© 2015 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 - 040/15 Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland im Lichte des Art. 109 Abs. 2 GG Vereinbarkeit, Handlungspflichten, Justiziabilität Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 2 Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland im Lichte des Art. 109 Abs. 2 GG Vereinbarkeit, Handlungspflichten, Justiziabilität Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 4 - 3000 - 040/15 Abschluss der Arbeit: 31.03.2015 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Genese und unionsrechtlicher Kontext des Art. 109 Abs. 2 GG 4 2.1. Normhistorie des Art. 109 Abs. 2 GG 4 2.2. Einbindung des Art. 109 Abs. 2 GG in das europarechtliche Gesamtgefüge 5 2.3. Normadressaten des Art 109 Abs. 2 GG 6 3. Die Leistungsbilanzüberschüsse der BRD mit Blick auf den heutigen Regelungsgehalt des Art. 109 Abs. 2 GG und die Reichweite der hieraus erwachsenden Verpflichtungen 7 3.1. Exkurs: Überblick zu den Ursachen des überschießenden deutschen Leistungsbilanzsaldos ausweislich des „Gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren“ der EU (im Anhang) 7 3.2. Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG: Verpflichtungen mit Blick auf die Rechtsakte der EU auf Grundlage des Art. 126 AEUV (ex Art. 104 EGV) 7 3.3. Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG: Verpflichtungen mit Blick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht 8 3.4. Justiziabilität und verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bezogen auf die Verpflichtungen aus Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG („gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“) 10 4. Fazit 12 5. Anhang: Überblick zu den Ursachen des überschießenden deutschen Leistungsbilanzsaldos ausweislich des „Gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren“ der EU 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 4 1. Fragestellung Der Ausarbeitung liegt die Fragestellung zugrunde, ob sich aus verfassungsrechtlicher Sicht die anhaltenden Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland mit der Bestimmung des Art. 109 Abs. 2 GG vereinbaren lassen. Als Anschlussfrage ist zu klären, inwiefern aus Art. 109 Abs. 2 GG möglicherweise Handlungspflichten für den Gesetzgeber dahin erwachsen, die Außenhandelsüberschüsse durch (finanz-)politische Maßnahmen abzubauen. Vor diesem Hintergrund richtet sich die Frage abschließend auf eine Beleuchtung der juristischen Mittel, mit denen eine Durchsetzung der Ziele des Art. 109 Abs. 2 GG bzw. die Feststellung des nicht-verfassungskonformen Handelns des Gesetzgebers erstritten werden könnte. 2. Genese und unionsrechtlicher Kontext des Art. 109 Abs. 2 GG 2.1. Normhistorie des Art. 109 Abs. 2 GG In der Ursprungsfassung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 wies der Art. 109 GG lediglich wortlautgleich den Regelungsinhalt des heutigen Art. 109 Abs. 1 GG auf, welcher den sog. Trennungsgrundsatz , also die Autonomie der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern normiert. Im Zuge der Haushaltsrechtsreform der Jahre 1967/1969 wurde Art. 109 GG grundlegend neu gefasst und um die Absätze 2 bis 4 ergänzt.1 Der neue Absatz 2 hatte dabei den folgenden Wortlaut: „Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen.“ Hinter dieser Regelung stand ein verändertes politisches Konzept, im Rahmen dessen der Gesetzgeber den Haushalt nicht mehr nur nach seiner Bedarfsdeckungsfunktion ausgestalten, sondern auch dessen Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den Blick nehmen sollte. Das Haushaltsrecht sollte fortan verstärkt in den Dienst der staatlichen Konjunktursteuerung gestellt werden.2 Flankiert wurde die Einfügung des Absatzes 2 in Art. 109 GG von dem Erlass des „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (StabG) am 08. Juli 19673. In § 1 StabG wird der ausfüllungsbedürftige Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ aus Art. 109 Abs. 2 GG durch vier wirtschaftspolitische Ziele (das sog. magische Viereck) inhaltlich konkretisiert; dies sind im Einzelnen: 1 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 08. Juni 1967, BGBl. Jg. 1967, Teil I Nr. 32, S. 581. 2 BVerfG NJW 1989, 2457 (2458); Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 12, 16. 3 BGBl. Jg. 1967, Teil I Nr. , S. 582. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 5 stabiles Preisniveau (Preisentwicklung mit moderater Inflationsrate), hoher Beschäftigungsstand (geringe Arbeitslosigkeit), außenwirtschaftliches Gleichgewicht (ausgeglichene Leistungsbilanz), sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Diese vier Teilziele sollen gemäß § 1 StabG „im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig“ angestrebt werden. Im Zuge der Förderalismusreform 20064 wurde Art. 109 GG um einen zusätzlichen Absatz 5 erweitert . Dessen Satz 1 hielt Bund und Länder dazu an, die „Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des EGV [nunmehr Art. 126 AEUV] zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin […] gemeinsam zu erfüllen .