© 2019 Deutscher Bundestag WD 4 - 3000 – 007/19 Einzelfragen betreffend die Rücklage zur Finanzierung von Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 2 Einzelfragen betreffend die Rücklage zur Finanzierung von Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen Aktenzeichen: WD 4 - 3000 – 007/19 Abschluss der Arbeit: 29. Januar 2019 Fachbereich: WD 4: Haushalt und Finanzen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rücklagenbildung 4 2.1. Haushaltsrechtliche Regelungen zur Verwendung kassenmäßiger Haushaltsüberschüsse 4 2.2. Tilgungsverpflichtung im Rahmen der Neuverschuldungsregelung? 5 2.3. Rücklagenbildung im Lichte des Wirtschaftlichkeitsgebots 5 3. Zur Frage der geplanten Verwendung der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ 6 4. Ergebnis 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 4 1. Fragestellung Vorliegende Fragestellung zielt im Wesentlichen darauf ab, ob die Bildung der Rücklage zur Finanzierung von Belastungen im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen1 in Höhe von 35,2 Mrd. Euro und ihre geplante Verwendung aus verfassungs- bzw. haushaltsrechtlicher Sicht zulässig sind. 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rücklagenbildung 2.1. Haushaltsrechtliche Regelungen zur Verwendung kassenmäßiger Haushaltsüberschüsse Die Möglichkeiten der Verwendung von Haushaltsüberschüssen sind in § 25 Bundeshaushaltsordnung (BHO)2 geregelt. Die Vorschrift knüpft in Abs. 1 an den kassenmäßigen Haushaltsüberschuss an. Ein „echter“ kassenmäßiger Haushaltsüberschuss entspricht gem. § 25 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 4 Nr. 3 BHO dem positiven Finanzierungssaldo, der sich im Rahmen des Haushaltsabschlusses aus der Differenz zwischen den tatsächlichen Einnahmen ohne Einnahmen aus Krediten und den tatsächlichen Ausgaben ergibt.3 Als Verwendungsmöglichkeiten kommen nach § 25 Abs. 2 BHO insbesondere in Betracht: - die Verminderung des Kreditbedarfs in dem der Entstehung des Haushaltsüberschusses folgenden Haushaltsjahr, - die Tilgung von Schulden durch Einstellung in den nächsten festzustellenden Haushaltsplan und - die Zuführung zur Konjunkturausgleichsrücklage gemäß § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft.4 Die Vorschrift in § 25 Abs. 2 BHO ist nicht abschließend. Das Wort „insbesondere“ eröffnet davon abweichende Verwendung des Haushaltsüberschusses z. B. in Gestalt der Rücklagenbildung bzw. der Veranschlagung von Ausgaben. Diese unterliegen der Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers .5 Gemäß § 6 Abs. 9 der Haushaltsgesetze 2015-20186 wurden die Haushaltsüberschüsse der entsprechenden Haushaltsjahre der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ bei Kap. 6002 Titel 1 Nachfolgend Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ genannt. 2 Vom 19.8.1969, BGBl. I S. 1284, zuletzt geändert durch Art. 11 Gesetz vom 14.8.2017, BGBl. I S. 3122. 3 Vgl. Knörzer, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, 48. Erg.-Lfg., Februar 2014, § 25 BHO Rn 2. 4 Vom 08.06.1967, BGBl. I S. 582, zuletzt geändert durch Art. 267 V vom 31.08.2015, BGBl. I S. 1474). 5 Vgl. Knörzer, a.a.O., § 25 BHO Rn 3. 6 Vgl. z. B. Haushaltsgesetz 2018 vom 12.7.2018, BGBl. I S. 1126. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 5 91901 zugeführt. Mit der Entscheidung über die Bildung dieser Rücklage hat der Haushaltsgesetzgeber Vorsorge zur Bewältigung der finanziellen Belastungen im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik in den kommenden Haushaltsjahren getroffen. Ein ausdrückliches Verbot zur Bildung von Rücklagen ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Fraglich ist, ob verfassungsrechtliche Beschränkungen etwa in Gestalt einer verpflichtenden Verwendung von Haushaltsüberschüssen zur Tilgung von Altschulden im Rahmen der Schuldenregelung des Art. 115 GG oder mit Blick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot bestehen. 2.2. Tilgungsverpflichtung im Rahmen der Neuverschuldungsregelung? Die Neuverschuldungsregelung nach Art. 109 Abs. 3 i.V.m. Art. 115 Abs. 2 GG ist in Anlehnung an den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt als Schuldenbegrenzungsregel konzipiert. Ihr liegt die Zielsetzung zugrunde, die jährliche strukturelle Nettokreditaufnahme (NKA) von Bund und Ländern zu begrenzen und dadurch mittelfristig die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote nachhaltig zu reduzieren.7 Die Tilgung bestehender Bundesschulden durch Haushaltsüberschüsse ist hingegen im Regelwerk der vorstehend genannten Vorschriften nicht vorgesehen.8 Dies liegt in der Konzeption der Neuverschuldungsregelung begründet, die über die Beschränkung der Neuverschuldung auf den Abbau der relativen Staatsverschuldung angelegt ist. Vor diesem Hintergrund sind auch erzielte Haushaltsüberschüsse nur dann tilgungswirksam, wenn sie die zulässige Nettokreditaufnahme der entsprechenden Folgejahre betragsmäßig übersteigen. Der Neuverschuldungsregelung nach den o.g. Vorschriften ist jedenfalls eine verpflichtende Verwendung von Haushaltsüberschüssen zur Rückführung von Altschulden nicht zu entnehmen.9 2.3. Rücklagenbildung im Lichte des Wirtschaftlichkeitsgebots Die Prüfung der Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers zur Rücklagenbildung am Maßstab des Wirtschaftlichkeitsgebots setzt voraus, dass dieses einfachgesetzlich in § 6 Haushaltsgrundsätzegesetz 10 und § 7 BHO geregelte Prinzip verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des Verfassungsranges im Verhältnis zur Legislative hat. 7 Vgl. BT-Drs. 16/12410, S 6f. 8 Kritisch zur Neuverschuldungsregelung vgl. Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – Zur 2. Stufe der Föderalismusreform , JZ, Jg. 2009 Heft 14, S. 729 ff. 9 Abgesehen von der Ausnahmeregelung für Notsituationen, die nur mit „Kanzlermehrheit“ und verbindlichem Tilgungsplan zulässig ist. 10 Vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 6 Die h. M.11 erkennt dem Wirtschaftlichkeitsprinzip Verfassungsrang zu. Die verfassungsrechtliche Verankerung wird damit begründet, das Wirtschaftlichkeitsprinzip stelle die finanzrechtliche Ausprägung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips12 dar.13 Es verlangt bei allen Maßnahmen , die günstigste Relation zwischen dem verfolgten Ziel und den eingesetzten Mitteln anzustreben . Verfassungsrechtlich problematisch im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsprinzip ist insbesondere die kreditfinanzierte Bildung von Rücklagen, zumal dann, wenn ihr keine gegenwärtigen bzw. zukünftigen Zahlungsverpflichtungen zugrunde liegen.14 Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Bildung der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ erfolgte aus „echten“ Haushaltsüberschüssen. Die Bestände der Rücklage werden bis zu ihrer Verwendung zur Finanzierung der Belastungen im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik im Kassenbereich genutzt.15 Die dadurch aufgeschobene Refinanzierung von Altschulden am Kapitalmarkt führt zur Zinsersparnis16. Die Entnahme aus der Rücklage, die haushaltstechnisch als Einnahme im Kreditfinanzierungsplan17 ausgewiesen wird, trägt zur Verringerung bzw. Vermeidung der Nettokreditaufnahme im Haushaltsjahr 2019 und damit zum Haushaltsausgleich bei. Nach alledem ist die Bildung der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ im Hinblick auf den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 3. Zur Frage der geplanten Verwendung der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ Die Entnahme aus der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ ist im Bundeshaushaltsplan 2019 bei Kap. 6002 Titel 35901 als Einnahme in Höhe von 5,036 Mrd. Euro veranschlagt. Gemäß dem bei dieser Haushaltsstelle ausgebrachten Haushaltsvermerk dienen die Mittel der Finanzierung von Belastungen des Bundes im Zusammenhang mit der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen, die durch die strukturelle, dauerhafte und dynamische Beteiligung des Bundes an 11 Vgl. VerfGH NRW, NVwZ 2011, S. 805 ff., Gröpel, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 110 m.w.N.; a.A. Nebel, in: Piduch, a.a.O., Art. 110 Rn. 25 m.w.N. 12 In der Literatur wird auch neuerdings das Phänomen Haushaltsüberschüsse, insbesondere die Entstehung von Haushaltsüberschüssen, durch eine mögliche Überbelastung der Abgabepflichtigen im Hinblick auf den rechtstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Ausprägung als Übermaßverbot diskutiert. Vgl. dazu: Heintzen, Haushaltsüberschüsse – Eine verfassungs- und verwaltungsrechtliche Betrachtung, JZ 2016, Heft 21, S. 1039 ff. 13 Vgl. VerfGH NRW, a.a.O., S. 807. 14 Vgl. VerfGH NRW, a.a.O., S. 805, 807 f.; kritisch und für Einzelfallprüfung Nebel, in: Piduch, a.a.O. 15 Vgl. BRH, Bericht nach § 88 Abs. 2 BHO – Information über die Entwicklung des Einzelplans 32 (Bundesschuld) für die Beratungen im Bundeshaushalt 2019, HHA-Drs. 19/2474. 16 Wegen des günstigen Zinsniveaus infolge der Geldpolitik der EZB hat der Bund bei der Refinanzierung von Altschulden erheblich profitiert. Vgl. BRH, a.a.O., S. 7 f. 17 Vgl. HHG 2019, S. 23 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 4 - 3000 – 007/19 Seite 7 den Kosten der Länder und Kommunen und durch die Aufwendungen im Bundesbereich entstehen . Hiervon abweichend plant die Bundesregierung ab dem Haushaltsjahr 2020 die Mittel dieser Rücklage u. a. auch für das Ganztagsschulprogramm etc. zu verwenden.18 Die Zulässigkeit dieser Verwendung bleibt der Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers im Rahmen der künftigen Haushaltsverfahren vorbehalten.19 4. Ergebnis Die vom Haushaltsgesetzgeber beschlossene Bildung und Verwendung der Rücklage „Asylbewerber und Flüchtlinge“ sind aus verfassungs- und haushaltsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. *** 18 Vgl. Vorlage des BMF Nr. 1/19 vom 16.1.2019, Vorläufiger Jahresabschluss 2018, HHA-Drs. 19/3232, Anlage 2 S. 4. 19 Zur Änderung bzw. Erweiterung auch gesetzlich festgelegter Zweckbindung durch den Haushaltsgesetzgeber vgl. z. B. § 6 Abs. 8 HHG 2019: Erlaubnis zur Verwendung des für Zwecke des Straßenwesens gebundenen Mineralölsteueraufkommens auch für sonstige verkehrspolitische Zwecke.