© 2020 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 049/20 Maßnahmen gegen Umsatzsteuerbetrug in Großbritannien Möglichkeiten der Ausweitung von Reverse-Charge im deutschen Umsatzsteuerrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 2 Maßnahmen gegen Umsatzsteuerbetrug in Großbritannien Möglichkeiten der Ausweitung von Reverse-Charge im deutschen Umsatzsteuerrecht Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 049/20 Abschluss der Arbeit: 15. Juni 2020 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Strukturen, Strategien und Befugnisse im Kampf gegen Steuerbetrug in Großbritannien 4 2.1. Strukturen der Steuerverwaltung 4 2.2. Strategischer Ansatz des HMRC 5 2.3. Befugnisse des HMRC 5 3. Ansatz der britischen Regierung im Bereich von Steuervermeidungsmodellen 6 3.1. Regelungen gegen (Mehrwert-) Steuervermeidungsmodelle unter DOTAS 6 3.2. Weitere Regelungen gegen Mehrwertsteuerbetrug 7 4. Unionsrechtliche Vorgaben und nationale Umsetzung von Reverse-Charge-Verfahren 9 4.1. Allgemeine Regelungen zur Verlagerung der Steuerschuldnerschaft 9 4.2. Der Schnellreaktionsmechanismus des § 13b Abs. 10 UStG 10 4.3. Ziele des Schnellreaktionsmechanismus 10 5. Argumente zum Reverse-Charge-Verfahren 11 5.1. Abgrenzungsschwierigkeiten im Anwendungsbereich des Reverse- Charge-Verfahrens 12 5.2. Einführungskosten und laufende Kosten für Unternehmen 12 5.3. Verfassungsrechtliche Bedenken zu § 13b Abs. 10 UStG 13 6. Bewertung 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 4 1. Fragestellung Der Auftraggeber erkundigt sich nach den Verfahren der Bekämpfung von Umsatzsteuerkarusselen in Großbritannien. Weiter fragt er nach der Übertragbakeit dieser Regelung in das deutsche Rechtssystem. Ferner sollen die Vor- und Nachteile eines einheitlichen Reverse-Charge-Systems aufgezeigt werden. 2. Strukturen, Strategien und Befugnisse im Kampf gegen Steuerbetrug in Großbritannien 2.1. Strukturen der Steuerverwaltung An der Spitze der zentralstaatlichen Finanzverwaltung in Großbritannien steht das Ministerium für Finanz- und Steuerpolitik (Treasury). Für die Verwaltung der meisten Steuerarten ist ihr die Behörde „Her Majesty´s Revenue and Customs“ (HMRC) unterstellt: Inland Revenue (Ertragsteuern und Sozialabgaben) und Customs & Excise (Umsatzsteuer, Zoll und Verbrauchsteuern) Im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung sind die beiden einst selbständigen Behörden seit April 2005 organisatorisch zu einem Amt, dem „Her Majesty‘s Inland Revenue and Customs“ zusammengelegt worden1. Die Steuerverwaltung spielt in Großbritannien bei der Bekämpfung von Steuerbetrug eine wichtige Rolle. Es existieren gemeinsame Steuer- und Zollverwaltungen. Mit Blick auf die Zuständigkeit für die Bekämpfung der Steuerkriminalität ist die Steuerverwaltung für die Leitung und Durchführung von Ermittlungen zuständig. Dabei hat HMRC in Großbritannien seit 2016 einen spezifischen Fraud Investigation Service (FIS), der sich mit Steuerkriminalität im Zusammenhang mit zivilrechtlicher und strafrechtlicher Expertise befasst. HMRC ist keine Strafverfolgungsbehörde , sondern arbeitet mit unabhängigen Staatsanwälten zusammen. In Großbritannien existieren zudem gesonderte Stellen, die mit der Einhaltung der Steuervorschriften von Personen in hohen Einkommensklassen betraut sind. Zur Strafverfolgung von Steuerkriminalität besteht in Großbritannien eine zentrale Strafverfolgungsbehörde. Großbritannien setzt Steuerzahlern, die ihren Steuerpflichten nicht nachgekommen sind, zudem Anreize zur Selbstanzeige. So setzt HMRC bei Steuerhinterziehung und Steuerunehrlichkeit auf eine stufenweise Intervention, die das Angebot zur Selbstanzeige umfasst2. Weiterhin setzt HMRC in Großbritannien auf eine gütliche Regelung der Steuerstreitigkeiten mit dem Steuerzahler, bei dem es darum geht, dass für den Fiskus bestmögliche Ergebnis zu erreichen . So lässt sich HMRC generell nur dann auf einen Steuerstreit ein, wenn die potenziellen Ge- 1 Altmann, in Mennel/Förster, Steuern, 110. Lieferung 2017, Großbritannien, Rn. 8ff. 2 https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2017/603257/EPRS_STU%282017%29603257_DE.pdf, S. 34 ff, abgerufen am 28. Mai 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 5 samteinnahmen, um die es geht, dies rechtfertigen. Seitens HMRC wird betont, dass die Minimierung des Spielraums für Dispute und das Bemühen um gütliche Lösungen dazu beitragen, die Streitbeilegungskosten des HMRC zu senken3. 