“ Diese Verweisung nahm damit Bezug auf die im Rahmen des sog. Europäischen Stabilitätsund Wachstumspakts ergangenen Rechtsakte (näher dazu unter 1.2). Durch die Förderalismusreform II5 im Jahr 2009 wurde die o.g. Verpflichtung aus Art. 109 Abs. 5 S. 1 GG als neuer erster Halbsatz in Art. 109 Abs. 2 GG überführt. In dieser Fassung besteht die Norm bis heute fort. 2.2. Einbindung des Art. 109 Abs. 2 GG in das europarechtliche Gesamtgefüge6 Die Bestimmungen des Art. 109 Abs. 2 GG werden mittlerweile stark durch europarechtliche Vorgaben, insbesondere die Anforderungen des Vertrages von Maastricht7 in Bezug auf die Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) überlagert und beeinflusst (vgl. Art. 120 ff. AEUV).8 Auf Grundlage des Art. 126 AEUV (ex Art. 104 EGV) können auf unionsrechtlicher Ebene direkte Stabilitäts-/Defizitvorgaben für den nationalen Gesetzgeber aufgestellt werden. Ferner haben die europäische Integration und die Verwirklichung des Binnenmarktes den Bezugsrahmen für das „gesamtwirtschaftliche“ Gleichgewicht deutlich erweitert. Diese neue Bezugsordnung (in Abkehr von der klassischen „Volkswirtschaft“) hat sich bei der 4 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl. Jg. 2006, Teil I Nr. 41, S. 2034. 5 57. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Juli 2009, BGBl. Jg. 2009, Teil I Nr. 48, S. 2248. 6 Zu den Verflechtungen und Funktionen des Art. 109 GG im Rahmen der grundgesetzlichen Binnensystematik vgl. etwa: Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 1 ff. 7 Die Unterzeichnung durch den Europäischen Rat erfolgte am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht. 8 Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 7; Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 8; Art. 109 Abs. 2 GG wohnt über die Verweisung in Halbsatz 1 und den unbestimmten Rechtsbegriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Halbsatz 2 auch bereits strukturell bedingt eine erhöhte Entwicklungsdynamik inne, vgl. dazu den ähnlichen Befund bei Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 99; auch BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1410 a.E. f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 6 Verknüpfung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts mit den Verpflichtungen aus Art. 126 AEUV im Zuge der Förderalismusreform II (s.o.) auch explizit im Wortlaut des Art. 109 Abs. 2 GG („in diesem Rahmen“) niedergeschlagen.9 Die Auslegung der Norm hat letztlich auch stets im Lichte der unionsrechtlichen Anforderungen zu erfolgen.10 In Bezug auf die o.g. Teilziele des „magischen Vierecks“ ist noch konkret dasjenige der Stabilität des Preisniveaus hervorzuheben. In diesem Punkt ist die europäische Integration im Rahmen der EWWU besonders weit vorangeschritten, da die Gewährleistung der Preisniveaustabilität im Euro-Raum nunmehr in den Aufgabenbereich der – von den Mitgliedsstaaten und den sonstigen EU-Organen unabhängigen (vgl. Art. 282 Abs. 3 AEUV) – Europäischen Zentralbank (EZB) fällt (Art. 282 Abs. 2 S. 2 AEUV), die dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) verantwortlich vorsteht (Art. 282 Abs. 2 S. 1 AEUV).11 Schließlich wird die Wirtschaftspolitik der Euro- Mitgliedsstaaten in vielen Aspekten im Rahmen der Euro-Gruppe (vgl. Art. 137 AEUV i.V.m. dem „Protokoll betreffend die Euro-Gruppe“ vom 13. Dezember 200712) gemeinsam koordiniert. 2.3. Normadressaten des Art 109 Abs. 2 GG Art. 109 Abs. 2 GG nimmt den Bund und die Länder, nicht dagegen (direkt) die Gemeinden und anderen rechtlich selbstständigen Einrichtungen in die Pflicht.13 Da das Grundgesetz nur eine allgemeine Verpflichtung ausspricht, jedoch keine näheren Vorgaben zu der Aufteilung der Gesamtverantwortung macht, sind die Verpflichteten zur Abstimmung und Koordination angehalten.14 9 Reimer in: Beck’scher Online-Kommentar GG (Hrsg.: Epping/Hillgruber), Stand 01.12.2014 (Edition 23), Art. 109 Rn. 36; Henneke in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 90. 10 Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 10; Heintzen in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar Band 2, 6. Aufl. 2012, Art. 109 Rn. 20. 