© 2021 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 054/21 Folgen der Annahme und Anwendung eines grundgesetzwidrigen Landesgrundsteuergesetzes Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 2 Folgen der Annahme und Anwendung eines grundgesetzwidrigen Landesgrundsteuergesetzes Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 054/21 Abschluss der Arbeit: 9. Juni 2021 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Schicksal des grundgesetzwidrigen Landesgrundsteuergesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 5 2.1. Gesetzlicher Grundsatz: Nichtigkeitserklärung 5 2.2. Alternative: Unvereinbarkeitserklärung 6 2.2.1. Herleitung, Rechtsfolgen, Anwendungsbereich 6 2.2.2. Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung im Kontext der Steuergesetze 7 3. Folgen für aufgrund des Gesetzes erlassene und zukünftige Steuerbescheide 9 3.1. Bei Nichtigkeitserklärung 9 3.2. Bei Unvereinbarkeitserklärung 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 4 1. Einleitung Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Grundsteuer in ihrer geltenden Form mit Entscheidung vom 10. April 20181 in Teilen für verfassungswidrig erklärt hatte, erfolgte im Herbst 2019 eine Umgestaltung des Grundsteuerrechts durch den Bundesgesetzgeber. Diese umfasste unter anderem eine Änderung der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 72, 74 Grundgesetz (GG):2 Art. 72 Abs. 3 Nr. 7 GG n.F. gesteht den Ländern nunmehr eine Abweichungskompetenz in Bezug auf das Grundsteuergesetz des Bundes zu. Demnach bleibt der Bund zwar zur Regelung der Materie befugt; die bundesgesetzliche Regelung wird aber durch ein zeitlich später erlassenes Landesgesetz in dessen Anwendungsbereich verdrängt.3 Vor dem Hintergrund dieser Änderung erstellte die bayerische Landesregierung einen Regierungsentwurf für ein Landesgrundsteuergesetz4, das eine Erhebung der Grundsteuer nach der sog. Flächenmethode vorsieht und sich damit von der sog. Bodenwertmethode abwendet. Die Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Einführung einer flächenbasierten Grundsteuer mit dem Grundgesetz wird in der juristischen Literatur allerdings unterschiedlich beurteilt.5 Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags wurden mit der Darstellung der hypothetischen rechtlichen Auswirkungen beauftragt, falls sich ein durch den Landesgesetzgeber angenommenes Landesgrundsteuergesetzes nach erfolgter Anwendung durch die Landesfinanzverwaltung als grundgesetzwidrig herausstellt. Der vorliegende Sachstand unterscheidet diesbezüglich zwischen dem rechtlichen Schicksal des Gesetzes (2.) und der aufgrund dessen erlassenen Steuerbescheide (3.). 1 BVerfG v. 10.4.2018 – 1 BvL 11, 12/14, 1/15, 1 BvR 639/11, 889/12 = BVerfGE 148, 147 = BVerfG DStR 2018, 791. 2 Die Beschlussvorlage des Bundestags findet sich auf BT-Drs. 19/11084 vom 25. Juni 2019. 3 Vgl. Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 72 Rn. 33. 4 Der Regierungsentwurf für ein Bayerisches Grundsteuergesetz vom 10. Mai 2021 ist abrufbar unter . Alle Internetlinks wurden zuletzt abgerufen am 8. Juni 2021. Vgl. dazu auch Feldner /Schätzlein, Die (wieder)eingeführte Grundsteuer C und ihre Umsetzung in den Ländern und Gemeinden, DStR 2021, 512 (515). 5 So hält etwa Schmidt, Verfassungswidrigkeit der Grundsteuer als Flächensteuer, DStR 2020, 249 diese wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 und 106 Abs. 6 GG für grundgesetzwidrig. Kirchhof, Der Belastungsgrund von Steuern – zum verfassungsrechtlichen Auftrag, die Grundsteuer zu reformieren, DStR 2020, 1073 (1080 f.) hält sie demgegenüber bei Wahrung des Äquivalenzprinzips für verfassungskonform. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 5 2. Schicksal des grundgesetzwidrigen Landesgrundsteuergesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Wirksamkeit aller Gesetze steht unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Wie sich insbesondere aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 Abs. 1 GG ergibt, sind Landesgesetze hierbei auch am Maßstab des Grundgesetzes zu messen,6 wobei sie zusätzlich mit der jeweiligen Landesverfassung und wegen Art. 31 GG auch mit sämtlichem Bundesrecht vereinbar sein müssen.7 Ein Landesgesetz, das gegen das GG verstößt ist demnach verfassungswidrig und grundsätzlich unwirksam. Gleichwohl können die Verwaltung und die Fachgerichte in diesem Fall nicht ohne weiteres von einer Anwendung der betreffenden Normen in den ihnen vorliegenden Anwendungsfällen absehen . Sind sie der Überzeugung, ein formelles Gesetz sei verfassungswidrig, haben sie vielmehr eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dazu herbeizuführen. Dafür stehen die Verfahren der abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und der konkreten (Art. 100 GG) Normenkontrolle zur Verfügung, die letztlich sichern, dass ein formelles Gesetz nur dann nicht (mehr) angewandt wird, wenn seine Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG festgestellt wurde (sog. Verwerfungsmonopol des BVerfG).8 Damit steht zugleich fest, dass dem BVerfG unter dem Grundgesetz nicht nur die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, sondern auch die mit einer festgestellten Verfassungswidrigkeit verknüpfte Auslösung und Konkretisierung ihrer Folgen für die Rechtspraxis obliegt. Den Inhalt sowie die Rechtsfolgen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle regeln § 78 f. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), die gemäß § 82 Abs. 1 BVerfGG auch im Rahmen der konkreten Normenkontrolle Anwendung finden. Basierend auf diesen Vorschriften hat das Gericht ein differenziertes Instrumentarium an Entscheidungstenorierungen und Rechtsfolgenanordnungen entwickelt.9 2.1. Gesetzlicher Grundsatz: Nichtigkeitserklärung § 78 S. 1 BVerfGG bestimmt als Vorschrift zum Entscheidungstenor für die Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG: „Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig.“ (Herv. d. Verf.) 6 Rozek in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 60. EL (Juli 2020), § 76 Rn. 29. 7 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOnline-Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 10. Ed. (1. Januar 2020), § 76 Rn. 43. 8 Vgl. zum Ganzen Wieland in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2018, Rn. 11. 9 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 5; Detterbeck in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 93 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 6 Gesetzlich vorgesehener Regelfall ist damit, dass sich das BVerfG darauf beschränkt, die bestehende Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes verbindlich auszusprechen. Diese Regelung wurzelt in dem traditionellen Verständnis der deutschen Rechtsordnung, dass ein gegen höherrangiges Recht verstoßendes Gesetz von sich aus (ipso iure) ohne weitere Gestaltungsakte und von Anfang an nichtig ist.10 Nach diesem Verständnis stellt sich die Rechtslage von vorneherein so dar, als hätte das Gesetz nie existiert; das BVerfG kann die Nichtigkeit durch seine Entscheidung nicht herbeiführen, sondern lediglich feststellen. Seine Feststellung des bereits bestehenden Umstands entfaltet indes Gesetzeskraft und damit eine umfassende Bindungswirkung, § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Erst mit der Entscheidung wird die bestehende, aber „unsichtbare“ Rechtslage für die Rechtsanwendung verbindlich. Wird – wie im hypothetischen Fall eines aufgrund von Art. 72 Abs. 3 Nr. 7 GG erlassenen Landesgrundsteuergesetzes – ein im Rahmen der Abweichungskompetenz erlassenes Landesgesetz für nichtig erklärt, bedeutet dies ein automatisches und rückwirkendes Wiederaufleben des entsprechenden Bundesgesetzes. Denn wegen der durch die Entscheidung verbindlich gewordenen anfänglichen Nichtigkeit des Landesgesetzes wurde das Bundesgesetz zu keinem Zeitpunkt verdrängt , auch wenn dessen ununterbrochene Geltung wegen der vermeintlichen Verdrängung durch das Landesgesetz zeitweilig unerkannt blieb.11 2.2. Alternative: Unvereinbarkeitserklärung 2.2.1. Herleitung, Rechtsfolgen, Anwendungsbereich Alternativ zur Feststellung seiner bestehenden Nichtigkeit kann das BVerfG das Gesetz auch für (lediglich) mit dem Grundgesetz unvereinbar erklären; in der verfassungsgerichtlichen Praxis ist diese Entscheidungsform zum Regelfall geworden.12 Dass auch dieser Tenor möglich ist, wird aus §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG abgeleitet, die jeweils voraussetzen, dass ein Gesetz vom BVerfG für mit dem Grundgesetz „unvereinbar oder nach § 78 für nichtig“ (Herv. d. Verf.) erklärt werden kann.13 Grundsätzlich führt auch eine Unvereinbarkeitserklärung zu einem Verbot der weiteren Anwendung des Gesetzes und zu einer verpflichtenden Aussetzung aller laufenden Verfahren.14 Das BVerfG kann aufgrund von § 35 BVerfGG allerdings zusätzlich eine zeitlich begrenzte Fortgeltung der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Norm anordnen. Eine solche Fortgeltungsanordnung bewirkt, dass das Gesetz trotz seiner Verfassungswidrigkeit von seinem Erlass an bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ohne inhaltliche Änderung oder zeitliche Zäsur gilt 10 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 7 f.; Lechner/Zuck in: dies. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz , 8. Aufl. 2019, § 78 Rn. 4. 11 Vgl. dazu Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 8 f. 12 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 32. Vgl. auch Lechner/Zuck in: dies (Hrsg.), § 78 Rn. 8 Fn. 46. 13 BVerfGE 105, 73 (133). Vgl. auch Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 34 m.w.N. 14 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 37 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 7 (Legalisierungs- und Prolongationseffekt);15 es hat in diesem Fall kraft rückwirkender Anordnung des BVerfG von Anfang bis zum Ablauf der verfassungsgerichtlich bestimmten Frist Bestand und darf und muss während dieses Zeitraums angewandt werden, als wäre es verfassungsgemäß.16 Der zeitliche Rahmen wird hierbei üblicherweise anhand des für eine Neuregelung erforderlichen Zeitraums bemessen.17 Die Variante der Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung basiert auf der Achtung der prinzipiellen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch die Verfassungsgerichtsbarkeit und kommt daher immer dann in Betracht, wenn der verfassungsmäßige Zustand eine (sofortige) Nichtigkeit des Gesetzes nicht gebietet.18 Dies nimmt das BVerfG insbesondere in zwei Fallgruppen an:19 – Dem Gesetzgeber verbleiben verschiedene Möglichkeiten zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustands. – Die Lage ohne jegliche gesetzliche Regelung wäre noch weiter von einem verfassungsrechtlich erstrebenswerten Zustand entfernt, als sie es mit der bestehenden verfassungswidrigen Regelung ist. 2.2.2. Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung im Kontext der Steuergesetze Im Hinblick auf verfassungswidrige Steuergesetze entscheidet sich das BVerfG unter Verweis auf die erstgenannte Fallgruppe regelmäßig dafür, das Gesetz (lediglich) für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären und seine Fortgeltung anzuordnen.20 In der Entscheidung zur Grundsteuer vom 10. April 2018 begründete es die Unvereinbarkeitserklärung der beanstandeten Regelungen wie folgt: „Die bloße Unvereinbarkeitserklärung einer verfassungswidrigen Norm ist regelmäßig geboten , wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen . Das ist grundsätzlich bei Verletzungen des Gleichheitssatzes der Fall. Stellt das BVerfG 15 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 52. 16 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 66. Das BVerfG kann indes Direktiven für die Anwendung aussprechen und im äußersten Fall sogar einzelne oder alle Regelungen durch eigene Notfallgesetzgebung ersetzen, Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 89 ff. 17 Vgl. BVerfGE 100, 195 (196); 107, 133 (134); 136, 9 (13). 18 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 78 Rn. 33. 19 Vgl. zusammenfassend Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 67 ff.; Lechner/Zuck in: dies (Hrsg.), § 78 Rn. 8. 20 Vgl. BVerfG, Wirkung der Entscheidungen, 2021, abrufbar unter . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 8 die Unvereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG fest, folgt daraus in der Regel die Verpflichtung des Gesetzgebers, rückwirkend, bezogen auf den in der gerichtlichen Feststellung genannten Zeitpunkt, die Rechtslage verfassungsgemäß umzugestalten. (…) Bei der Neuregelung verfügt der Gesetzgeber über einen weiten, vom BVerfG nur begrenzt überprüfbaren Spielraum zur Bestimmung des Steuergegenstandes und des Steuersatzes (…).“21 Die Kombination mit einer Fortgeltungsanordnung wurde in dieser Entscheidung in Anknüpfung an die regelmäßige Praxis des Gerichts im Hinblick auf Steuergesetze maßgeblich auf das staatliche Interesse an verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung gestützt: „Die Fortgeltung der beanstandeten Regelungen zur Einheitsbewertung wird bis zum 31.12.2019 sowie bis zu fünf Jahre nach der Verkündung einer spätestens bis zum 31.12.2019 getroffenen Neuregelung, längstens aber bis zum 31.12.2024 angeordnet. Aus besonderem Grund, namentlich im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung, hat das BVerfG wiederholt die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen binnen der dem Gesetzgeber bis zu einer Neuregelung gesetzten Frist oder spätestens bis zur Neuregelung für gerechtfertigt erklärt (…).“22 Im Rahmen der Abwägung zwischen diesem Interesse und den Bedenken gegenüber der Fortgeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes stellte das BVerfG drei Aspekte als maßgeblich heraus: den erheblichen (Verwaltungs-)Aufwand bei der Rückabwicklung der zu beseitigenden vergangenen Steuerbescheide,23 das Wegbrechen der Grundsteuer als wichtige Einnahmequelle für die Gemeinden sowie die Zumutbarkeit für die Betroffenen wegen der prinzipiellen Verfassungsmäßigkeit der Belastung mit einer Grundsteuer.24 Diese Überlegungen können im Hinblick auf andere Entscheidungen über verfassungswidrige Grundsteuergesetze als im Grunde übertragbar angesehen werden. Dies gilt vor allem für den Rückgriff auf die Fallgruppe der verschiedenen Möglichkeiten des Gesetzgebers zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustands bei Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Denn dieser stellt das wichtigste und in vielen Zusammenhängen das einzige verfassungsrechtliche Korrektiv für Steuergesetze dar.25 So gründen die verfassungsrechtlichen Bedenken auch im Fall des geplanten bayerischen Landesgrundsteuergesetzes insbesondere auf Art. 3 Abs. 1 GG.26 Auch 21 BVerfG DStR 2018, 791 (806 f., Rn. 168). 