2.2. Strategischer Ansatz des HMRC Der strategische Ansatz des HMRC geht davon aus, dass zutreffende und verlässliche Informationen , die die Steuerpflichtigen dem HMRC übermitteln, die Grundlage eines erfolgreich funktionierenden Steuersystems sind. HMRC setzt dabei eine Reihe verschiedener Instrumente ein, um die erforderlichen steuerlichen Informationen zu erlangen. Das „Strategic Picture of Risk“ (SPR) ist das wichtigste Instrument zur Einschätzung von Steuerbetrugsrisiken und beruht auf Daten, Analysen und (internen) Unternehmensinformationen. Es wird eingesetzt, um Risiken wie kriminelles Verhalten, Risiken, die aus der Änderung von Geschäftsmodellen erwachsen und weiteren wirtschaftlichen Risiken, z.B. im Zusammenhang mit Online-Marktplätzen, zu begegnen. Ein zentraler Ansatz des HMRC, um Unternehmen die Erfüllung ihrer steuerlichen Verpflichtungen zu erleichtern, ist die Digitalisierung („Making Tax Digital“). Hintergrund ist, dass Nachlässigkeiten seitens der steuerpflichtigen Unternehmen, wie z.B. der Verlust von Rechnungen, erheblich zum Steuerausfall beitragen (9,2 Mrd. GBP im Zeitraum 2016-2017). Um Unternehmen die korrekte Erfüllung ihrer Steuerpflichten zu erleichtern, setzt HMRC auf digitale Instrumente („digital tools“), statt manueller Eingaben oder Informationen in Papierform. So sind z. B. bei der Mehrwertsteuer diejenigen Unternehmen, deren steuerbarer Umsatz 85.000 GBP übersteigt, seit 1. April 2019 verpflichtet, digitale Instrumente zu benutzen, um ihre Geschäftszahlen anzugeben bzw. Steuerrückerstattungen zu beantragen. Generell werden bereits 98 Prozent der Anträge auf Erstattung der Vorsteuer online übermittelt.4 2.3. Befugnisse des HMRC Bei der Bekämpfung von Steuerbetrug basiert die Strategie des HMRC auf den Prinzipien der Unparteilichkeit und Verhältnismäßigkeit. Bei Nichterfüllung von Steuerpflichten werden Sanktionen von HMRC verhängt; im Fall von Steuerbetrug erwägt HMRC die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen. Letztere werden von HMRC nur in Fällen eingesetzt, bei denen ein starkes Signal der Abschreckung erforderlich ist, oder solchen Fällen, bei denen nur eine Strafmaßnahme angemessen erscheint. Generell wendet HMRC für alle Steuerpflichtigen, von Einzelpersonen bis zu den größten Unternehmen, eine Strategie der Streitbeilegung an, die Steuerstreitigkeiten in fairer, offener und eindeutiger Weise löst („Litigation and Settlement Strategy“)5. 3 https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2017/603257/EPRS_STU%282017%29603257_DE.pdf, S. 50, abgerufen am 28. Mai 2020. 4 https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/785551/tackling _tax_avoidance_evasion_and_other_forms_of_non-compliance_web.pdf, S. 4 f, abgerufen am 28. Mai 2020. 5 https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/785551/tackling _tax_avoidance_evasion_and_other_forms_of_non-compliance_web.pdf, S. 6, abgerufen am 28. Mai 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 6 3. Ansatz der britischen Regierung im Bereich von Steuervermeidungsmodellen Die britische Regierung hat seit dem Jahr 2010 verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Vermarktung und Nutzung von Steuervermeidungsmodellen zu bekämpfen. So wurden höhere Sanktionen und Bußgelder für die Konzeption und Nutzung solcher Modelle eingeführt, um einen damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteil zu verhindern. Die Maßnahmen beinhalteten zudem u.a.: Die erstmalige Einführung einer gesetzlichen Allgemeinen Anti-Missbrauchsregelung im Jahr 2013 (General Anti-Abuse Rule - GAAR) Die Einführung von sog. „Follower Notices“ und „Accelerated Payment Notices” im Jahr 2014 (Dabei handelt es sich um Mitteilungen des Inhalts, dass ein bereits vor Gericht erfolgreich angefochtenes Steuervermeidungsmodell aufzugeben ist bzw. Mitteilungen über eine beschleunigte Steuerzahlung noch vor Fällung einer Entscheidung.) Die Verstärkung und Erweiterung der DOTAS-Regelungen (Offenlegungsregelungen von Steuervermeidungsmodellen) seit dem Jahr 2014 (s. Gliederungspunkt 2.1.) Die Einführung der Veröffentlichungspflicht von Steuervermeidungsmodellen für Umsatzsteuer und andere indirekte Steuern unter DOTAS im Jahr 2017 (DASVOIT-Regelungen) Auch der spezifische „Fraud Investigation Service“ (FIS) des HMRC spielt bei der Bekämpfung von Steuervermeidungsmodellen eine wichtige Rolle6 3.1. Regelungen gegen (Mehrwert-) Steuervermeidungsmodelle unter DOTAS In Großbritannien existieren Regelungen unter der Bezeichnung "Disclosure of Tax Avoidance Schemes" (DOTAS), d. h. Regelungen zur Offenlegung von Steuervermeidungsmodellen.7 Diese wurden im Jahr 2004 eingeführt und im Laufe der Jahre ausgeweitet, um mehr Steuerarten und Vermeidungsmodelle einzubeziehen. Die Steuer- und Zollbehörde des Vereinigten Königreichs HMRC definiert dabei Steuervermeidung als Nutzung der Steuergesetze in der Art, dass ein Steuervorteil erlangt wird, den das Parlament nie beabsichtigte. Die DOTAS-Regelungen enthalten in Bezug auf die Umsatzsteuer die folgenden Regelungsbereiche : VADR (gilt für Fälle vor dem 1. Januar 2018) DASVOIT (ab 1. Januar 2018)8 Gemäß der Regelungen unter DOTAS sind Berater, die Modelle zur Steuervermeidung verkaufen, verpflichtet, über jedes neue Steuervermeidungsmodell, das sie Steuerzahlern anbieten, HMRC 6 https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/785551/tackling _tax_avoidance_evasion_and_other_forms_of_non-compliance_web.pdf, S. 12, abgerufen am 28. Mai 2020. 