11 Es bleibt hier auch abzuwarten, inwieweit sich der v.a. infolge der Geldpolitik der EZB stark gefallene EURO- Wechselkurs „exporttreibend“ auswirkt, zumal mittlerweile der überwiegende Teil der deutschen Exporte (etwa 63,5% im Jahr 2014, vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/158303/umfrage/deutsche-exporte-undimporte -2010-nach-laendergruppen/ - Statistik abgerufen am 30.03.2015) in Nicht-Euro-Länder geht. 12 ABl. Nr. C 306 S. 153 (Celex-Nr. 1 2007 L/PRO/A/03); abrufbar unter: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata %2Fges%2FEUEuroProt2009%2Fcont%2FEUEuroProt2009%2Ehtm (abgerufen am: 25.03.2015). 13 Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 5; Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 69 f. 14 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 68. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 7 3. Die Leistungsbilanzüberschüsse der BRD mit Blick auf den heutigen Regelungsgehalt des Art. 109 Abs. 2 GG und die Reichweite der hieraus erwachsenden Verpflichtungen 3.1. Exkurs: Überblick zu den Ursachen des überschießenden deutschen Leistungsbilanzsaldos ausweislich des „Gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren“ der EU (im Anhang) Als Anhang (s.u. Punkt 5.) zu der vorliegenden Ausarbeitung findet sich eine (geraffte) Darstellung zu den Ursachen der anhaltenden Außenhandelsüberschüsse15. Diese soll ergänzend dem Gesamtverständnis dienen und es erleichtern, die Berührungspunkte zwischen den wirtschaftlichen und politischen Hintergründen dieses Phänomens und den rechtlichen Vorgaben des Art. 109 Abs. 2 GG zu erkennen. 3.2. Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG: Verpflichtungen mit Blick auf die Rechtsakte der EU auf Grundlage des Art. 126 AEUV (ex Art. 104 EGV) Die Ausführungen zu Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG sollen kurz gehalten werden, da die Verpflichtungen für die Bundesrepublik Deutschland aus den Rechtsakten der EU, die auf Grundlage des Art. 126 AEUV erlassen wurden, keinen direkten Bezug zu Fragen der Außenhandelsbilanz aufweisen . Aufgrund der engen rechtlichen und wirtschaftlichen Verwobenheit mit den Pflichten in Bezug auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, erscheint eine knappe Darstellung aber gleichwohl sinnvoll. Dem Wortlaut der Regelung (indikativische Formulierung: „Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen…“) gemäß, statuiert Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG ein verbindliches, aber nicht abwägungsfreies Gebot, gerichtet an die Normadressaten.16 Dabei verweist die Bestimmung auf Art. 126 AEUV17, welcher gemeinsam mit dem sog. Defizitverfahren-Protokoll18 (DefizitVf- Prot) und den dazu ergangenen sekundärrechtlichen Durchführungsverordnungen Stabilitätskriterien festschreibt, um zu gewährleisten, dass übermäßige Defizite der öffentlichen Haushalte vermieden und eine einheitliche Haushaltsdisziplin erreicht werden (zusammengefasst als Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt). Als Referenzwerte i.S.v. Art. 126 Abs. 2 AEUV gibt Art. 1 des DefizitVfProt ein maximales jährliches Haushaltsdefizit von 3% im Verhältnis zu dem Bruttoinlandsprodukt (BIP), sowie einen maximalen öffentlichen Schuldenstand von 60 % im 15 Vgl. zu Entwicklung, sowie aktueller Ausprägung und Zusammensetzung des deutschen Leistungsbilanzsaldos die Unterrichtung der Bundesregierung „Nationales Reformprogramm 2014“, BT-Drucksache 18/1107, S. 8 ff. 16 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 75. 17 Zur dynamischen Lesart der Verweisung Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 74; ähnlich Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 36 f. 18 Titel: „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ vom 7. Februar 1992, ABl. Nr. C 191 S. 84 (Celex-Nr. 1 1992 M/PRO/DE/00) in der zuletzt 2007 geänderten Fassung (ABl. Nr. C 306 S. 165). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 8 Verhältnis zum BIP vor. Mittelfristige Zielvorgabe sollen (nahezu) ausgeglichene öffentliche Haushalte oder Haushaltsüberschüsse sein.19 Ferner zählt zu den auf Grundlage des Art. 126 AEUV ergangenen Rechtsakten i.S.d. Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG auch der sog. europäische Fiskalpakt vom 02.03.2012.20 Damit nimmt Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG ausschließlich Bezug auf unionsrechtliche Vorschriften, welche das Ziel verfolgen, die Mitgliedstaaten auf eine disziplinierte Haushaltspolitik zu verpflichten . Zu den Leistungsbilanzen der Mitgliedsstaaten – gleich ob defizitär oder überschießend – finden sich in diesen Bestimmungen dagegen keine Regelungen. Eine gewisse Wechselwirkung zwischen Haushaltsdisziplin und der Leistungsbilanz als Teilziel des „magischen Vierecks “ besteht allerdings insofern, als eine strenge Haushaltsdisziplin den finanziellen Spielraum des Staates für dessen (antizyklische) kreditfinanzierte Ausgabenpolitik oder etwaige Binnenmarktstimulations -/Investitionsprogramme einschränkt. Diese oder ähnliche Maßnahmen des Austarierens21 des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts stehen damit auch stets unter dem Vorbehalt vorhandener fiskalischer Handlungsspielräume (Wortlaut des Art. 109 Abs. 2 GG: „in diesem Rahmen“). 