa bei hohem positivem Saldo aus finanziellen Transaktionen und/oder besonders günstiger konjunktureller Entwicklung (positive Konjunkturkomponente). In der konjunkturellen Normallage (Konjunkturkomponente = 0) steht dem Bund ohne Privatisierungseinnahmen ein struktureller Verschuldungsspielraum von 0,35 % des BIP zu. Dies entsprach im Jahr 2017 einer nominellen strukturellen Nettokreditaufnahme von 10,6 Mrd. Euro.10 Wegen der nicht unerheblichen Größenordnung des strukturellen Verschulungsspielraums dürfte die Strukturkomponente den kassenmäßigen Haushaltsüberschuss des Vorjahres regelmäßig „konsumieren“. Insgesamt kann daher konstatiert werden, dass kassenmäßige Haushaltsüberschüsse im Rahmen des Regelwerks des Art. 115 Abs. 2 GG im Regelfall kaum Wirkungen in Hinblick auf die Tilgung bestehender Bundesschulden entfalten. Dies liegt in der Konzeption der Neuverschuldungsregelung begründet. Der Einräumung einer Strukturkomponente bei der Nettoneuverschuldung des Bundes mit einer Höchstgrenze von 0,35 % des BIP liegt die Erwägung zugrunde, dem Haushaltsgesetzgeber Flexibilität bei der Gestaltung einer nachhaltigen und wachstumsfördernden Finanzpolitik zu geben. Der verfassungsändernde Gesetzgeber verbindet mit dieser Finanzpolitik offensichtlich die Vorstellung, dass sich die Zulassung einer strukturellen Verschuldung rechtfertigt, weil auch künftigen Generationen kreditfinanzierte Ausgaben beispielsweise für Infrastruktur oder Forschung zugute kommen und demzufolge von ihnen auch ein Teil der Finanzierungslasten getragen werden kann.11 Nicht zielführend im Hinblick auf die Erhöhung der Tilgungswirksamkeit von Haushaltsüberschüssen wäre deshalb auch eine ergänzende Regelung in Art. 115 Abs. 2 GG, die eine verpflichtende Verwendung von Haushaltsüberschüssen zur Schuldentilgung nach Anrechnung auf die zulässige Nettokreditaufnahme anordnen würde. 9 Vgl. Knörzer, a.a.O., § 25 BHO Rn 3. 10 Vgl. Haushaltsgesetz 2017, S. 21, vom 20.12.2016, BGBl. I S. 316. 11 Vgl. BT-Drucksache 16/12410, S. 6 und 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 055/18 Seite 7 Anderes in dieser Hinsicht würde allerdings für die Länder gelten. Bereits in der konjunkturellen Normallage dürfte ein kassenmäßiger Haushaltsüberschuss des Vorjahres wegen der Unzulässigkeit der strukturellen Neuverschuldung der Länder Tilgungseffekte zeitigen. ****