Wissenschaftliche Dienste Sachstand Deutscher Bundestag Verschiedene Fragen zum steuer- und sozialrechtlichen Existenzminimum von Kindern 4 - 3000 - 052/11 Wissenschaftliche Dienste WD 4 - 3000-052/11 Verschiedene Fragen zum steuer- und sozialrechtlichen Existenzminimum von Kindern Seite 2 Aktenzeichen: Abschluss der Arbeit: 1152/11 31.03.2011 Finanzen Ausarbeitungen und andere Wissenschaftlichen Dienste nicht die des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wicdcr. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantv.ortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsloitnng. Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wis sens chaftliche Dienste Vorbemerkung Sachs tand WD 4 - 3000 - Seite 3 Mit Bezug auf die Fragestellungen wird nachfolgend eine Übersicht über diesbezügliche grundsätzliche Positionen des Bundesverfissungsgerichts (BVerfG) gegeben. Anschließend wird anhand der ausgewählten Rechtsprechung zu den einzelnen Fragen Stellung genommen. 2. Entscheidungen des B Verß zum Existenzminimum von Familien und Kindern Das BVerfG hat ausgehend von den Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) zum Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) in mehreren Entscheidungen grundlegende Maßstäbe hinsichtlich der Beriicksichtigung des Existenzminimums von Familien und Kindern entwickelt. So in sainen Entscheidungen vom 29. Mai 1990. Bvl, 20. 26, 184 und 4/86' - und vom 14. Juni 1994- 1 BvR 1022/ 88' • zur Verfassungsmäßigkeit der mit dem Haushultsbegleitgesetz 1983 bzw. nach S 10 Abs. 2 Bundoskindergeldgesetz vorgenommenen Kürzung des Kindergeldes für Besserverdienende ; 25. Soptcmbor 1092 - 2 BvL 5.8. 14/91* - zu den Fragen, 1. Ob dio in den Einkommensteuertaril eingearbeiteten Grundfreibetråge fiir die Veranlagungszeiträurne 1978 bis 1984. 1986 und 1988 sowie für 1991 und 2. ob der für den Veranlagungsmitraum 1991 maßgebende Kinderfreibetrag mit dem Grundgesetz vereinbar sind; 10. November 1998 - 2 BvL 42/ 93'; 2 BVR 1220/ 93", 2 BvR 1852, 1853/ 970 und 2 13vR 1057, 1226, 980/91 - zu den Fragen ob • die durch Kindergeld und einkommensteuerliche Kinderfreibeträge gewährte Entlastung des Unterhalts für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1987 den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprach, • die in den Veranlagungsz.eiträumen 1985, 1987 und 1988 gewährten einkommensteuerlichen Kinderfreibeträge den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügten • es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Eltern von dem Recht, Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit als außergewöhnliche Belastungen von der einkom- 4 BVerfGE 82,60 1 BVerfGE 91.83 BVerfGE 87.153. BVerfGE 90.246, 11, BVerfGE 99.268, u. Wissenschaftliche Dienste 4 — 3000 - 052/11 Seite 4 mensteuerlichen Bemessungsgrundlage abzuziehen. sowie von der Gewährung eines Haushaltsfreibetrags ausgeschlossen werden. In den vorgenannten Entscheidungen entwickelte das BVerfG die folgenden Leitsätze; 10 II Bei der Einkommensbesteuarung muss ein Betrag in Höhe des Existenzminimums der Familie steuerfrei bleiben; nur das darüber hinausgehende Einkommen darf der Besteuerung unterworfen werden' (Abweichung von BVerfGE 43, 108). Dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen muss nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben, als er zur Bestreitung soinos notwendigen Lebensunterhalts und • unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG - desjenigen seiner Familie bedarf (Existenzminimum);' Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rcchtsgomeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Der Steuergesetzgeber muss dcrn Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbo- Zügen zumindest das belassen, was er dem Bediirftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt. Bei einer gesetzlichen Typisierung ist das steuerlich zu verschonende Existenzminimum grundsåtzlich so zu bemessen. dass es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein steuerpflichtiger also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird. seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken.tc Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, bei der Besteuerung einar Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu • Dabei bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze flir das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über• aber nicht unterschritten werden Entscheidung des nvørfG vom 19. Mai 1990— 1 BvL 20. 