3.3. Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG: Verpflichtungen mit Blick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Im Gegensatz zu Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG erfasst Halbsatz 2 der Norm über den unbestimmten Rechtsbegriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch das Teilziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts (s.o. Punkt 1.1).22 Es stellt sich im Anschluss die Frage, mit welcher Intensität Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG den Gesetzgeber auf die Erreichung dieses Teilziels verpflichtet. Dogmatisch wird das in Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG aufgegriffene gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht verbreitet als Staatszielbestimmung eingeordnet.23 Hieraus folgt nicht etwa bloß ein „Pro- 19 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 76 mit weiteren Einzelheiten (auch zu föderal bedingten Transformationsfragen). 20 Titel des Gesamtvertragswerks: „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (SKS-Vertrag), abrufbar unter: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata %2Fges%2FSKSV%2Fcont%2FSKSV%2Einh%2Ehtm (abgerufen am: 30.03.2015); ausführlich zu den Inhalten Henneke in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 47 ff. 21 Vgl. etwa IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 115 ff. 22 Eingehend zu begrifflichen Unschärfen, möglichen Interpretationen und geforderten Erweiterungen Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 44 ff. 23 Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 14 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 9 grammsatz“, sondern eine echte verfassungsrechtliche Verpflichtung der hoheitlichen Normadressaten 24; diese ist jedoch inhaltlich denkbar schwach ausgestaltet.25 Zum einen hat der verfassungsändernde Gesetzgeber bewusst den unbestimmten Rechtsbegriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Grundgesetz selbst nicht näher konkretisiert26 und zum anderen soll er dieses gemäß Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG auch nicht etwa „anstreben“ oder gar „verwirklichen“, sondern dessen „Erfordernissen Rechnung tragen“. Diese Formulierung impliziert bereits eine Beurteilungsentscheidung des Gesetzgebers.27 Dabei stehen die vier Teilziele des „magischen Vierecks“ zunächst gleichwertig nebeneinander, sind also bei der haushalts- und finanzpolitischen Planung nach Möglichkeit gleichgewichtet zu berücksichtigen.28 Allerdings ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht stets labil und verschiebt sich zwangsläufig schon deshalb laufend, weil die einzelnen Teilziele einander teilweise in ihrer Erreichung zuwiderlaufen.29 So spricht etwa das Bundesverfassungsverfassungsgericht von der Zielsetzung einer „relativ-optimalen Gleichgewichtslage in der Realisierung der Teilziele“30. Dementsprechend ist der Gesetzgeber zu einer laufenden Beobachtung und Bewertung angehalten und soll im Sinne einer gefährdungsabhängigen Hierarchie immer dasjenige Teilziel vorrangig fördern, das zum jeweiligen Zeitpunkt am wenigsten verwirklicht ist.31 Aufgrund der Komplexität dieser Aufgabe – bei deren Erfüllung auch die unionsrechtlichen Maßgaben i.S.v. Art. 109 Abs. 2, 1. HS. GG einzubeziehen sind (s.o.) – und angesichts des Mangels konkreter Handlungsdirektiven, die direkt aus dem Grundgesetz abgeleitet werden könnten, besteht allseits Einigkeit darüber, dass dem Gesetzgeber bei der Erfüllung der Verpflichtung aus 24 Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 26; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 63; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43; Reimer in: Beck’scher Online-Kommentar GG (Hrsg.: Epping/Hillgruber ), Stand 01.12.2014 (Edition 23), Art. 109 Rn. 37; davon ausgehend, dass Halbsatz 2 gegenüber Halbsatz 1 keine eigenständige Verpflichtungswirkung mehr zukomme, dagegen Henneke in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann /Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 94. 25 Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43. 26 Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 27 m.w.N.; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 42. 27 Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 54 f.; Jarass in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 5; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43. 