© 2019 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 – 021/19 Implizite Verschuldung und fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 2 Implizite Verschuldung und fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte Aktenzeichen: WD 4 - 3000 – 021/19 Abschluss der Arbeit: 26. Februar 2019 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Überblick zur impliziten Verschuldung 4 2.1. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 4 2.2. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 6 2.3. Stiftung Marktwirtschaft 7 2.4. Bundesregierung 9 2.5. Europäische Union 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 4 1. Fragestellung Der Auftraggeber bittet um Informationen zur impliziten Verschuldung in Deutschland. Soweit verfügbar, soll neben den aktuellen Schuldenständen ein 10-Jahreszeitraum betrachtet werden. 2. Überblick zur impliziten Verschuldung Die im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorgegebenen Beschränkungen für die öffentlichen Haushalte beziehen sich einerseits auf das Finanzierungsdefizit sowie andererseits auf den Schuldenstand. Die Maastricht-Kriterien erlauben damit lediglich eine vergangenheitsorientierte Beurteilung auf Basis einer Momentaufnahme. Unter dem Begriff der ‚Nachhaltigkeitslücke ‘ werden dagegen Konzepte erörtert, die durch Berücksichtigung impliziter Schulden insbesondere die Auswirkungen der demografischen Entwicklung berücksichtigen und damit ein umfassenderes und auf zukünftige Entwicklungen ausgerichtetes Bild über den Zustand der öffentlichen Finanzen vermitteln sollen.1 In den vergangenen Jahren sind in unterschiedlichen Veröffentlichungen Aussagen zur Höhe der impliziten Verschuldung der öffentlichen Finanzen getroffen worden. Die Untersuchungen beziehen sich zumeist auf ein Basisjahr und weisen keine Zeitreihen auf. Lediglich die von der Stiftung Marktwirtschaft in Auftrag gegebene „Bilanz des ehrbaren Staates“ bietet einen zwölf Aktualisierungen umfassenden Betrachtungshorizont. 2.1. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hatte frühzeitig die Frage der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen aufgegriffen und im Jahresgutachten 2003 die öffentlichen Haushalte dann als tragfähig definiert, „wenn die gegenwärtig und die auf der Grundlage des geltenden Rechts fortgeschriebenen zukünftig erzielten staatlichen Einnahmen ausreichen, um sämtliche staatliche Zahlungs- und andere Ausgabenverpflichtungen abzudecken.“2 Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte seien neben den expliziten staatlichen Schulden auch die impliziten Staatsschulden einzubeziehen, die etwa aus der Gesetzlichen Rentenversicherung oder den Pensionsansprüchen der Beamten resultierten. In einer umfangreichen Expertise zur demografischen Entwicklung in Deutschland aus dem Jahre 2011 hat der Sachverständigenrat die Thematik erneut aufgegriffen und eingehend die Bezugspunkte der impliziten Verschuldung und der Tragfähigkeitslücke dargelegt.3 1 Moog/Raffelhüschen, Explizite und implizite Staatsverschuldung in Europa: eine Tragfähigkeitsanalyse, in: ZSE Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 2012, S. 280. 2 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2003/04, Ziffer 439. https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/03_ges.pdf. 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; Herausforderungen des demografischen Wandels; Wiesbaden Mai 2011; Ziffern 271 ff. https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft .de/fileadmin/dateiablage/Expertisen/2011/expertise_2011-demografischer-wandel.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 5 Ausgangspunkt der Darstellung des Sachverständigenrates ist der sich abzeichnende demografische Wandel. Vor diesem Hintergrund stehe der öffentliche Haushalt zum einen den explizit ausgewiesenen Schulden sowie zum anderen zusätzlich umfassenden Zahlungsverpflichtungen aus den sozialen Sicherungssystemen gegenüber, deren Deckung nicht vollständig durch Beitragszahlungen gesichert sei. Unter dem Stichwort „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ sei daher die Frage zu diskutieren, wie hoch diese implizite Verschuldung ausfallen könne und welche Begrenzungen sachgerecht seien. Der Sachverständigenrat merkt an, dass für die Höhe eines maximal