Deutscher Bundestag Gesetzgebungskompetenz für das Energieleitungsausbaugesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2009 Deutscher Bundestag WD 3 – 451/09 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 2 Gesetzgebungskompetenz für das Energieleitungsausbaugesetz Aktenzeichen: WD 3 – 451/09 Abschluss der Arbeit: 11. Januar 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung...............................................................................4 2. Vorbemerkung .....................................................................................4 3. Bundesregelung zum Einsatz von Erdkabeln im Höchstspannungsbereich....................................................................5 3.1. Die Regelung des § 2 EnLAG..............................................................5 3.2. Erdkabel aufgrund anderer Regelungen des Bundes.........................5 3.3. Ausschluss von abweichendem Landesrecht....................................6 4. Vereinbarkeit des § 2 EnLAG mit Artikel 72 Abs. 2 GG .................6 4.1. Bundeskompetenztitel für die Regelung des § 2 EnLAG..................7 4.1.1. Recht der Energiewirtschaft................................................................7 4.1.2. Weitere Kompetenznormen................................................................7 4.1.3. Zwischenergebnis ................................................................................9 4.2. Erforderlichkeit der Regelung im Sinne des Artikel 72 Abs. 2 GG .........................................................................................................9 4.2.1. Die Erforderlichkeitsklausel in Artikel 72 Abs. 2 GG .......................9 4.2.2. Begründung der Gesetzgebungskompetenz durch den Gesetzgeber.........................................................................................12 4.2.3. Erforderlichkeit zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ...............................................13 4.2.4. Erforderlichkeit zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse...............................................................14 4.2.5. Erforderlichkeit zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse...............................................................16 4.3. Ergebnis..............................................................................................17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 4 1. Zusammenfassung Das Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) des Bundes ist nur insoweit nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen, als seine Regelungen für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder für die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich sind. Die in dem Gesetz getroffenen bundeseinheitlichen verbindlichen Feststellungen der energiewirtschaftlichen Notwendigkeit und des vordringlichen Bedarfs bestimmter Energieleitungen (§ 1 EnLAG) sind für die Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich. Die für die Begründung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes notwendige Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Beschränkung des Einsatzes von Erdkabeln im Höchstspannungsbereich auf bestimmte Pilotvorhaben (§ 2 EnLAG) ist anhand der im Gesetzgebungsverfahren vorgebrachten Darlegungen geprüft worden. Es bestehen Zweifel daran, dass diese Darlegungen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes tragen. Bei einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung eines Gesetzes kommt es jedoch nicht nur auf das Vorbringen im Gesetzgebungsverfahren an; Prüfungsmaßstab ist die objektive Sachlage. 2. Vorbemerkung Die Untersuchung ergänzt die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht zur Energieinfrastruktur – Hier: Energieleitungsausbaugesetz und niedersächsisches Erdkabelgesetz“ vom 11. Dezember 2009.1 Danach regelt das Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) des Bundes2 den Einsatz von Erdkabeln im Höchstspannungsbereich abschließend und lässt keinen Raum für eine davon abweichende Landesregelung. Offen gelassen worden ist, ob der Bund diese abschließende Regelung treffen durfte. Die nachstehende Prüfung beschränkt sich auf die Vereinbarkeit des § 2 EnLAG mit Artikel 72 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) auf der Grundlage des Sachvortrags im Gesetzgebungsverfahren. Ob ein weiterer Sachvortrag, insbesondere weitere technische Darlegungen, eine andere Sichtweise rechtfertigen, bleibt dahingestellt. 