28 Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 27. 29 BVerfG NJW 1989, 2457 (2460); Reimer in: Beck’scher Online-Kommentar GG (Hrsg.: Epping/Hillgruber), Stand 01.12.2014 (Edition 23), Art. 109 Rn. 37; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 42. 30 BVerfG NJW 1989, 2457 (2460). 31 Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 42. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 10 Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG ein (denkbar) weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zukommt .32 Der Gesetzgeber ist demnach angehalten, die Belange des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in seine haushalts- und finanzpolitische Planung einzubeziehen (Beobachtungs- und Berücksichtigungspflichten 33), er darf diese also nicht gänzlich übergehen oder Maßnahmen ergreifen, die allen vier Teilzielen erkennbar zuwiderliefen (z.B. eine kreditfinanzierte prozyklische Konjunkturpolitik 34). Im Übrigen unterliegt der Gesetzgeber keinen weiterreichenden verfassungsrechtlichen Handlungsgeboten. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers auf die Vornahme bestimmter finanzpolitischer Maßnahmen – etwa solche mit dem Ziel, die anhaltenden Leistungsbilanzüberschüsse abzuschmelzen – kann aus Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG daher nicht abgeleitet werden.35 3.4. Justiziabilität und verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bezogen auf die Verpflichtungen aus Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG („gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“) Die Regelungen der Finanzverfassung sind grundsätzlich justiziabel. Dementsprechend ist der Weg zu einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle auch für den Fall eröffnet, dass ein Verstoß gegen die Pflichten aus Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG, betreffend die Belange des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, befürchtet wird.36 Als mögliche Verfahrensarten kommen die kontradiktorischen Verfahren des Organ- und des Bund-Länder-Streits (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerf GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 68 ff. BVerfGG), sowie Normenkontrollverfahren (v.a. abstrakte , Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 2a GG, §§ 76 ff. BVerfGG) in Betracht37; bei letzteren insbesondere solche , die sich gegen ein Haushaltsgesetz richten38. Dabei stellt Art. 109 Abs. 2 GG ausschließlich 32 BVerfG NJW 1989, 2457 (2461); BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1411); Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar , 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 31; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 62; Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 109; Reimer in: Beck’scher Online-Kommentar GG (Hrsg.: Epping/Hillgruber), Stand 01.12.2014 (Edition 23), Art. 109 Rn. 38. 33 Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 72; ähnlich Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43; Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar , 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 31 f.; Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 11. 34 Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 43; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43. 35 Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 60 ff.; Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 30; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43 ff. 36 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 109; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 70 ff.; Heintzen in: von Münch/Kunig , Grundgesetz Kommentar Band 2, 6. Aufl. 2012, Art. 109 Rn. 10. 37 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 112. 38 So bei BVerfG NJW 1989, 2457 und BVerfG NVwZ 2007, 1405. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 11 objektiv verfassungsrechtliche Anforderungen, begründet also durch keinen seiner Halbsätze subjektive öffentliche Rechte zugunsten des Bürgers oder der Privatwirtschaft, sodass eine individuelle Geltendmachung eines staatlichen Verstoßes gegen Art. 109 Abs. 2 GG ausgeschlossen ist.39 Auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte spiegelt sich – unabhängig von der Verfahrensart – die dem Gesetzgeber zugebilligte weite Einschätzungsprärogative sowie der ihm zugestandene Abwägungsspielraum in einer (stark) begrenzten gerichtlichen Überprüfungsbefugnis wider.40 Dieser nicht überprüfbare Raum umfasst sowohl die tatbestandliche Frage, inwiefern eine Störung des Gleichgewichts zu diagnostizieren ist, als auch die Auswahl der als tauglich erachteten