tragfähigen Schuldenstands keine einheitliche, allgemein anerkannte Berechnungsmethode bestehe:4 „Zur Veranschaulichung von Tragfähigkeitslücken sind in der Literatur mehrere Kennzahlen entwickelt worden, die in der Mehrzahl die Differenz zwischen projizierten Einnahme- und Ausgabenpfaden und einer Situation berechnen, die die intertemporale Budgetrestriktion erfüllen (…). Der Unterschied zwischen diesen Kennzahlen besteht im Wesentlichen darin, dass die Differenz entweder als periodische Stromgröße oder als einmalige Bestandsgröße erfasst wird. So basieren Berechnungen der Europäischen Kommission beispielsweise auf der erforderlichen dauerhaften Erhöhung der Quote des Primärsaldos (S 2 Indikator) und damit auf einer Stromgröße (…). Häufig werden Tragfähigkeitslücken aber auch als Barwert der erforderlichen Erhöhungen der Primärsalden ausgedrückt, woraus dann ein impliziter Schuldenstand, also eine Bestandsgröße, abgeleitet werden kann.“5 Der Sachverständigenrat hält mit ausführlicher Begründung dafür, dass die Darstellung von Tragfähigkeitslücken als Stromgröße besser zur Veranschaulichung geeignet sei als der implizite Schuldenstand.6 Im Ergebnis kommt der Sachverständigenrat im Jahr 2011 zu der Aussage, dass eine langfristige Tragfähigkeitslücke von 3,1 v. H. in Relation zum Bruttoinlandsprodukt bestehe .7 Um diesen Wert müssten die Primärsalden sofort und dauerhaft erhöht werden, um eine langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte herzustellen.8 Auch hinsichtlich der Höhe der impliziten Verschuldung trifft der Sachverständigenrat in seiner Expertise Aussagen. Danach ergebe sich unter dem vom Rat angenommenen Basisszenario für das Jahr 2011 ein impliziter Schuldenstand von 159,3 v. H. bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt .9 „Um den Anteil der Sozialversicherungen an der Tragfähigkeitslücke zu veranschaulichen, kann die Berechnung impliziter Schuldenstände der einzelnen Sozialversicherungen erfolgen. Dazu werden die Ausgaben und Beitragseinnahmen jeder Sozialversicherung gegenübergestellt, 4 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 271. 5 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 275. 6 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 279. 7 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 289; Die Modellbeschreibung, deren Annahme und Ergebnisse sind in den folgenden Ziffern der SVR-Expertise im Detail dargelegt. 8 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 289. 9 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 303. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 6 während die Bundeszuschüsse unberücksichtigt bleiben. So ergibt sich für das Jahr 2010 ein impliziter Schuldenstand für alle Sozialversicherungen von 293,4 v. H. in Relation zum Bruttoinlandsprodukt .“10 aus: Sachverständigenrat, a.a.O., Ziffer 303 2.2. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Die in der 17. Wahlperiode vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Wachstum , Wohlstand, Lebensqualität“ hat in ihrem Abschlussbericht unter Bezug auf die Expertise des Sachverständigenrats Aussagen zur impliziten Verschuldung getroffen. Eine solche lasse sich als „aufaddierte Barwerte künftiger Primärdefizite, das heißt die Summe künftiger Verpflichtungen , die nicht durch künftige Einnahmen gedeckt sind, ausgedrückt in ihrem heutigen Wert“11, beschreiben. Für das Jahr 2011 hat die Kommission den vom Sachverständigenrat ermittelten Wert des impliziten Schuldenstands der öffentlichen Haushalte mit 159,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übernommen. 10 Sachverständigenrat (2011), a.a.O., Ziffer 303. 11 Deutscher Bundestag; Schlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“; Drs. 17/13300, S. 585, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/133/1713300.pdf. 50 100 150 200 250 0 vH 50 100 150 200 250 0 vH Staatliche Haushalte insgesamt Gesetzliche Rentenversicherung Gesetzliche Krankenversicherung Soziale Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung Projektion der impliziten Staatsverschuldung und Anteile der Sozialversicherungszweige In Relation zum Bruttoinlandsprodukt © Sachverständigenrat Schaubild 51 1) igene BerechnungE en.– 2) Werding (2011). 