© 2021 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 050/21 Voraussetzung der Haushaltsaufnahme des Kindes bei Zahlung des Kindergelds nach § 64 Einkommensteuergesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Anspruch auf Kindergeld nach dem Wohnsitzprinzip Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 bis 78 Einkommensteuergesetz (EStG) hat gemäß § 62 EStG unter anderem, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Definition des Wohnsitzes bestimmt sich nach § 8 Abgabenordnung (AO), die des gewöhnlichen Aufenthalts nach § 9 AO. Im Gegensatz zum Wohnsitz kann ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht an mehreren Orten gleichzeitig bestehen. Der Aufenthalt und das Verweilen setzen eine handlungsbezogene Willensbetätigung voraus, allerdings kann die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts auch bei zwangsweiser Anwesenheit (zum Beispiel Strafhaft) nicht automatisch ausgeschlossen werden.1 – Als Kinder für das Kindergeld werden gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 EStG vor allem berücksichtigt: – in Verbindung mit § 32 Abs. 1 EStG im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder, – Pflegekinder, – vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder seines Ehegatten und – vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Enkel. Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, haben, werden nicht berücksichtigt (§ 64 Abs. 1 Satz 6 EStG). 3. Zahlung des Kindergelds aufgrund der Haushaltsaufnahme Die Zahlung des Kindergelds erfolgt für jedes Kind an nur einem Berechtigten (§ 64 Abs. 1 EStG), deshalb regelt § 64 Abs. 2ff. EStG das Zusammentreffen mehrerer Ansprüche. 1 Koenig, Ulrich:AO § 9 Gewöhnlicher Aufenthalt, in: Koenig Abgabenordnung, beck-online Kommentar, 3. Auflage 2014, Randnummern 5, 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 050/21 Seite 4 Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat, es gilt das so genannte Obhutsprinzip.2 Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten. Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so bestimmt das Familiengericht auf Antrag den Berechtigten. Den Antrag kann stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Zahlung des Kindergeldes hat. Eine Haushaltsaufnahme liegt nach Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dann vor, wenn das Kind in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist. Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge , Betreuung) erfüllt sein.3 Diese objektiven Merkmale sind auch entscheidend, wenn die Haushaltsaufnahme wechselt oder endet. Wird das Kind nach einem Umzug von einer anderen Person betreut, versorgt und unterhalten , wird ein neues Obhutsverhältnis begründet. Von einem nicht nur vorübergehenden Aufenthalt kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn das Kind mehr als drei Monate beim anderen Elternteil lebt und eine Rückkehr nicht von vornherein feststeht.4 Dies betrifft somit insbesondere den Fall, dass sich die Eltern trennen und das Kind sodann bei einem von ihnen im Haushalt lebt.5 Die Kindergeldzahlung hat somit unabhängig vom Sorgerecht oder einer anders lautenden zivilrechtlichen Vereinbarung an denjenigen Elternteil zu fließen, der das Kind nicht nur vorübergehend versorgt und betreut.6 Auch bei unfreiwilliger Entfernung des Kindes aus dem Haushalt (zum Beispiel bei widerrechtlicher Kindesentziehung durch den anderen Elternteil) liegt eine lang andauernde Entziehung des Kindes und somit keine Haushaltsaufnahme durch den vorherigen Berechtigten mehr vor. Allerdings führt nicht bereits die Kindesentziehung an sich zum Wegfall des Kindergeld-Anspruchs, wenn der Berechtigte umgehend die erforderlichen Schritte für die Rückführung des Kindes einleitet . Es ist in einem solchen Fall eine Prognose anzustellen, ob die Umstände darauf schließen lassen, dass das Kind nicht in den Haushalt zurückkehren wird.7 Der aus Gründen des Kindeswohls vorläufige Verzicht auf sofortige gerichtliche Schritte führt hingegen nicht zum Wegfall 2 Bundeszentralamt für Steuern: Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG), Stand 2020, A 24, unter: https://www.bzst.de/DE/Behoerden/KindergeldFamilienkasse/Familienkassen_Info/familienkassen _info_node.html;jsessionid=7FDAF25C882F448A324BF76190040560.live831#js-toc-entry4, abgerufen am 27. April 2021. 