26. 184 und 4/86 - BVerfGE 82, 60, Entscheidung deg BVerr; vom 25.Sgptetnber - 2 BVL 5, B. 14' 91 - BVerCE 87. 153. Entscheidung des BVerG vom 25.September - 2 BvL 5, 8. 24" • BVerfGE 87, 153. Entscheidung des BVerK; vom 25Septernber IW2 - 2 BVL 5, 8. 14/ 91- BVerCE 87. 153. Entscheidung des BVerG vom 10. November 1908 — 2 BWL — 99, 246; Daneben nehmen u.a. die folgenden Entscheidungen des BVerC auf Fragen d— Existenzminimums von Familien Kindern Bezug: 2 BvR BSD/os 12. Januar 2006. 2 Rvl. vom 16. März 2005.2 BvR 167/02 vom 11. Januar 2005. 1 BVL 1/01 1 BVR 1749/01 vom g. April 2003, 1 BvR 1629/04 vom 3. AV-il 2001, 2 BvR 750/97 22. November 1999. Wissenschaftliche Dienste wn 4 - 3000-052/11 • Das einkommensteuerliche Existenzminimum ist fir alle Steuerpflichtigen — unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen. • Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln. Fr agen Besteht die Möglichkeit, das sozialhilferechtliche Existenzminimum eines Kindes höher zu veranschlagen als das steuerrechtliche Existenzminimum eines Kindes ? Wäre es also zulässig , nur einen bestimmten Betrag des sozialhilferechtlichen Existenzminimums als Grundlage Fiir die Festlegung dos einkommensteuerrecbtlichen Existenzminimums zu Grunde zu legen und damit die beiden Existenzminima auch in dieser Weise zu entkoppeln ? Seite 5 3. 3.1. Nach der soeben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG hängt die Höhe des steuerlich zu vor schonenden Existenzminimums von den allgemeinen wirtschaftlichen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab: Diesen einzuschätzen ist Aufgabe dos Gesetzgebers. Soweit der Gesetzgeber jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Burger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistun. gen zu decken hat. darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag jedenfalls nicht unterschreiten." Diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gelten sinngemäß auch fiir die Ermittlung dos Existenzminimums (Sachbedarn eines Kindes und die Beriicksichtigung kindbezogener VorsoF geaufwendungen zu eincr Kranken. und Pflegeversicherung, sowie des Betreuungs- und Erziehungsbedarfsn . Es ist daher verfassungsrechtlich unzulässig, das sozialrechtliche Existenzminimum eines Kindos höher zu veranschlagen als das steuerrechtliche Existenzminimum. 3.2. Finden sich in der Literatur Vorschlägo zur Entkoppelung des sozialhilfcrechtlichen Existenzminimums vom steuerrechtlichen Existenzminimum? Die steuerliche Freistellung eines Einkommenstxnrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe fiir Betreuung und Erziehung oder Ausbildung wird entweder durch dic Fmibcträge nach S 32 Abs. 6 EStG oder durch Kindergeld nach Abschnitt X EStG bewirkt . Kann durch das monatlich gezahlte Kindergeld die steuerliche Freistellung des Existenzminimums und der genannten Bedarfe nicht vollständig erreicht werden, werden stattdessen bei der Veranlagung zur Einkommensteuer Freibeträge nach S 32 Abs. 6 EStG von der Bemessungs- Bericht über die Höhe Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2010 (Siebenter Existenzminirnurnbericht ). S, 1, unter. 2df 13 vg:. BVerCE 82, 60.93/94 und BVerR-. vom 13. Februar 2008 - 2 BWL 1,'06 -NJW 2008, 1868, 1873. W i gsenschaftliche Dienste WD 4 - 3000-052/11 Seite 6 grundlagc für die Einkommensteuer abgezogen. Der deutsche Gesetzgeber verfolgt damit ein duales System. in dem sowohl Steuerfreibeträge gewährt werden als auch Kindergeld gezahlt wird: „Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung eincr Familienlastenausgleichs-Regelung, boi der dic Gewährung eines Kindergeldes und die Absetzung eines Kinderfreibetrags vom zu versteuernden Einkommen nach dem Einkommensteuergesetz kombiniert sind, muss das gesetzliche Kindorgold in einen fiktiven Kinderfreibetrag umgerH:hnet und dann zusammen mit dem im Einkommensteuerrecht vorgesehenen Freibetrag dem tatsächlichen Betrag dos Existenzminimums gegenübergestellt werden. Dio steuerliche Gesamtentlastung ergibt sich somit als Summe des fiktiven und des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages.•s Bei der Umrechnung des Kindergeldes in Oinen fiktiven Kinderfreibetrag muss dor Gesetzgeber sich an die Vol%aben des Einkommensteuerrechts halten, Der Einkommensteuertarif findet in seinem gesetzlich bestimmten progressiven Verlauf nur auf das besteuerbare Einkommen Anwendung'$. Diosc Bemessungsgrundlage muss um das steuerliche Existenzminimum gemindert werden, steht deshalb für eine einkommensteuerliche Belastung in dor jeweils gesetzlich bestimmten Höhe • sei es zum Eingangs-. sei es zum Spitzensteuersatz nicht zur Verfügung. Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang das Gebot, bei allen Steuerpflichtigen unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz dio Oxistenznotwendigen Mindestaufwondungen flir Kinderunterhalt in der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen . Dem Gesetzgeiwr steht es damit zwar frei, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfühigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren", die jeweiligen Ergebnisse aus den verschiedenen Methoden müssen jedoch in ihren Auswirkungen gleichwertig sein. Diesem Gebot der Gleichwertigkeit widerspräche es, wenn bei der I Jmrech. nung von Kindergeld in einen steuerlichen Kinderfreibetrag nicht für jeden Einkommensteuor. schuldner die kindesbedingte Minderung seiner Leistungsfähigkeit ebenso voll beriicksichtigt würde, wie der Fall wäre, wenn diese Minderung der Leistungsfähigkeit allein durch einen steuerlichen Freibetrag Berücksichtigung Ende. ta Die Abkehr von dem jetzigen dualen System, in dem das sozialhilferechtliche Existenzminimum nicht mohr durch Freibeträge, sondern alleine durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindcrgcldcs boriicksichtigt würde, wäre nach der Rechtsprechung des BVerfG zwar denkbar, allerdings müsste — wegen des dargestellten Gleichwertigkeitsgebots • ein zu versteuerndes kindergeld dann wohl so hoch bemessen sein, dass es auch nach dor Besteuerung den Wirkungen der Freibeträge entspricht. 15 16 17 18 BVerfGE 82, 198, 1, 207. Vgl. hierzu BVerfGE 246, 253. vgl. S 2 Abs. S satz 1 EStG. Vgl. BVerfGE 43. 108. 123f.: 61.219.354; 82, 60, vgl. BVerfGE 82, 60, 97/99, 246, 11.264 f. Wiss enschaftl iche Dienste WD 4 — 31110 — 052/11 Seite 7 Ein in diese Richtung gehender Vorschlag wird in dem Rechtsgutachten „Die Verfassungsmäßigkeit eines einheitlichen und der Besteuerung unterworfenen Kindergeldes" von Anne Lenze '9 unterbreitet. Dio Verfasserin schlägt ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 484 Euro pro Kind und Monat vor. Im Gegenzug sollen die Kinderfreibeträge abgeschafft werden"'. Um die Gleichwertigkeit zu gewährleisten, sei der Freibetrag dabei weiterhin fiktiv zu ermitteln. Die genannte Höhe des Kindergeldes leit9t Lenze dementsprechend aus dem Existenzminimum-Bedarf deg Kindes ab (Kinderfreibeträge einschließlich Erziehungs- und Botmuungsbedarf dividiert durch 12 Monate). Finanziert werden soll das einheitliche Kindergeld durch einen „Solidaritätszuschlag" für diejenigen Steuerzahler, die noch keine Kinder haben oder ihren Kindern gegenüber nicht mehr unterhaltspflichtig sindn. Dag von Lenze vorgeschlagene Modeli führt allerdings nicht zu einer wirklichen Entkoppelung der beiden Existenzminima, da auch hier bei der Berechnung des Kindergeldes das stouorrochtliche Existenzminimum eines Kindes insofern berücksichtigt wird, als eine entsprechende Höhe des Kindergeldes sicherstollt, dass dieses auch nach der Bestcucrung (gegebenenfalls mit dem Spitzensteuersatz) eine - den Freibeträgen gleichwertige - Wirkung in allen Einkommensschichten erreicht". Die Richtigkeit der von Lenze vorgenommenen Berechnung unterstellt, erscheint dieses Ergobnis daher den Vorgaben des BVerC zu entsprechen und somit verfassungsrechtlich vertretbar. Soweit ersichtlich gibt es keine anderen Vorschläge in der Literatur, die - unter Beachtung der Rechtsprechung des BVerfG zum Existenzminimum von Kindern eine Entkoppelung des sozialrechtlichen vom steuerrechtlichen Existenzminimum vorsehen. n 20 21 22 23 Rechtsgutachten im Auftrag dar Düsseldorf 2008. S. 5 des Gutachtens. S, 57 des Gutachtens. Gerade deshalb sieht ihr Vorschlag eine fiktive Bera:hnung des Kinderfreibetrages vor, vgl. S, 18 , 27 des Cut• achtens. Vgl. die Auseinandersetzung mit der Literatur Lenze. S. 19-22.24-26 des