Gegenmaßnahmen.41 Justiziabel sind dementsprechend die oben genannten Beobachtungs - und Berücksichtigungspflichten, wobei die Kontrolle wegen des hohen Grades an begrifflicher Unschärfe in Bezug auf das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ (s.o. Fn. 21) weniger inhalts -/ergebnisorientiert, sondern hauptsächlich verfahrensbezogen erfolgt.42 Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich dementsprechend vorrangig auf die Frage, ob der Gesetzgeber die Belange des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bei der Entscheidungsfindung zu Maßnahmen der Haushalts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik43 überhaupt berücksichtigt hat und ob er sie in nachvollziehbarer, schlüssiger Weise in den Abwägungsprozess hat einfließen lassen (Vertretbarkeitskontrolle ).44 Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang in zwei Verfahren mit den aus Art. 109 Abs. 2 GG erwachsenden Verpflichtungen befasst45, wobei es jeweils um die Begrenzung der Staatsverschuldung im Zuge der Haushaltsplanung ging. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Verpflichtungen für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht stets ausdrücklich betont, dass 39 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 72, 92, 112. 40 Von einer „zurückgenommenen Justiziabilität“ spricht etwa Reimer in: Beck’scher Online-Kommentar GG (Hrsg.: Epping/Hillgruber), Stand 01.12.2014 (Edition 23), Art. 109 Rn. 38; ähnlich Henneke in: Schmidt-Bleibtreu /Hofmann/Henneke, GG Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 91; Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz- Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 109; Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 11. 41 BVerfG NJW 1989, 2457 (2461); BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1411 f.). 42 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 109 f.; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 68, 70, 72; dagegen deutlich weiter nur von einer „Bindung an äußerste Willkürgrenzen“ ausgehend Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar , 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 31; das BVerfG sieht in dieser Verlagerung auf „formell-verfahrensmäßige Anforderungen“ letztlich einen Ausgleich für „die Unbestimmtheit des materiellen Maßstabs“ BVerfG NJW 1989, 2457 (2461). 43 Vgl. zur Reichweite der Verpflichtung aus Art. 109 Abs. 2, 2. HS GG Heun in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar , 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 109 Rn. 32. 44 Kube in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 109 Rn. 110; Kirchhof in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 109 Rn. 54 f., 68 ff.; Siekmann in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 109 Rn. 43. 45 BVerfGE 79, 311 = NJW 1989, 2457; BVerfGE 119, 96 = NVwZ 2007, 1405. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 12 durch die Verfassungsgerichtsbarkeit der „Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren“ sei.46 Mit diesem Spielraum gehe in förmlicher Hinsicht korrespondierend die Darlegungslast einher, welche den Gesetzgeber im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens treffe.47 Dem Bundesverfassungsgericht falle dann im Streitfall die Aufgabe zu, zu prüfen und zu entscheiden, „ob die im Gesetzgebungsverfahren dargelegte Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar ist“48. Inhaltlich-programmatische und vor allem auch prognostisch geprägte Bewertungen, die über eine solche Schlüssigkeits- und Vertretbarkeitsprüfung hinausgehen, ordnet das Bundesverfassungsgericht einzig dem Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Gesetzgebers zu.49 4. Fazit Über die an Bund und Länder gerichtete Verpflichtung, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, nimmt Art. 109 Abs. 2, 2. HS. GG als eines von vier darunter gefassten Teilzielen auch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht, also eine ausgeglichene Leistungsbilanz in den Blick. Die Norm ist dabei mittlerweile stark durch europarechtliche Einflüsse überlagert und geprägt und im Lichte des Unionsrechts auszulegen. Das Gleichgewichtsgebot trägt den Rechtscharakter einer Staatszielbestimmung, die für die Normadressaten verbindliche Rechtspflichten erzeugt. Allerdings steht den Verpflichteten bei der Erfüllung des hieraus folgenden Verfassungsauftrags – insbesondere im Rahmen der (Haushalts-)Gesetzgebung – ein weitreichender Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der verfassungsgerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbar ist. Der gerichtlichen Kontrolle unterliegen im Streitfall nur die Beobachtungs- und Berücksichtigungspflichten, die den Verpflichteten im Zuge seines Entscheidungsprozesses treffen. In die Abwägung mit der Zielsetzung einer angestrebten haushalts-, wirtschafts- oder finanzpolitischen Maßnahme sind die prognostizierten Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sachgerecht einzustellen. Dabei getroffene Beurteilungen und Einschätzungen des Gesetzgebers können gerichtlich aber lediglich auf ihre Schlüssigkeit und Vertretbarkeit überprüft werden. Insbesondere ist es nicht möglich, gestützt auf Art. 109 Abs. 2 GG die Vornahme bestimmter gesetzgeberischer Maßnahmen gerichtlich zu erzwingen. 