7 Vgl. https://www.gov.uk/guidance/disclosure-of-tax-avoidance-schemes-overview, abgerufen am 28. Mai 2020. 8 https://www.gov.uk/guidance/disclosing-vat-and-other-indirect-tax-avoidance-schemes-vat-notice-799, abgerufen am 3. Juni 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 7 zu informieren. Steuervermeidungsmodelle, die nicht von einem Berater gekauft, sondern intern entwickelt oder auch nur angewendet wurden, müssen ebenfalls gemeldet werden. Der Beraterbegriff ist weit gefasst, so dass auch Leistungen von Vermittlern, Managern oder anderen Personen unter die Offenlegungspflicht fallen. Hat ein Berater es versäumt, ein Modell zu melden, ist der Nutzer selbst zur Meldung verpflichtet. Modelle von Beratern, die ihren Geschäftssitz außerhalb von Großbritannien haben oder beispielsweise als Anwälte der Schweigepflicht unterliegen, müssen generell von den Nutzern gemeldet werden. Nach der Meldung erhält jedes Steuervermeidungsmodell eine achtstellige Referenznummer, die von allen es benutzenden Steuerzahlern jährlich in ihrer Steuererklärung angegeben werden muss. Berater müssen HMRC regelmäßig eine Liste derjenigen Personen vorlegen, die von ihnen eine Referenznummer erhalten haben. Ein neues Steuervermeidungsmodell in Bezug auf Mehrwertsteuer müssen Berater normalerweise innerhalb von 31 Tagen offenlegen, nachdem sie einen diesbezüglichen Marketingkontakt mit einer anderen Person hatten. Wenn Meldungen nicht korrekt oder innerhalb der festgelegten Zeit erfolgen , können hohe Geldstrafen verhängt werden. Im Übrigen kann sich auch jede unbeteiligte Person , die den begründeten Verdacht hegt, dass die Regelungen unter DASVOIT nicht eingehalten werden, an HMRC wenden. Grundsätzlich verwendet HMRC die erlangten Informationen, um die Inanspruchnahme von Steuervermeidungsmodellen zu verfolgen, aber auch um einzelne Modelle vor Gericht anzufechten . Letzteres erfolgt, wenn die Steuerbehörde zu der Auffassung gelangt ist, dass das genannte Modell anders funktioniert als ein Berater behauptet oder um unbeabsichtigte Gesetzeslücken zu schließen, die einige Steuervermeidungsmodelle auszunutzen versuchen. Ziel dieser Regelungen ist die Erlangung frühzeitiger Information über die Wirkungsweise des jeweiligen Steuervermeidungsmodells sowie über die dabei beteiligten Personen. Die DASVOIT- Regelungen sind so gestaltet, dass bereits früher genutzte bzw. bekannt gewordene Modelle nicht mehr darunter fallen. Die Beantwortung der folgenden Fragen dient dabei der Beurteilung, ob ein Modell offengelegt werden muss: 1. Gibt es darin Arrangements, die einen Steuervorteil erhoffen lassen? 2. Ist der Steuervorteil der Hauptvorteil des Modells? 3. Treffen auf das Modell mehrere Kennzeichen eines bestimmten Katalogs zu? Die Kennzeichen des genannten Katalogs können sich beispielsweise darauf beziehen, ob der Wunsch nach Stillschweigen gegenüber Konkurrenten oder der Steuerbehörde besteht oder die Höhe des Honorars von der Höhe des zu erwartenden Steuervorteils abhängt oder getrennte Lieferungen von Gütern mit unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen gegenüber einer zusammengefassten Lieferung bevorzugt werden, nur um Steuern zu sparen. 3.2. Weitere Regelungen gegen Mehrwertsteuerbetrug Durch das signifikante Wachstum von Online-Plattformen wird der Mehrwertsteuerbetrug durch ausländische Verkäufer erleichtert. Generell sehen die Mehrwertsteuer-Vorschriften vor, dass alle Einzelhändler, die außerhalb der Europäischen Union ansässig sind, aber Waren online an Kunden im Vereinigten Königreich verkaufen, die Mehrwertsteuer in Rechnung stellen müssen, wenn sich ihre Waren bereits im Vereinigten Königreich am Point of Sale befinden. Da dies viele Verkäufer aus Drittstaaten unterlassen und dadurch einen unfairen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen erhalten, führte die britische Regierung eine neue gesetzliche Regelung ein, um Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 8 dieses Problem zu lösen. So wurde HMRC in die Lage versetzt, einen Online-Marktplatz gesamtschuldnerisch haftbar zu machen für die nicht bezahlte Mehrwertsteuer derjenigen Drittstaats- Unternehmen, die die britischen Umsatzsteuergesetze bei Verkäufen von Waren in Großbritannien über diese Plattform nicht einhielten. Die gesamtschuldnerische Haftung für nicht bezahlte Mehrwertsteuer gilt jedoch auch für Umsätze von Verkäufern, die im Vereinigten Königreich ansässig sind. Ausgeweitet wurde die Haftung außerdem auf Fälle, in denen ein Online-Marktplatz entweder wusste oder hätte wissen müssen, dass ein Verkäufer aus dem Ausland für die Mehrwertsteuer fälschlicherweise nicht registriert war. Des Weiteren müssen Online-Marktplätze sicherstellen, dass die Umsatzsteuernummern , die für die auf ihrer Website tätigen Unternehmen angezeigt werden, gültig sind. Auch sie selbst müssen ihren Geschäftspartnern eine gültige Umsatzsteuernummer angeben.9 Zudem wurde im Laufe der Zeit in Großbritannien in mehreren Bereichen ein inländisches Reverse -Charge-Verfahren eingeführt. Hierbei zahlt der abnehmende Unternehmer die Mehrwertsteuer direkt an HMRC. Die Regelung soll den so genannten "Missing Trader"-Betrug verhindern, bei dem Händler zwar die Mehrwertsteuer auf ihre Verkäufe einnehmen, aber vom Markt verschwinden , bevor die Mehrwertsteuer von ihnen an das Finanzministerium abgeführt wurde. So gilt diese inländische Umkehrung der Steuerschuldnerschaft bereits seit 2007 für den Großhandel mit Mobiltelefonen und Computerchips, seit 2010 für den Großhandel mit Emissionszertifikaten , seit 2014 für den Großhandel mit Gas oder Strom sowie seit 2016 für Telekommunikationsdienstleistungen .10 Ab 14. Juni 2019 gilt das inländische Reverse-Charge-Verfahren auch für den An- und Verkauf von Zertifikaten für erneuerbare Energien11, des Weiteren ab 1. Oktober 2020 für Dienstleistungen im Bausektor.12 Grundsätzlich ist der leistende Unternehmer bei Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens verpflichtet, den Umsatzsteuerstatus seines Kunden zu überprüfen . Bei mangelhafter Überprüfung kann der leistende Unternehmer für entgangene Umsatzsteuer haftbar gemacht werden.13 9 https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/785551/tackling _tax_avoidance_evasion_and_other_forms_of_non-compliance_web.pdf, S. 12 ff, abgerufen am 28. Mai 2020. 10 https://www.gov.uk/guidance/the-vat-domestic-reverse-charge-procedure-notice-735, abgerufen am 25. Mai 2020. 11 https://www.gov.uk/government/publications/revenue-and-customs-brief-4-2019-vat-domestic-reverse-chargefor -businesses-trading-in-renewable-energy-certificates/revenue-and-customs-brief-4-2019-vat-domestic-reversecharge -for-businesses-trading-in-renewable-energy-certificates, abgerufen am 25. Mai 2020. 12 https://www.gov.uk/guidance/vat-domestic-reverse-charge-for-building-and-construction-services, abgerufen am 25. Mai 2020. 13 https://www.gov.uk/guidance/the-vat-domestic-reverse-charge-procedure-notice-735, abgerufen am 28. Mai 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 9 4. Unionsrechtliche Vorgaben und nationale Umsetzung von Reverse-Charge-Verfahren 4.1. Allgemeine Regelungen zur Verlagerung der Steuerschuldnerschaft „Die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft (engl. „reverse charge“) auf den Leistungsempfänger war ursprünglich dem Anliegen geschuldet, im grenzüberschreitenden Dienstleistungshandel eine praktikable Umsetzung des Bestimmungslandprinzips zu gewährleisten. Da ein Grenzausgleich hier mangels physischen Grenzübertritts des Umsatzgegenstands nicht in Betracht kommt, sähe sich der leistende Unternehmer ansonsten als Steuerschuldner mit steuerverfahrensrechtlichen Pflichten in einer ihm unter Umständen fremden Rechtsordnung und Sprache konfrontiert. Die dortige Finanzverwaltung wiederum könnte eine effektive Kontrolle und Durchsetzung des Steueranspruchs vielfach nur unter Beanspruchung internationaler Amtshilfe (des Herkunftslandes ) erreichen. Durch die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft nach § 13b Abs. 1, 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 13b Abs. 5 Umsatzsteuergesetz (UStG) wird der qualifizierte Leistungsempfänger (Unternehmer oder juristische Person) zum Steuerschuldner für die an ihn von einem im Ausland ansässigen Unternehmer ausgeführte (steuerbare und steuerpflichtige) Werklieferung oder sonstige Leistung. Denselben Hintergrund hat die Steuerschuldverlagerung bei den als Lieferung qualifizierten grenzüberschreitenden Umsätzen mit Gas, Elektrizität, Wärme oder Kälte (§ 13b Abs. 2 Nr. 5, Abs. 5 Sätze 1, 3 u. 4 UStG).“14 „Zur Bekämpfung von Steuerausfällen ist die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft nach § 13b Abs. 5 in Verbindung mit § 13b Abs. 2 Nr. 2 bis 4, 6 bis 8, 10, 11 UStG auch auf bestimmte reine Inlandssachverhalte ausgedehnt worden. Dies betrifft insbesondere Leistungen in betrugsanfälligen Branchen (namentlich Baugewerbe, § 13b Abs. 2 Nr. 4; Gas- und Stromhandel, § 13b Abs. 2 Nr. 5; Emissionszertifikatehandel, § 13b Abs. 2 Nr. 6; Schrotthandel, § 13b Abs. 2 Nr. 7; Gebäudereinigung , § 13b Abs. 2 Nr. 8; Handel mit Mobilfunkgeräten u.ä., § 13b Abs. 2 Nr. 10; Metallhandel , § 13b Abs. 2 Nr. 11) sowie Konstellationen, in denen der Fiskus einer besonderen Insolvenzgefahr unterliegt (Lieferungen von sicherungshalber übereigneten Sachen durch den Sicherungsgeber an den Sicherungsnehmer außerhalb des Insolvenzverfahrens, § 13b Abs. 2 Nr. 2 UStG; jede unter das Grunderwerbsteuergesetz fallende Leistung, für die optiert wurde, § 13b Abs. 2 Nr. 3 UStG).“15 „Die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft tritt allerdings grundsätzlich nur ein, wenn der Empfänger seinerseits Unternehmer ist; zum Teil genügt es auch, wenn es sich um eine nichtunternehmerisch tätige juristische Person handelt. Bei einigen Leistungskategorien wie den Leistungen der Bauhandwerker wird noch enger vorausgesetzt, dass der Leistungsempfänger selbst nachhaltig in der entsprechenden Branche tätig ist; siehe im Ergebnis § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG. Vermieden werden soll stets, dass einerseits vom Leistungsempfänger ein Vorsteuerabzug geltend gemacht werden kann, andererseits aber der Fiskus die Ausgangssteuer vom Leistenden (wegen Betrugs oder Insolvenz) nicht erhält. Der deutsche Gesetzgeber hat damit von den Möglichkeiten der Art. 199 f. Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) extensiv Gebrauch gemacht.“16 14 Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, Umsatzsteuer, Rn. 72 (juris) 15 Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, Umsatzsteuer, Rn. 73 (juris) 16 Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, Umsatzsteuer, Rn. 73 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 10 4.2. Der Schnellreaktionsmechanismus des § 13b Abs. 10 UStG „Auf europäischer Ebene ist mit Art. 199b MwStSystRL die Möglichkeit geschaffen worden, die Ausdehnung der umgekehrten Steuerschuldnerschaft auf weitere Waren- oder Dienstleistungskategorien durch die Kommission statt wie bislang durch den Rat autorisieren zu lassen, um neu auftretenden Betrugsmustern rasch entgegenzuwirken (sog. „Schnellreaktionsmechanismus“). Korrespondierend hierzu kann gemäß § 13b Abs. 10 UStG auf dieser Grundlage dann innerstaatlich eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers im Verordnungswege erfolgen.“17 „Auf der Grundlage des Art. 199b MwStSystRL ermächtigt § 13b Abs. 10 das BMF, durch Rechtsverordnung den Anwendungsbereich der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers auf weitere Umsätze zu erweitern, wenn im Zusammenhang mit diesen Umsätzen in vielen Fällen der Verdacht auf Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall aufgetreten ist, die voraussichtlich zu erheblichen und unwiederbringlichen Steuermindereinnahmen führen. Ferner darf die EU-Kommission keine Einwände gegen die Erweiterung geltend machen (§ 13b Abs. 10 Nr. 1), die Bundesregierung muss einen Antrag nach Art. 395 MwStSystRL stellen, worüber innerhalb eines – verkürzten – Zeitraums von sechs Monaten entschieden sein muss (Art. 395 Abs. 5 MwStSystRL, § 13b Abs. 10 Nr. 2 UStG) und die Rechtsverordnung muss nach 9 Monaten außer Kraft treten (§ 13b Abs. 10 Nr. 3). Deshalb ist die Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers nur eine vorläufige Maßnahme. Ermächtigt der Rat Deutschland entsprechend dem gestellten Antrag nach Art. 395 MwStSystRL, eine abweichende Regelung längerfristig beibehalten zu dürfen, muss die – zunächst in der Rechtsverordnung geregelte – Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers in das UStG aufgenommen werden.“18 4.3. Ziele des Schnellreaktionsmechanismus „Mit § 13b Abs. 10 sollen die Voraussetzung geschaffen werden, zeitnah von durch den unionsrechtlichen Schnellreaktionsmechanismus eröffneten Möglichkeiten zur Betrugsbekämpfung (Art. 199b MwStSystRL) national Gebrauch zu machen, um eine kurzfristige Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei einer Mehrzahl von Fällen des Verdachts auf Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall (§ 370 Abs. 3 AO) einführen zu können und dadurch Steuerausfälle zu verhindern19. Eine Rechtsverordnung soll die Voraussetzung dafür bieten, eine unionsrechtliche Sonderregelung in Deutschland zu nutzen.“ „Das Problem sieht der Gesetzgeber20 darin, dass derzeit der Anwendungsbereich der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers nur auf die Umsätze erweitert werden kann, für die unionsrechtlich eine solche optionale Regelung festgelegt worden ist (vgl. Art. 199, 199a MwSt- SystRL). Wird festgestellt, dass für andere Umsätze in Deutschland konkrete Hinweise vorliegen, die den Verdacht für erhebliche Steuerhinterziehungen rechtfertigen oder bereits Informationen 17 ebenda 18 Sölch/Ringleb/Heuermann, 88. EL März 2020, UStG § 13b Rn. 241, 242 (beck-online) 19 BR-Drucksache 432/14, S. 64 20 Siehe dazu BT-Drucksache 432/14 (S. 64) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 11 über verwirklichte Steuerhinterziehungen in Deutschland vorliegen, kann derzeit kurzfristig nicht schnell gesetzgeberisch reagiert werden. Vielmehr bedarf es eines entsprechenden Antrags auf eine Abweichungsmöglichkeit vom Unionsrecht und einer entsprechenden einstimmigen Genehmigung durch den EU-Ministerrat (vgl. Art. 395 MwStSystRL). Dieses Verfahren dauert derzeit rund 8 Monate. Durch die RL 2013/42/EG (Rz 241) schaffe das Unionsrecht ein Instrument, das es den EU-Mitgliedstaaten ermöglicht, „in den vorgenannten Fällen kurzfristig für einen Zeitraum von maximal neun Monaten eine Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers vorzusehen , wenn konkrete Hinweise für den Verdacht von unvermittelt schwerwiegenden Betrugsfällen auftreten, die voraussichtlich zu erheblichen und unwiederbringlichen finanziellen Verlusten führen“21.