22 BVerfG DStR 2018, 791 (807, Rn. 169 f.). 23 Vgl. dazu auch BVerfGE 117, 1 (70). Zum Schicksal der aufgrund des verfassungswidrigen Steuergesetzes ergangenen Bescheide bei Nichtigkeit vgl. Gliederungsziffer 3. 24 BVerfG DStR 2018, 791 (807, Rn. 171 f.). 25 Heun in: Dreier (Hrsg.), Art. 3 Rn. 75. 26 Vgl. insbesondere Schmidt, DStR 2020, 249 (251 ff.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 9 das Begründungsmuster der Gefahren für die staatliche Finanz- und Haushaltsplanung ist bei nahezu jedem verfassungswidrigen Steuergesetz heranziehbar.27 Allerdings ist eine Entscheidung des BVerfG im Sinne einer Unvereinbarkeitserklärung mit Fortgeltungsanordnung in allen steuergesetzbezogenen Einzelfällen dennoch kein Automatismus; es erfolgt jeweils eine konkrete Bewertung des Verfassungsverstoßes und der verschiedenen Belastungen .28 Mit Bezug zu einer möglichen Entscheidung über ein Landesgrundsteuergesetz aufgrund von Art. 72 Abs. 3 Nr. 7 GG wäre etwa zu beachten, dass die Grundsteuer bei Nichtigkeitserklärung nicht vollständig entfallen würde; vielmehr würde das scheinbar verdrängte Bundesgrundsteuergesetz im betreffenden Bundesland rückwirkend zur Anwendung kommen. Die Abwägung mit dem dennoch gegen rückwirkende Veränderung der Rechtsgrundlagen sprechenden Interesse an Finanz- und Haushaltssicherheit obläge wiederum dem BVerfG. 3. Folgen für aufgrund des Gesetzes erlassene und zukünftige Steuerbescheide Das Schicksal der aufgrund des Gesetzes ergangenen oder weiterhin ergehenden Steuerbescheide hängt davon ab, ob die Entscheidung als Nichtigkeitserklärung oder als Unvereinbarkeitserklärung mit oder ohne Fortgeltungsanordnung ergeht. 3.1. Bei Nichtigkeitserklärung Wird das Gesetz für nichtig erklärt, darf es nicht weiter angewandt werden; in der Zukunft dürfen keine darauf gestützten Steuerbescheide mehr ergehen. Die in der Vergangenheit ergangenen Bescheide werden durch die BVerfG-Entscheidung allerdings nicht unmittelbar beseitigt; vielmehr regelt § 79 BVerfGG die mittelbaren Auswirkungen der Nichtigkeitserklärung auf vergangene gerichtliche und behördliche Entscheidungen aufgrund des betroffenen Gesetzes. Grundregel ist hierbei § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG: Aus Gründen der Rechtssicherheit bleiben die ergangenen Rechtsakte von der Entscheidung des BVerfG hinsichtlich ihrer Wirksamkeit unberührt und werden auch nicht rückabgewickelt, obwohl ihnen mit dem zugrundeliegenden Gesetz rückwirkend die Rechtsgrundlage entzogen wird.29 § 79 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfGG verhindern lediglich die Vollstreckung. Für aufgrund eines verfassungswidri- 27 Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, 29 ff. und Seer in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2020, § 22 Rn. 287 kritisieren im Hinblick darauf eine vollständige Risikofreiheit des Erlasses verfassungswidriger Steuergesetze für den Gesetzgeber. 28 Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), § 78 Rn. 59a. 29 BVerfGE 108, 1 (33); Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 79 Rn. 27. Eine Ausnahme gilt nach § 79 Abs. 1 BVerfGG wegen der Schärfe der Rechtsfolgen aber für Strafurteile aufgrund des verfassungswidrigen Gesetzes ; insoweit besteht ein Anspruch auf Wiederaufnahme nach den Regeln der Strafprozessordnung (StPO). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 10 gen Landesgrundsteuergesetzes ergangene bestandskräftige Steuerbescheide gilt demnach grundsätzlich , dass die Nichtigkeitserklärung in Bezug auf das Gesetz sie weder beseitigt noch einen Anspruch auf Wiederaufnahme nach § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) schafft.30 Im Hinblick auf diese Rechtsfolgen einer Nichtigkeitserklärung nach den allgemeinen Regeln des BVerfGG wurde für das Steuerrecht die Sonderregel des § 165 Abs. 1 Nr. 3 Abgabenordnung (AO) geschaffen: Bereits bei Anhängigkeit eines Musterverfahrens in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes beim BVerfG kann die Finanzbehörde die darauf gestützte Steuer (lediglich ) vorläufig erheben, falls bereits Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestehen. Stellt sich das Gesetz anschließend als verfassungswidrig heraus und wird vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, wird der Bescheid nach § 165 Abs. 2 AO angepasst. Soweit die Finanzverwaltung von dieser Regelung Gebrauch macht, entsteht dadurch auch hinsichtlich bereits bestandskräftiger Steuerbescheide eine Abänderungsmöglichkeit. Die Entscheidung für oder gegen einen solchen Vorläufigkeitsvermerk steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde; dies ist aber auf Null reduziert, wenn ein Verfahren anhängig ist, das im einschlägigen BMF-Schreiben31 als vorläufigkeitsvermerkfähiges Verfahren aufgeführt ist.32 Zu beachten ist zudem, dass die Rechtsfolgenregelung des § 79 BVerfGG aufgrund ihres Wortlauts und ihres Schutzzwecks zugunsten der Rechtssicherheit keine Anwendung auf noch nicht rechts- bzw. bestandskräftige Akte findet. Diese können wegen des rückwirkenden Entfalls ihrer Rechtsgrundlage nach den allgemeinen prozessualen Regeln beseitigt werden.33 3.2. Bei Unvereinbarkeitserklärung Die Regelung des § 79 BVerfGG und der daraus folgende prinzipielle Vorrang der Rechtssicherheit finden nach überwiegender Auffassung auch im Falle von Unvereinbarkeitserklärungen des BVerfG Anwendung.34 Auch in diesem Fall gilt also grundsätzlich ein Ausschluss eines Rückabwicklungsanspruchs hinsichtlich ergangener und bestandskräftiger Bescheide in Kombination mit einem Verbot der weiteren Anwendung des Gesetzes. Ergeht indes zusätzlich eine Fortgeltungsanordnung fehlt nicht nur der Aufhebungsanspruch hinsichtlich vergangener Bescheide von vorneherein.35 Aufgrund des verfassungswidrigen Geset- 30 Vgl. BVerwG, DVBl. 1991, 65; Lechner/Zuck in: dies. (Hrsg.), § 79 Rn. 12. Der Behörde ist es aber unbenommen, den Bescheid von sich aus aufzuheben oder zu ändern, Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 79 Rn. 30. 31 Die aktuelle Fassung findet sich in der Anlage zum BMF-Schreiben vom 15.1.2018, BStBl. I 2018, S. 2, in der Fassung BMF 10.1.2019, BStBl. I 2019, S. 2, zuletzt geändert durch BMF 4.1.2021, BStBl. I 2021, S. 4. 32 Specker in: Pfirrmann/Rosenke/Wagner (Hrsg.), BeckOnline-Kommentar zur Abgabenordnung, 16. Ed. (1. April 2021), § 165 Rn. 78. 33 Lechner/Zuck in: dies. (Hrsg.), § 79 Rn. 4. 34 Karpenstein in: Walter/Grünewald (Hrsg.), § 79 Rn. 40. 35 Vgl. BVerfG DStR 2018, 791 (808, Rn. 180). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 054/21 Seite 11 zes dürfen auch weiterhin Steuerbescheide erlassen werden; erst nach Ablauf der für den Gesetzgeber zur Neuregelung gesetzten Frist darf das Gesetz nicht mehr angewandt werden.36 Die AO erfasst diese Konstellation in § 165 Abs. 1 Nr. 2: Auch soweit ein für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärtes Gesetz weiter angewandt wird, kann die Steuer vorläufig festgesetzt und im Nachhinein geändert werden. Wegen der absehbaren Änderung des Rechts ist das Ermessen hierbei regelmäßig auf null reduziert.37 *** 36 Vgl. Halaczinsky, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 10.04.2018 – 1 BvL 11, 12/14, 1/15, 1 BvR 639/11, 889/12, jurisPR-SteuerR 18/2018 Anm. 4. 37 Specker in: Pfirrmann/Rosenke/Wagner (Hrsg.), § 165 Rn. 107.