46 BVerfG NJW 1989, 2457 (Leitsatz 5; näher auf S. 2460); BVerfG NVwZ 2007, 1405 (Leitsatz 3 – in Bestätigung der vorgenannten Entscheidung, näher auf S. 1412). 47 BVerfG NJW 1989, 2457 (2461); BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1411). 48 BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1411); nahezu gleichlautend bereits BVerfG NJW 1989, 2457 (2461). 49 Vgl. BVerfG NJW 1989, 2457 (2461); BVerfG NVwZ 2007, 1405 (1411 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 13 5. Anhang: Überblick zu den Ursachen des überschießenden deutschen Leistungsbilanzsaldos ausweislich des „Gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren“ der EU Als Teil eines sechsgliedrigen europäischen Gesetzgebungsbündels (sog. Sixpack) wurde 2011 das Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte („Macroeconomic Imbalance Procedure“, MIP) eingeführt.50 Dieses soll zum einen dazu beitragen, gesamtwirtschaftliche Fehlentwicklungen, welche die Funktionsfähigkeit der Europäischen Wirtschafts - und Währungsunion beeinträchtigen können, frühzeitig zu erkennen und zum anderen mögliche Korrekturmaßnahmen aufzeigen und anregen. Zu denjenigen Mitgliedsstaaten, bei denen der sog. Warnmechanismusbericht (WMB) den Verdacht auf ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht nahelegt, führt die EU-Kommission eine vertiefte Länderanalyse („In-Depth-Review “, IDR) mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung durch. Betreffend die Bundesrepublik Deutschland hat die EU-Kommission zuletzt am 05. März 2014 einen IDR-Bericht veröffentlicht, welcher sich intensiv mit den Ursachen und der Einordnung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses befasst.51 Bei der Ursachenbetrachtung für den anhaltenden hohen Leistungsüberhang hat die EU-Kommission ein Zusammenspiel vieler Faktoren ausgemacht, die Entwicklungen in Deutschland selbst, in der Welt und bei den anderen Euro-Partnerländern betreffen. In der genaueren Betrachtung steht letztlich die deutsche Exportstärke im Ungleichgewicht zu binnenwirtschaftlichen Entwicklungen52: Ursachen der deutschen Exportstärke53: o hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich (bezogen auf Preis- und Qualitätswettbewerb) o traditionell starke Exportorientierung deutscher Hersteller o gute Einbindung deutscher Unternehmen in globale Wertschöpfungsketten 50 Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte; Verordnung (EU) Nr. 1174/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet. 51 Bericht der Europäischen Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen: „Makroökonomische Ungleichgewichte - Deutschland 2014“ (auf Deutsch) abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications /occasional_paper/2014/pdf/swd_174.pdf (abgerufen am 26.03.2015); s. auch die Zusammenfassung in der Unterrichtung der Bundesregierung „Nationales Reformprogramm 2014“, BT-Drucksache 18/1107, S. 8 ff. 52 IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), Ergebnisse zusammengefasst auf S. 11 ff. 53 Vgl. IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 11, im Einzelnen S. 103 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 14 Binnenwirtschaftliche Faktoren in unerwünschter Ausprägung54: o zurückhaltender privater Verbrauch deutscher Haushalte (gedämpfte Binnennachfrage ); gleichzeitig hohe Sparquote (u.a. für die Altersvorsorge) o rückläufige Inlandsinvestitionen deutscher Unternehmen; zudem großer Zuwachs bei den Unternehmensersparnissen o niedrige Investitionsquote im öffentlichen Sektor (Investitionslücke) o Fehlallokation von Kapital durch verstärkte Fokussierung deutscher Banken auf Auslandsinvestitionen Die EU-Kommission wählt dabei nicht die starke deutsche Ausfuhrleistung – welche sie für „wünschenswert“ erachtet55 –, sondern die binnenwirtschaftliche Entwicklung als Problemansatz . Letztlich sei dabei die Ausweitung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses „vorwiegend dem privaten Sektor zuzuschreiben“56. Als Hauptgrund der fehlerhaften binnenwirtschaftlichen Entwicklung wird also das Verbrauchs- und Investitionsverhalten der deutschen Privathaushalte und