“22 5. Argumente zum Reverse-Charge-Verfahren Das BMF hat im Jahr 2005 eine Machbarkeitsstudie zum Reverse-Charge-Verfahren in Auftrag gegeben . Diese führte eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft23 auf der Grundlage eines Planspiels durch. „Das Planspiel hat im Wesentlichen die erwarteten Wirkungen des Reverse-Charge-Verfahrens bestätigt. Da der Zahlungsfluss zwischen den beteiligten Unternehmen netto erfolgt, ist ein Auseinanderfallen von nicht entrichteter Umsatzsteuer und vergüteter Vorsteuer nicht mehr möglich und die Schwachstelle des Vorsteuerabzuges trotz Nichtentrichtung der Umsatzsteuer wird beseitigt. Der Fiskus trägt in diesem Fall kein Ausfallrisiko mehr. Insoweit sind auch Insolvenzen , ob planmäßig in betrügerischer Absicht herbeigeführt oder aus anderen Gründen eingetreten , der Betrug durch Vorsteuererstattung auf Basis von Scheinrechnungen bzw. Karusellgeschäfte und ähnliche Missbrauchsszenarien nicht mehr relevant. Gerade hier sehen die Befürworter des Systemwechsels den besonderen Nutzen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft schätzt, das unter der Bedingung eines funktionierenden Kontrollverfahrens in Deutschland jährlich ein positiver Saldo von ca. 3,8 Milliarden Euro Aufkommenswirkung erzielt werden könnte. Dieser Betrag ergibt sich durch ein geschätztes Volumen aus dem Wegfall bestehender Betrugsszenarien in Höhe von ca. 3,4 Mrd. Euro, dem Wegfall von Ausfallrisiken durch Insolvenzen und andere Niederschlagungen in Höhe von 1,8 Mrd. Euro sowie einen gegenläufigen Effekt durch mögliche neue Betrugsszenarien in Höhe von 1,4 Mrd. Euro. Das Planspiel geht davon aus, dass allein die Ausfälle aus Karussellgeschäften (geschätzte Höhe: 2,1 Mrd. Euro) jährlich um 2 Mrd. Euro zurückgehen würden und damit als Betrugsszenario praktisch vollständig an Bedeutung verlieren würden.“24 Das ifo-Institut äußerte sich in seiner Einschätzung zum Reverse-Charge Verfahren im Oktober 2005 zurückhaltender: „Insbesondere wird eine wirkungsvolle Bekämpfung des in den Medien 21 BR-Drucksache 432/14, S. 64 22 Sölch/Ringleb/Heuermann, 88. EL März 2020, UStG § 13b (beck-online) 23 PSP Peters Schönberger GmbH, Planspiel zur systembezogenen Änderung bei der Umsatzsteuer „Reverse Charge Verfahren“ im Auftrag des BMF, November 2005. 24 Kempf, Dieter: „Die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens als Möglichkeit der Bekämpfung von Umsatzsteuerausfällen und seine praktischen Probleme“ in: Kirchhof, Paul und Nieskens, Hans [Hrsg.]: Festschrift für Wolfram Reiss zum 65. Geburtstag, S. 285 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 12 viel zitierten Karussellbetrugs lediglich 1-2 Mrd. Euro in die Kassen des Fiskus spülen, da die daraus resultierenden Ausfälle (nicht zuletzt infolge verstärkter Kontrollen) in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen zu sein scheinen.“25 5.1. Abgrenzungsschwierigkeiten im Anwendungsbereich des Reverse-Charge-Verfahrens Die Bedenken gegen das Reverse-Charge-Verfahren wurde bereits vor der Einführungsphase vor allem anhand von technischen Argumenten geäußert: „Problematisch für das leistende Unternehmen ist, dass es Umsätze an Unternehmer und Umsätze an Nichtunternehmer sowie Umsätze unterhalb der Bagatellgrenze und oberhalb derselben unterschiedlich zu behandeln hat. Nur wenn der Abnehmer Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuergesetzes ist und eine Leistung für sein Unternehmen bezieht, darf er die Lieferung und Leistung ohne Umsatzsteuer beziehen, sofern diese wiederum die Bagatellgrenze überschreitet.“26 In § 13b Abs. 2 Nr. 10 und 11 UStG wurde für bestimmte Lieferungen eine Bagatellgrenze von 5000 Euro eingeführt. Dagegen wird eingewandt, dass die damit verbundenen höheren Anforderungen an die Rechnungsprüfung die erzielten Vereinfachungen wieder aufheben würden. Hierbei wird auch eine sogenannte „Ameisenkriminalität“ befürchtet, bei der sich Betrugsszenarien genau unterhalb der Schwelle der Bagatellgrenze etablieren können. Viele kleine Betrugsfälle seien kontrolltechnisch weit schwieriger in den Griff zu bekommen. Schwierigkeiten können sich auch aus dem Nebeneinander der Ist-Besteuerung und des punktuellen Reverse-Charge-Verfahren ergeben. „Im Gegensatz zum System der Ist-Versteuerung mit Cross-Check-Verfahren sollen nicht Meldungen über einzelne Transaktionen miteinander verglichen werden, sondern es sind auf der Seite des Leistenden Einzelmeldungen vorgesehen, auf der Seite des Empfangenden „verrechnete“ zusammenfassende Meldungen im Rahmen der „normalen “ Voranmeldung. Es liegt auf der Hand, dass dieses Verfahren eine Reihe von Fehlerquellen im Abgleich der Daten in sich birgt (sogenannte Mismatches), deren Klärung den beteiligten Unternehmen abverlangt wird.