1) 2) 2) 2) 2) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 7 Auch hinsichtlich des impliziten Schuldenstands der Sozialversicherungen hat sich die Kommission der Darstellung des Sachverständigenrates angeschlossen und diesen - ohne Berücksichtigung der politisch gewollten Bundeszuschüsse - im Jahr 2010 mit 293,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beziffert. Davon entfielen 208,7 Prozentpunkte auf die gesetzliche Rentenversicherung und 74,1 Prozentpunkte auf die gesetzliche Krankenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung erreiche einen Umfang von 8,2 Prozentpunkten und die Pflegeversicherung von 2,4 Prozentpunkten .12 Die Summe der impliziten Schulden aller Sozialversicherungen übersteige die gesamte implizite Verschuldung des Staates damit deutlich. Die Kommission gibt hinsichtlich der Interpretation der Daten zu bedenken, „dass der Indikator des impliziten Schuldenstands mit Vorsicht zu interpretieren ist. Im Unterschied zum expliziten Schuldenstand ist er keine feststehende statistische Größe, sondern beinhaltet Annahmen über künftige Entwicklungen und ist somit mit Unwägbarkeiten verbunden. Zudem kann der implizite Schuldenstand mit Hilfe von Reformen wie der Verlängerung der Lebensarbeitszeit oder der Erhöhung des Beitragssatzes für die Rentenversicherung reduziert werden. Auch ist zu berücksichtigen , dass der implizite Schuldenstand stark davon abhängt, welches Zins-Wachstums-Differenzial zugrunde gelegt wird.“13 2.3. Stiftung Marktwirtschaft Die Stiftung Marktwirtschaft hat im vergangenen Jahr die zwölfte Aktualisierung der 2006 begonnenen „Bilanz des ehrbaren Staates“ vorgelegt, in der auf Basis einer Generationenbilanzierung u.a. die implizite Verschuldung berechnet wird.14 Die Autoren erläutern zur Methodik der Analyse, dass es sich bei der Generationenbilanzierung um ein Instrument zur Projektion der langfristigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen handele . Der Generationenbilanzierung lägen Annahmen zur demografischen Entwicklung sowie den wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in der Zukunft zugrunde, auf deren Grundlage sich das zukünftige Missverhältnis zwischen der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der öffentlichen Haushalte ermitteln lasse. „Sofern die zukünftigen Ausgaben die zukünftigen Einnahmen übersteigen, wird von einer impliziten Staatsverschuldung gesprochen. Sie spiegelt das Ausmaß wider, um das die explizite Staatsverschuldung rechnerisch zukünftig noch zunehmen wird, wenn die heutige Politik auf Dauer fortgeführt wird. Neben der Berücksichtigung der impliziten Schuldenlast kann mittels der Generationenbilanzierung sowohl für die heute lebenden als auch die zukünftigen Generationen jeweils der Betrag ermittelt werden, mit dem diese zu den künftigen Einnahmen und Ausgaben des Staates beitragen. Daher lassen sich mit Hilfe der Generationenbilanzierung nicht nur fundierte Aussagen über die finanzielle Nachhaltigkeit einer 12 Deutscher Bundestag, a.a.O., S. 585 13 Deutscher Bundestag, a.a.O., S. 585 14 Stiftung Marktwirtschaft (Hrg.), Ehrbarer Staat? Die Generationenbilanz - Update 2018, https://www.stiftungmarktwirtschaft .de/fileadmin/user_upload/Argumente/Argument_142_Generationenbilanz_Update _2018_09.pdf (abgerufen 15.02.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 8 bestimmten Fiskal- und Sozialpolitik, sondern auch über deren intergenerative Verteilungswirkungen treffen.“15 In der im September 2018 vorgelegten Untersuchung wird die implizite Verschuldung mit den nachfolgenden Ergebnissen ausgewiesen, deren Abweichung zu den vom Sachverständigenrat ermittelten Werten in den jeweils abweichenden Modellannahmen zu suchen sein dürfte: aus: Stiftung Marktwirtschaft (Hrg.), a.a.O., S. 10 Zusammenfassend wird in der Studie das Untersuchungsergebnis dahingehend bewertet, „dass sich die fiskalischen Rahmenbedingungen weiter verbessert haben. Sowohl die explizite als auch die implizite Schuld ist gesunken. Kurzfristig wird zumindest weiterhin die „schwarze Null“ erreicht . Im Zeitverlauf lässt sich seit dem Update 2014 ein leichter Trend zur Verringerung der Nachhaltigkeitslücke beobachten (siehe Abbildung 4).“16 15 Stiftung Marktwirtschaft (Hrg.), a.a.O., S. 5. 16 Stiftung Marktwirtschaft (Hrg.), a.a.O., S. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 9 2.4. Bundesregierung Die Bundesregierung hat im Juni 2005 erstmals einen Bericht über die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen herausgegeben.17 Mit der Berichterstattung strebte die Bundesregierung an, die bis dato vorliegenden Tragfähigkeitsberichte für Teilbereiche zu einem umfassenden und systematischen Überblick über die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in Deutschland zusammenzufassen . Im ersten Tragfähigkeitsbericht aus dem Jahre 2005 wird zur Methodik erläutert, dass die Ausgaben und Einnahmen des Staates (Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen) insgesamt betrachtet werden, ohne nach einzelnen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) zu differenzieren.18 Die Berechnungen stützten sich auf Standards, die in zahlreichen Arbeiten der OECD vorgestellt und im Wirtschaftspolitischen Ausschuss der EU für den Einsatz auf Gemeinschaftsebene fortentwickelt worden seien. In den Modellrechnungen würden einzelne Kategorien öffentlicher Ausgaben auf Basis konkreter Annahmen über die demographische und gesamtwirtschaftliche Entwicklung langfristig fortgeschrieben. Explizit werden die öffentlichen Ausgaben in den Bereichen staatliche Alterssicherung (Rentenversicherung, Beamtenversorgung), Gesundheit (Krankenversicherung , Pflegeversicherung) und Bildung sowie langfristige Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt betrachtet. Die Berechnungen werden durch eine Reihe von Sensitivitätsanalysen und Politiksimulationen ergänzt.19 Die Vorgehensweise zur Ermittlung der Tragfähigkeitslücke beschreibt der vierte Bericht wie folgt: „Mit Hilfe methodisch anspruchsvoller Modellrechnungen kann auf der Grundlage demografischer Projektionen die Bandbreite möglicher Entwicklungen zentraler makroökonomischer Größen (Schritt 1) dargestellt werden, die die ökonomischen Hintergrundszenarien für die Budgetprojektionen bilden. Auf Basis der Hintergrundszenarien lassen sich diejenigen öffentlichen Ausgaben identifizieren, deren Umfang und Struktur sich im Zeitablauf systematisch ändert (Schritt 2). Risiken für die öffentlichen Finanzen, soweit diese stark vom demografischen Wandel bestimmt werden, lassen sich so quantitativ eingrenzen. Auf Grundlage der aggregierten Projektionen kann die Tragfähigkeitsanalyse Szenarien für die Entwicklung der öffentlichen Haushalte aufzeigen (Schritt 3). Sogenannte „Tragfähigkeitslücken“ quantifizieren, in welchem Umfang zukünftig aufgrund des demografischen Wandels weitere finanzpolitische Anpassungsmaßnahmen erforderlich sind (Schritt 4).“20 17 Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2005), Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin, Juni 2005, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen /Tragfaehige_Staatsfinanzen/2005-06-17-1-tragfaehigkeitsbericht-anlage.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (abgerufen 15.02.2019). 18 BMF (2005), a.a.O., S. 5. 19 BMF (2005), a.a.O., S. 6, 7. 20 Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2016), Vierter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin, Februar 2016, S. 5, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche _Finanzen/Tragfaehige_Staatsfinanzen/2016-03-04-vierter-tragfaehigkeitsbericht.pdf;jsessionid =7EDB00E4F0287F32CE15A79F3F62EF45?__blob=publicationFile&v=12 (abgerufen 21.02.2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 10 In der nachfolgenden Übersicht werden die in den Tragfähigkeitsberichten der Bundesregierung ermittelten Werte zusammengestellt. Dabei wird die Tragfähigkeitslücke S 2 ausgewiesen, bei der die Feststellung der Tragfähigkeit voraussetzt, dass über einen virtuell unendlichen Zeithorizont alle öffentlichen Ausgaben sowie der Schuldenstand der Ausgangsperiode durch öffentliche Einnahmen gedeckt werden.21 Positive Werte des Indikators S 2 („Tragfähigkeitslücken“) zeigen erforderliche Erhöhung der Primärsalden in Prozent des jährlichen BIP an, die ab dem Ausgangsjahr erforderlich wäre, um auf Dauer alle öffentlichen Ausgaben sowie den Schuldendienst der Ausgangsperiode durch öffentliche Einnahmen zu decken. 