Unternehmen angesehen.57 Dessen Entwicklung sei zwar nicht ausschließlich politikbedingt, könne aber gleichwohl durch politische Maßnahmen beeinflusst werden. Entsprechend sieht die EU-Kommission die Stärkung der Binnennachfrage als zentrale politische Herausforderung an.58 Gleichzeitig könne das aktuelle Niedrigzinsumfeld für öffentliche „Investitionen in solide zukunftsorientierte Projekte“ genutzt werden.59 Die EU-Kommission kommt letztlich allerdings weder zu dem Ergebnis, dass das festgestellte Ungleichgewicht „übermäßig“ ausgeprägt wäre, noch zu dem Schluss, dass es Anlass für eine vertiefte Überwachung böte.60 Schließlich weist die Kommission in ihrem Bericht aber auch darauf hin, dass die anhaltenden hohen Leistungsbilanzüberschüsse zu einem erheblichen Teil mit den herkömmlichen analytischen Modellen schlicht nicht zu erklären seien.61 Insofern scheint in der Makroökonomie noch 54 Vgl. IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 11 ff., im Einzelnen S. 28 ff. 55 IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 103 ff. 56 IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 11 und in der genaueren Analyse S. 28 ff. 57 Vgl. IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 13, 28 ff., 115. 58 IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 13 f., 115 ff. 59 Vgl. IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 14. 60 Vgl. Unterrichtung der Bundesregierung „Nationales Reformprogramm 2014“, BT-Drucksache 18/1107, S. 8 (Nr. 16). 61 Vgl. IDR-Bericht der EU-Kommission (s. Fn. 14), S. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 4 - 3000 - 040/15 Seite 15 weitergehender Forschungsbedarf zu bestehen. Die Ergebnisse der bisherigen Analysen sollten daher auch unter einem gewissen Vorbehalt betrachtet werden. Die Bunderegierung hat mitgeteilt, die Einschätzung der EU-Kommission zu den zentralen politischen Herausforderungen – also der Stärkung der Binnennachfrage und Verbesserung des inländischen Investitionsklimas – zu teilen. Erste Maßnahmen zu einer Kräftigung der binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte seien bereits getroffen worden (z.B. die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns) oder stünden zeitnah an (deutliche Stärkung der öffentlichen Investitionsbemühungen ).62 Nachdem die Planungen der vergangenen Haushaltsjahre von dem Bemühen geprägt waren, absehbar einen Bundeshaushalt vorzulegen, der ohne Nettokreditaufnahme auskommt 63, sollen die für die kommenden Haushaltsjahre prognostizierten fiskalischen Spielräume vorrangig für „zukunftsorientierte Investitionen, insbesondere in den Bereichen öffentliche Verkehrsinfrastruktur , digitale Infrastruktur, Energieeffizienz, Klimaschutz, Hochwasserschutz und Städtebau“ genutzt werden. Daneben sollen die Ausgaben für die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA-Mittel) erhöht und zusätzliche Mittel zur Förderung und Entlastung der (finanzschwachen ) Kommunen zur Verfügung gestellt werden.64 Ferner will sich Deutschland über die KFW-Bank an dem Investitionsprogramm EFSI (Europäischer Fonds für strategische Investitionen ) der EU-Kommission65 beteiligen.66 Damit befinden sich bereits einige Handlungsempfehlungen der EU-Kommission im Hinblick auf die Ausbalancierung des überschießenden deutschen Leistungsbilanzsaldos in der politischen Umsetzung. 62 Unterrichtung der Bundesregierung „Nationales Reformprogramm 2014“, BT-Drucksache 18/1107, S. 14 f. (Nr. 42 ff.). 63 Vgl. etwa den Monatsbericht Januar 2015 des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 30.01.2015 („Haushaltsabschluss 2014“), abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte /2015/01/monatsbericht-01-2015.html (abgerufen am: 30.03.2015). 64 Pressemitteilung Nr. 13/2015 des BMF vom 18.03.2015, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium .de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2015/03/2015-03-18-PM13-bundeshaushalt-eckwerte .html (abgerufen am: 30.03.2015); Monatsbericht März 2015 des BMF vom 24.03.2015 („Entwurf eines Nachtragshaushalts 2015 und die Haushaltseckwerte für die Jahre 2016 bis 2019“), abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2015/03/monatsbericht-03-2015.html (abgerufen am: 30.03.2015). 65 Vgl. die Pressemitteilung der EU-Kommission vom 26.11.2014, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/deutschland /press/pr_releases/12897_de.htm (abgerufen am 30.03.2015). 66 Artikel der Bunderegierung vom 09.12.2014, abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel /2014/11/2014-11-26-eu-und-die-zukunft.html (abgerufen am 30.03.2015); s. auch http://www.tagesschau .de/wirtschaft/juncker-investitionsplan-101.html (Artikel vom 10.03.2015; abgerufen am: 30.03.2015).