3 Selder, Johannes: EStG § 64 Zusammentreffen mehrerer Ansprüche, in: Blümich: EStG, KStG, GewStG Kommentar , Werkstand: 155. Ergänzungslieferung November 2020, Randnummer 18. 4 Selder, Johannes: EStG § 64 Zusammentreffen mehrerer Ansprüche, in: Blümich: EStG, KStG, GewStG Kommentar , Werkstand: 155. Ergänzungslieferung November 2020, Randnummer 20. 5 Bundesfinanzhof, Urteil vom 24. Oktober 2000, Aktenzeichen VI R 21/99. 6 Avvento, Chrisina: § 64 EStG, in: Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 20. Auflage 2021, Randnummer 3. 7 Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. März 2002, Aktenzeichen VIII R 62/00. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 - 050/21 Seite 5 der Zahlung des Kindergelds; denn was erforderlich zur Kindesrückführung ist, muss zunächst der sorgeberechtigte Elternteil entscheiden.8 Die Dienstanweisung zum Kindergeld sieht zwar vor, dass von einem Elternteil ins Ausland entführte Kinder nur berücksichtigt werden, wenn sie die territorialen Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG erfüllen, also in einen EU/EWR-Staat entführt wurden.9 Dem hat jedoch der BFH widersprochen.10 4. Mitwirkungspflichten und Rückforderung Nach § 68 Abs. 1 EStG hat derjenige, der Kindergeld beantragt oder erhält, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen . Ändern sich die für die Zahlung des Kindergelds maßgeblichen Verhältnisse durch einen Haushaltswechsel , so besteht der Anspruch auf Kindergeld ab dem Zeitpunkt der Änderung nicht mehr. Die Festsetzung des Kindergelds ist vom Zeitpunkt der Änderung an nach § 70 Abs. 2 EStG aufzuheben. Die Familienkasse kann das gezahlte Kindergeld nach § 37 Abs. 2 AO zurückfordern (der Kindergeldbescheid ist ein Steuerbescheid).11 5. Fazit Bei der Auszahlung des Kindergelds an den Berechtigten ist die Aufnahme in seinen Haushalt entscheidend, die im Einzelfall zu prüfen ist. Dies ist dem Fachbereich der Wissenschaftlichen Dienste weder möglich noch erlaubt. Deshalb könnte die Weiterzahlung des Kindergelds an einen Verurteilten nach Einkommensteuergesetz zunächst nicht zu beanstanden sein. Es sollte jedoch bei der Einzelfallprüfung, wie oben erläutert, neben dem Aspekt des örtlich gebundenen Zusammenlebens und den materiellen Voraussetzungen auch immaterielle Voraussetzungen wie Fürsorge und Betreuung erfüllt sein, die bei Anwendung von Gewalt oder Verbringung der Kinder ins Ausland, wie sie § 235 StGB umfasst, in Frage gestellt werden könnten. * * * 8 Selder, Johannes: EStG § 64 Zusammentreffen mehrerer Ansprüche, in: Blümich: EStG, KStG, GewStG Kommentar , Werkstand: 155. Ergänzungslieferung November 2020, Randnummer 21. 9 Bundeszentralamt für Steuern: Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG), Stand 2020, A 7 Abs. 4, unter: https://www.bzst.de/DE/Behoerden/KindergeldFamilienkasse/Familienkassen _Info/familienkassen_info_node.html;jsessionid=7FDAF25C882F448A324BF76190040560.live831#js-tocentry 4, abgerufen am 28. April 2021. 10 Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. März 2002, Aktenzeichen VIII R 62/00. 11 Selder, Johannes: EStG § 64 Zusammentreffen mehrerer Ansprüche, in: Blümich: EStG, KStG, GewStG Kommentar , Werkstand: 155. Ergänzungslieferung November 2020, Randnummer 23.