Deutscher Bundestag Einführung einer Kindergartenpflicht und Vorverlagerung der Schulpflicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 465/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 465/10 Seite 2 Einführung einer Kindergartenpflicht und Vorverlagerung der Schulpflicht Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 465/10 Abschluss der Arbeit: 29. November 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 465/10 Seite 3 1. Fragestellung Welche verfassungsrechtlichen Grenzen und einfachgesetzlichen Bestimmungen stehen der Einführung einer Kindergartenpflicht ab dem dritten Lebensjahr bzw. einem früheren Einsetzen der Schulpflicht entgegen? Welche Vorschriften müssten geändert werden, um eine Kindergartenpflicht ab dem dritten Lebensjahr einzuführen bzw. die Schulpflicht vorzuverlagern? 2. Derzeitige Rechtslage 2.1. Schulpflicht In Deutschland besteht für Kinder grundsätzlich ab dem sechsten Lebensjahr Schulpflicht, die ihre Grundlage in den jeweiligen Landesverfassungen findet und in den Landesschulgesetzen näher ausgestaltet wird.1 Der Bund hat im Bereich des Schulwesens keine Regelungskompetenz. Schule wird üblicherweise definiert als eine auf gewisse Dauer berechnete, an fester Stätte, unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler, in überlieferten Formen organisierte Einrichtung der Erziehung und des Unterrichts, die durch planmäßige und methodische Unterweisung eines größeren Personenkreises in einer Mehrzahl allgemeinbildender oder berufsbildender Fächer bestimmte Bildungs- und Erziehungsziele zu verwirklichen bestrebt ist und die nach Sprachsinn und allgemeiner Auffassung als Schule angesehen wird.2 2.2. Recht auf einen Kindergartenplatz Davon abzugrenzen sind Angebote der Kindertagesbetreuung. Diese finden ihre Grundlage im Kinder- und Jugendhilferecht, das in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Nach § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (SGB VIII)3 hat jedes Kind zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt einen Anspruch auf Besuch einer Tageseinrichtung. Eine Pflicht zum Besuch einer Kindertagesstätte oder eines Kindergartens besteht nicht. Bei den Einrichtungen der Kindertagesbetreuung stehen der Betreuungsaspekt sowie erzieherische Ziele im Vordergrund. Daneben kommt ihnen auch in der frühkindlichen Bildung eine Rolle zu, ohne dass ein schulartiger Unterricht stattfindet. 1 Z.B. in Baden-Württemberg: Art. 14 Abs. 1 LVerf, § 72 Schulgesetz in der Fassung vom 1. August 1983 (GBl. S. 397), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 2006 (GBl. S. 378). 2 Badura in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 Rdnr, 11., Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz , 2008, Art. 7 Rn. 6. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3134), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 6. Juli 2009 (BGBl. I S. 1696) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 465/10 Seite 4 3. Einführung einer Kindergartenpflicht Die Einführung einer Kindergartenpflicht könnte gegen das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen. Nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Dieses Elternrecht beinhaltet die Sorge für die gesamte seelische und geistige Entwicklung sowie die Bildung und Ausbildung des Kindes.4 Die Eltern dürfen allein entscheiden, wem sie Einfluss auf die Erziehung ihres Kindes zugestehen wollen und wem nicht5 und wie die Einflussnahme ausgestaltet sein soll.6 Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert – auch durch die Formulierung „zuvörderst“ – in der Regel den Vorrang der Eltern, ihre Eigenständigkeit und Selbstverantwortung bei der Pflege und Erziehung im vorschulischen Bereich.7 Damit ist letztlich kein absoluter Vorrang gemeint, dem Recht kommt aber bei der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern ein besonderes Gewicht zu.8 Nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG wacht über das Erziehungsrecht der Eltern die staatliche Gemeinschaft . Dieses sog. Wächteramt rechtfertigt staatliche Eingriffe in das Elternrecht.9 Solche staatlichen Interventionen haben sich nach Art und Maß am Kindeswohl zu orientieren und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten.10 Eine Pflicht zum Besuch eines Kindergartens würde in das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eingreifen, da den Eltern nicht länger ein Wahlrecht zustünde, wie sie ihr Kind vor Erreichen der Schulpflicht erziehen wollen. Sie wären vielmehr gezwungen, ihr Kind auch gegen ihren Willen in einen Kindergarten zu schicken. Hinzu kommt, dass eine Kindergartenpflicht in Form eines werktäglichen, mehrstündigen Aufenthalts im Kindergarten das elterliche Erziehungsrecht auch in zeitlicher Hinsicht erheblich beeinträchtigt. Dieser Eingriff in das Elternrecht müsste verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. In Betracht kommt hierfür nur die Ausübung des staatlichen Wächteramtes zum Wohle des Kindes.11 Eine Kindergartenpflicht könnte zur sprachlichen und allgemeinen Entwicklung von Kindern beitragen und ihnen dadurch den Übergang in die Schule erleichtern. Dies gilt jedoch nur für Kinder, die Defizite in diesen Bereichen haben, von einer allgemeinen Kindergartenpflicht wären aber alle Kinder und ihre Eltern betroffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dürfen allgemeine Beschränkungen des Elternrechts nur ausnahmsweise und nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass individuelle Maßnahmen zur Zielerreichung nicht ausreichen.12 Eine generelle Kindergarten- 4 Bader, Verfassungsrechtliche Probleme der Kindergartenbesuchspflicht und vorschulischen Sprachförderung, NVwZ 2007, 537NVwZ 2007, 537. 5 BVerfGE 105, 313, 354. 6 BVerfGE 83, 130, 139. 7 Vgl. BVerfGE 7, 320, 323; Bader (Fn. 4), S. 537. 8 Robbers in v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Auflage, 2010, Art. 6 Rn. 263. 9 Robbers (Fn. 8) Art. 6 Rn. 238 ff. 10 Schmitt-Kammler in Sachs, Grundgesetz, 5. Auflage, 2009, Art. 6 Rn. 69. 11 Robbers (Fn. 8), Art. 6 Rn. 242 m.w.N. 12 BVerfGE 7, 320, 323; 24, 119, 145. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 465/10 Seite 5 pflicht käme danach nur in Betracht, wenn die Mehrheit der Kinder im Kindergartenalter Defizite hätte, die sich auf die Schulfähigkeit auswirken würden.13 Hiervon kann aber nicht ausgegangen werden. Derartige Defizite sollen nur bei einer Minderheit der Kinder vorhanden sein. Als milderes Mittel zu einer Kindergartenpflicht kämen Fördermaßnahmen für förderbedürftige Kinder in Betracht. Diese könnten wiederum als allgemeines Angebot ausgestaltet sein. Denkbar wären z.B. spezielle Maßnahmen zur Sprachförderung oder Vorschulkurse. Möglich wären aber auch individuelle Fördermaßnahmen. Sofern im Einzelfall eine Gefährdung des Kindeswohls festgestellt wird, kann das Jugendamt nach § 8a SGB VIII Hilfen zur Erziehung anbieten. Gegen die Einführung einer generellen Kindergartenpflicht spricht ferner, dass die überwiegende Mehrheit der Eltern ihre Kinder freiwillig in Kindergärten o.ä. betreuen lässt. Bspw. besuchen über 90 % der Kinder im Jahr vor der Einschulung einen Kindergarten.14 Die Einführung einer allgemeinen Kindergartenpflicht wäre zur Wahrung des Kindeswohls nicht erforderlich und verstieße gegen das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.15 Eine Kindergartenpflicht könnte daher nur durch eine Änderung des Grundgesetzes eingeführt werden. 4. Vorverlegung der Schulpflicht Als Alternative zur Einführung einer Kindergartenpflicht kommt ein früheres Einsetzen der Schulpflicht in Betracht. Derzeit ist eine frühere Einschulung ab dem fünften Lebensjahr bereits auf Antrag der Erziehungsberechtigten und bei Schulfähigkeit des Kindes möglich. Im Detail sind die Regelungen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich ausgestaltet.16 4.1. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit Die bestehende Schulpflicht ab dem sechsten Lebensjahr greift – ebenso wie eine Kindergartenpflicht – in das elterliche Erziehungsrecht ein. Dieser Eingriff wird jedoch durch den staatlichen Erziehungsauftrag im Schulwesen gerechtfertigt.17 Im Gegensatz zur Kindergartenbetreuung ist dieser im Grundgesetz verankert, Art. 7 Abs. 1 GG.18 Er steht dem elterliche Erziehungsrecht damit gleichrangig gegenüber.19 13 Vgl. Bader (Fn. 4) S. 538. 14 Deutsches Jugendinstitut, Kinderbetreuung zwischen Familie, Kindertagespflege und Kita: neue Zahlen und Entwicklungen ; abrufbar unter: http://www.dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt= 877&Jump1=LINKS&Jump2=15. 15 So auch Bader (Fn. 4), S. 540; Müller-Terpitz, Vätermonate und Kindergartenpflicht - wie viel Staat verträgt die Familie?, JZ 2006, 991, 997 m.w.N. 16 Deutsches Jugendinstitut, Einschulungsregelungen und flexible Eingangsstufe, abrufbar unter: http://www.dji.de/bibs/01_natBild_Expertise_Berthold.pdf. 17 BVerfG NJW 1987, 180; BVerwG NVwZ 1992, 370. 18 Robbers (Fn. 8), Art. 7 Rn. 80. 19 Vgl. BVerfGE 47, 46, 70. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 465/10 Seite 6 Art. 7 Abs. 1 GG verleiht dem Staat die Befugnis zur Organisation, Leitung und Planung des Schulwesens.20 Davon umfasst ist auch das Recht, das Schulwesen neu zu ordnen oder neue Schulformen einzuführen. Grundsätzlich kommt daher auch eine Neuordnung der Grundschule mit einem früheren Einsetzen der Schulpflicht in Betracht. Dies wäre zulässig, wenn eine Abwägung zwischen dem Elternrecht und dem staatlichen Erziehungsauftrag zu Gunsten des Staates ausfiele. Bei dieser Abwägung ist zu beachten, dass das Elternrecht umso höher zu bewerten ist, je stärker der staatliche Eingriff auf die individuelle Erziehung des Kindes abstellt.21 Vorrang genießt der staatliche Erziehungsauftrag jedoch bei Regelungen , die die Schüler in ihrer Gesamtheit betreffen, etwa organisatorische Aspekte der Schule oder das inhaltliche und didaktische Programm.22 Dies dürfte auch für eine zeitliche Vorverlagerung der Schulpflicht gelten, da hiervon alle Schüler sowie deren Eltern betroffen wären.23 Bei der konkreten Ausgestaltung einer früheren Einschulung wäre zu beachten, dass das Schulprogramm auf jüngere Kinder abgestimmt wird. Eine staatliche Beschulung mit ungeeigneten bzw. überfordernden Lehrplänen wäre unzulässig. Unter Berücksichtigung der kindlichen Entwicklung könnte bspw. eine reduzierte Stundenanzahl geboten sein. Außerdem wären ähnlich zu den bestehenden Vorschriften Ausnahmeregelungen erforderlich, um Kindern, die noch nicht schulreif sind, eine spätere Einschulung zu ermöglichen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Schulpflicht nicht beliebig weit nach vorn verlagert werden kann, da der Besuch schulischer Einrichtungen jedenfalls für Kinder im Alter von drei Jahren nicht geeignet sein dürfte. Eine planmäßige Unterweisung in verschiedenen Unterrichtsfächern dürfte sie überfordern. Ob Kinder ab dem vierten oder fünften Lebensjahr beschult werden könnten , bedarf einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung der kindlichen Entwicklung. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre es jedenfalls grundsätzlich möglich, die Schulpflicht zeitlich früher einsetzen zu lassen, sofern die Beschulung in geeigneter Weise erfolgt. 4.2. Änderungsbedarf Ein früheres Einsetzen der Schulpflicht kann durch Änderung der entsprechenden landesrechtlichen Regelungen erreicht werden. Der Bund hat in diesem Bereich keine Gesetzgebungskompetenz . 20 BVerfGE 26, 228, 238. 21 BVerfGE 47, 46, 70. 22 BVerfGE 34, 165, 182; 45, 400, 413. 23 Bader (Fn. 4), S. 541.