22 Höhe der Tragfähigkeitslücke in % des BIP Basisszenario mit Bericht 2005 Bericht 2008 Bericht 2011 Bericht 2016 Variante T-23 1,51 2,4 3,83 3,81 Variante T+ -0,27 0,0 0,89 1,22 Quelle: BMF, Berichte zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen 2005, 2008, 2011, 2016; eig. Darstellung Ausweislich des Vierten Tragfähigkeitsberichts ergibt sich, dass der Primärsaldo ab 2016 in einem Schritt um 1,22 % (T+) bzw. 3,81 % (T-) des BIP korrigiert werden müsste, um die öffentlichen Finanzen entsprechend dem Indikator S 2 tragfähig zu halten. Die sich dann im Zeitverlauf ergebenden Finanzierungssalden reichen beim unterstellten demografischen Profil rechnerisch aus, um Mehrausgaben des demografischen Wandels abzufedern und ab 2060 tragfähige Primärsalden zu realisieren.24 Zu den Ergebnissen der Tragfähigkeitsanalysen im Zeitverlauf wird im aktuellen Tragfähigkeitsbericht ausgeführt, „dass die verwendeten Modellrechnungen nur eingeschränkt vergleichbar sind, da sie auf unterschiedlichen Datenständen und Annahmen beruhen und sich auch Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure verändert haben. Dies wird beispielsweise an der Bevölkerungsentwicklung deutlich, bei der die höhere Migration bereits in den vergangenen Jahren die Ausgangslage spürbar verändert hat und auch zu höheren Erwartungen an künftige Zuwanderungen führt. Demgegenüber beruhten vorangehende Projektionen noch auf dem Bevölkerungsstand 21 Bundesministerium der Finanzen (BMF 2008), Zweiter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin , Juni 2008, S. 33, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche _Finanzen/Tragfaehige_Staatsfinanzen/2008-06-04-2-tragfaehigkeitsbericht-anlage.pdf?__blob=publication- File&v=9 (abgerufen 21.02.2019). 22 BMF 2016, a.a.O., S. 18. 23 Die Varianten T- und T+ stehen für unterschiedliche Szenarien hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung (Lebenserwartung , Geburtenraten und Wanderungssalden); vgl. im Einzelnen BMF 2016, a.a.O., S. 8; Darstellung für 2005 Ausgangsvarianten mit sowie ohne Anpassung der Einnahmenquote. 24 BMF 2016, a.a.O., S. 18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 11 vor dem Zensus und hatten schwächere Zuwanderungserwartungen. Mit Blick auf die Tragfähigkeitslücken ist festzustellen, dass im aktuellen Bericht in Relation zum dritten Bericht u. a. die Effekte des Zensus 2011, die Rentenreform 2014 sowie der nunmehr gewählte Fortschreibungsansatz im Bereich der Pflegeausgaben die Tragfähigkeitslücken vergrößern. Demgegenüber wirken im Wesentlichen die verbesserte Budgetsituation, die günstigere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sowie die Nettozuwanderung der vergangenen Jahre tragfähigkeitsverbessernd. Die Verschuldungsprojektionen im aktuellen Bericht fallen günstiger aus als im Dritten Tragfähigkeitsbericht des Jahres 2011 (Abb.8).“25 Quelle: BMF 2016, a.a.O., S. 20 2.5. Europäische Union Die EU-Kommission analysiert im dreijährigen Rhythmus die fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in den EU-Mitgliedstaaten und quantifiziert erforderliche Budgetkorrekturen in Gestalt von kurz-, mittel- und langfristigen Risiken. Für die langfristige Betrachtung nutzt die EU- Kommission den S 2-Indikator (vgl. Tz 2.4). Danach beläuft sich für Deutschland das von der EU- 25 BMF 2016, a.a.O., S. 20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 021/19 Seite 12 Kommission berechnete Ausmaß der notwendigen jährlichen Anpassung des sogenannten Primärsaldos auf die nachfolgend dargestellten Werte.26 Langfristige Tragfähigkeitslücke S 2 in % des BIP für Deutschland Bericht 2009 Bericht 2012 Bericht 2015 Bericht 2018 Langfristige Tragfähigkeitslücke in % des BIP 4,2 1,4 1,7 1,7 Quelle: Europäische Kommission, Fiscal Sustainability Report 2009, 2012, 2015 und 2018; eig. Darstellung Die Tragfähigkeitslücke wird im aktuellen EU-Tragfähigkeitsbericht 2018 für Deutschland mit Blick auf den langfristigen Indikator S 2 erneut als „low risk“ eingeordnet.27 Deutschland müsste danach den staatlichen Finanzierungssaldo (ohne Zinsausgaben) in einer Größenordnung von 1,7 % des BIP verbessern, um die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu unterstützen . *** 26 Vgl. etwa Europäische Kommission (2018). Fiscal Sustainability Report 2018, European Economy Institutional Paper 094, Brüssel, https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/ip094_en_vol_2.pdf (abgerufen 25.02.2019). 27 Europäische Kommission, a.a.O., Volume 2 . Country Analysis, S. 32.