“27 5.2. Einführungskosten und laufende Kosten für Unternehmen Ein sehr häufig vorgebrachter Einwand gegen das Reverse-Charge-Verfahren sind die damit verbundenen Kostenbelastungen, insbesondere in der Einführungsphase, für die betroffenen Unternehmen . „Die Studie (der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PSP) geht von einer Summe der einmaligen Kosten inklusive Prozessumstellung, Schulung etc. in Höhe bis zu ca. 2 Milliarden Euro und laufender Kosten in Höhe bis zu ca. 0,2 Milliarden Euro p.a. aus. Bezieht man diese geschätzten Kosten auf die ca. 2,9 Millionen umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen in Deutschland, so wären danach für jedes dieser Unternehmen lediglich einmalige Kosten in Höhe von ca. 690 Euro zu veranschlagen. Ein Wert, der bei näherer Betrachtung sehr niedrig erscheint, wenn man 25 Gebauer/Parsche: „Bestätigung des leichten Absinkens der Mehrwertsteuerausfallquote im Jahr 2005, Ifo-Institut , Schnelldienst 21/2005, S. 13 26 Siehe Fn. 24, S. 286 27 Ebenda, S. 289 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 13 bedenkt, dass hierunter nicht nur die Kosten der Umstellung der Abrechnungs- und Finanzbuchführungssysteme , sondern auch die Schulungsaufwendungen des davon betroffenen Personals enthalten sein müssen. Noch ambitionierter erscheint die Schätzung der laufenden Kosten. Danach sollten pro Unternehmen und Monat lediglich Kosten in Höhe von 5,75 Euro zu veranschlagen sein. Dies mag richtig sein, wenn man hierunter nur die Kosten der getrennten Ermittlung der „normalen Umsätze“ von den „R-Umsätzen“ und die der zusätzlichen monatlichen Meldung subsumiert. Beachtet man jedoch, dass nach Angaben des Institutes für Mittelstandsforschung die Kosten für eine Umsatzsteuervoranmeldung im Mittel bei 15, 62 Euro liegen28, so darf die Höhe der geschätzten laufenden monatlichen Mehrkosten durchaus in Zweifel gezogen werden .“29 Es ist davon auszugehen, dass eine Ausweitung des Anwendungsbereiches von Reverse-Charge- Verfahren für die betroffenen Branchen zu neuen Einmalinvestitionen und zu neuen laufenden Kosten führen würde. 5.3. Verfassungsrechtliche Bedenken zu § 13b Abs. 10 UStG § 13b Abs. 10 UStG enthält eine Verordnungsermächtigung für das BMF zur Ausweitung des Anwendungsbereichs für Reverse-Charge-Verfahren. Eine Verordnungsermächtigung muss den Anforderungen des Art. 80 GG entsprechen, um verfassungsrechtlich Bestand zu haben. Dies wird in der Literatur bezweifelt. Es sei „fraglich, ob die Ermächtigung die Voraussetzungen des Art. 80 GG erfüllt. Die Maßstäbe des GG gelten hier, weil Art. 199b MwStSystRL keine zwingende Umsetzung verlangt, sondern Spielräume eröffnet.30 Art. 80 Abs. 1 GG verlangt, dass Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Schon aus der Ermächtigung soll erkennbar und vorhersehbar sein, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll.31 Zwar ist aus § 13b Abs. 10 zu entnehmen, zu welchem Zweck der Gesetzgeber den Schnellreaktionsmechanismus einführt (Vermeidung von Steuerhinterziehungen). Indes hat der Gesetzgeber keine Belastungsentscheidung (die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers) getroffen, so dass sich Inhalt und Ausmaß der Steuerschuld nicht aus dem Gesetz ergibt. Es ist nicht im Entferntesten klar, welche Leistungen einbezogen werden könnten (unbestimmt z. B. „in vielen Fällen der Verdacht auf Steuerhinterziehung“, die „voraussichtlich zu erheblichen und unwiederbringlichen Steuermindereinnahmen“). Außerdem ist nicht klar, ob § 13b Abs. 10 der unionsrechtliche Ermächtigung genügt; denn Art. 199b Abs. 1 MwStSystRL reagiert auf „unvermittelt auftretende und schwerwiegende Betrugsfälle“, während für die nationale Regelung der „Verdacht auf Steuerhinterziehung …“ schon ausreichen soll.“32 28 Institut für Mittelstandsforschung: „Ermittlung bürokratischer Kostenbelastungen in ausgewählten Bereichen“. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Januar 2006 29 Kempf: aaO., S. 291 f. 30 vgl. BVerfG v. 19.7.2011 1 BvR 1916/09, Le Corbusier, Designermöbel Urheberrecht, BVerfGE 129, 78 31 BVerfG v. 20.10.1981 1 BvR 640/80, BVerfGE 58, 257 32 Sölch/Ringleb/Heuermann, 88. EL März 2020, UStG § 13b Rn. 244 (beck-online) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 14 6. Bewertung Das Umsatzsteuerrecht und der Anwendungsbereich des Reverse-Charge-Verfahrens sind dynamischen Veränderungen unterworfen. So wurde die umgekehrte Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers sukzessive auf immer mehr Branchen ausgeweitet. Zuletzt wurde durch Artikel 12 Nr. 9 in Verbindung mit Artikel 39 Abs. 2 des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12. Dezember 201933 § 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG zum 1. Januar 2020 neu gefasst. Dabei wurde die bestehende Vorschrift zur Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers auf die Übertragung von Gas- und Elektrizitätszertifikaten ausgeweitet. Der Bundesrechnungshof34 hat 2012 in einem Sonderbericht "Kontrollprüfung zum innergemeinschaftlichen Umsatzsteuerbetrug", der gemeinsam von den Rechnungshöfen der Niederlande, Belgiens und Deutschlands erstellt wurde, die Wirksamkeit der Maßnahmen der Finanzverwaltung gegen innergemeinschaftlichen Umsatzsteuerbetrug untersucht. Dabei stellten die Rechnungshöfe fest, dass die Ergebnisse auf EU-Ebene zeigen, „wie wichtig es ist, dass die EU-Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des Karussellbetrugs eng zusammenarbeiten und Informationen austauschen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die Verfahren und Regeln der Umsatzbesteuerung , beispielsweise hinsichtlich der Registrierung bzw. Löschung von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern , zu harmonisieren. Die Zusammenarbeit der Betrugsbekämpfungseinheiten über Eurofisc ist ein weiteres wichtiges Anliegen für die Zukunft. Mit Blick auf die Zukunft wird deutlich, dass Karussellbetrug solange eine Gefahr bleiben wird, wie das derzeitige „vorläufige“ Umsatzsteuersystem der EU besteht. Dementsprechend müssen die Steuerverwaltungen ein ständiges Augenmerk darauf haben. Lassen die Steuerverwaltungen in ihren Bemühungen im Kampf gegen den innergemeinschaftlichen Umsatzsteuerbetrug nach, kann dies wegen der verzögerten Aufdeckung von Betrugsfällen leicht zu höheren Einnahmeausfällen führen. Um festzustellen, welche Instrumente am besten geeignet sind, diese Art von Betrug zu bekämpfen , sollten verabschiedete Maßnahmen systematisch auf ihre Wirksamkeit hin untersucht, die Höhe der Einnahmeausfälle fortlaufend überwacht und neue Betrugsmodelle aufmerksam beobachtet und analysiert werden.“35 Die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens erfolgt derzeit nur punktuell im deutschen Umsatzsteuerrecht . Deutschland hat sich in der Vergangenheit für die generelle Einführung eines Reverse -Charge-Verfahrens in der Europäischen Union eingesetzt. Dies war jedoch auf Grund der bestehenden Regelungen in der MwStSysRL und dem Einstimmigkeitsprinzip in steuerlichen 33 BGBl. I 2019, S. 2451 ff. 34 https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/langfassungen/2012- sonderbericht-kontrollpruefung-zum-innergemeinschaftlichen-umsatzsteuerbetrug/at_download/file [zuletzt abgerufen am 12. Juni 2020] 35 Siehe Fn. 33, S. 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 049/20 Seite 15 Angelegenheiten in der EU nicht durchsetzbar: „Ungeachtet dessen setzt die Einführung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens eine Änderung der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie voraus . Hierzu bedarf es eines Vorschlags der Europäischen Kommission und einer einstimmigen Entscheidung im Rat. Die Bundesregierung hatte sich insbesondere unter deutscher Ratspräsidentschaft 2007 für die Einführung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens eingesetzt. Aufgrund massiver politischer Vorbehalte einer Reihe von Mitgliedstaaten war und ist dies nicht durchsetzbar.“36 Diese Antwort der Bundesregierung zeigt die rechtlichen Hürden für die generelle Umstellung der Umsatzsteuer auf das Reverse-Charge-Verfahren deutlich auf. Ein nationaler Alleingang ist aufgrund der vollharmonisierten Regelungen der MwStSysRL nicht mehr möglich. Die rechtlichen Voraussetzungen müssen vielmehr auf unionsrechtlicher Ebene einstimmig von den Mitgliedsstaaten geschaffen werden. Die verwaltungsorganisatorischen Maßnahmen, die Großbritannien ergriffen hat, könnten dagegen grundsätzlich auch in Deutschland in Angriff genommen werden. Aufgrund der föderalen Organisationsstruktur der Finanzverwaltung ist dies jedoch nur im Einvernehmen von Bund und Ländern möglich. Entsprechende organisationsrechtliche Veränderungen erfordern grundsätzlich die Zustimmung der Länder im Bundesrat, Art. 108 GG. Bei der Bewertung einer generellen Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens würde der Vorteil für die Unternehmen im Wegfall eines Großteils der Anwendungs- und Abgrenzungsprobleme der Steuerschuldnerschaft liegen. Wenn nicht zwei unterschiedliche Modelle gleichzeitig angewandt werden müssten, könnten mittelfristig auch aufwändige Prozesse der Leistungsabgrenzung in der Buchhaltung der Unternehmen entfallen. Gegen die flächendeckende Einführung des Reverse -Charge-Verfahrens sprechen dagegen die (relativ hohen) einmaligen Investitionskosten der Unternehmen. Das Reverse-Charge-Verfahren ist allerdings auch kein Allheilmittel gegen jegliche Formen des Umsatzsteuerbetrugs. „Neben den Karussellgeschäften sind als andere Formen des Umsatzsteuerbetrugs z. B. normale Umsatzverkürzungen, Anwendung des unzutreffenden Steuersatzes, nicht zutreffende Behandlung eines Umsatzes als umsatzsteuerfrei oder Ohne-Rechnung-Geschäfte bekannt . Diese Formen des Umsatzsteuerbetrugs können durch eine Erweiterung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers (Reverse-Charge-Verfahren) nicht verhindert werden.“37 Eine Ausweitung des Reverse-Charge-Verfahrens kann somit Steuerausfälle durch Umsatzkarusselle wirksam bekämpfen helfen. Gegen andere Formen des Umsatzsteuerbetrugs müssen jedoch weitere grenzüberschreitende Kooperations- und Missbrauchsbekämpfungsmethoden der Finanzbehörden zur Anwendung kommen. *** 36 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Thomas Gambke u.a. (Bündnis 90/Die Grünen); BT-Drs. 18/568, S. 10 37 Ebenda, S. 5