1) WD 3 – 425/09. 2) Artikel 1 des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze vom 21. August 2009 (BGBl. I S. 2870). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 5 3. Bundesregelung zum Einsatz von Erdkabeln im Höchstspannungsbereich 3.1. Die Regelung des § 2 EnLAG § 2 EnLAG sieht vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen (Abs. 2) auf vier geographisch festgelegten Strecken Höchstspannungsleitungen mit einer Nennspannung von 380 kV3 als Erdkabel errichtet, betrieben oder geändert werden können. Die vier Pilotvorhaben sind in Abs. 1 abschließend aufgezählt. Voraussetzung für den Einsatz eines Erdkabels auf diesen Strecken ist nach Abs. 2, dass der jeweils ins Auge gefasste Teilabschnitt technisch und wirtschaftlich effizient wäre. Bei drei der genannten Pilotvorhaben kommt die Errichtung des Erdkabels nur dann in Betracht, wenn bestimmte Abstände zu Wohngebäuden unterschritten werden. Zweck ist, den Einsatz von Erdkabeln auf der Höchstspannungsebene als Pilotvorhaben zu testen. Nach drei Jahren hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag über die Erfahrungen mit dem Einsatz von Erdkabeln zu berichten (§ 3 EnLAG). Eventuelle Mehrkosten, die durch eine Erdverkabelung auf den vier Pilotstrecken entstehen können , werden nach § 2 Abs. 4 EnLAG unter den Übertragungsnetzbetreibern ausgeglichen und bundesweit auf die Netznutzungsentgelte umgelegt.4 3.2. Erdkabel aufgrund anderer Regelungen des Bundes Aufgrund anderer bundesgesetzlicher Regelungen kommen Erdkabel im Hochspannungsbereich nur noch für einen sachlich und räumlich eingeschränkten Bereich in Betracht: - Nach § 43 Satz 3 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) kann für Hochspannungsleitungen mit einer Nennspannung von 110 kV in einem 20 km breiten Korridor entlang der Nord- und Ostseeküste für die Errichtung und den Betrieb sowie die Änderung eines Erdkabels ein Planfeststellungsverfahren durchgeführt werden. - § 43 Satz 1 Nr. 3 EnWG betrifft lediglich die Netzanbindung von Offshore-Anlagen, also von in der Nord- oder Ostsee errichteter Windenergieanlagen.5 - Nach § 43 Satz 1 Nr. 4 EnWG bedarf auch die Errichtung, der Betrieb und die Änderung von grenzüberschreitenden Gleichstrom-Seekabeln und deren landseitiger Anschluss an das nächste Übertragungs- und Verteilernetz der Planfeststellung.6 3) vgl. Anlage zu § 1 Abs. 1 EnLAG. 4) Siehe auch Begründung des Gesetzentwurfs, Drs. 16/10491, S. 16 (Kosten für die Wirtschaft) und 17 (zu Artikel 1 § 2 Abs. 4). 5) Vgl. § 3 Nr. 9 des Gesetzes für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) vom 25. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2074), zuletzt geändert durch Artikel 12 des Gesetzes vom 22. Dezember 2009 (BGBl. I S. 3950). 6) Vgl. Gesetzesbegründung in: Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Technik vom 6. Mai 2009, Drs. 16/12898, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 6 - Die Planfeststellung nach § 43 Satz 1 Nr. 1 EnWG ist beschränkt auf Hochspannungsfreileitungen (Hervorhebung durch den Verfasser), gilt also nicht für Erdkabel. Die Mehrkosten für die Errichtung, den Betrieb oder die Änderung eines Erdkabels im Küstenkorridor (§ 43 Satz 3 EnWG) und für die Netzanbindung von Offshore-Anlagen (§ 43 Satz 1 Nr. 3 EnWG) gelten nach § 21a Abs. 4 Satz EnWG als „nicht beeinflussbare Kostenanteile“, die in die Entgelte für den Netzzugang einfließen können, ohne dass sich der Netzbetreiber entgegen halten lassen muss, dass die durchschnittlichen Kosten eines vergleichbaren Netzbetreibers geringer sind (Vergleichsverfahren nach § 21 Abs. 3 und 4 EnWG).7 Die gesetzliche Anerkennung als „nicht beeinflussbare Kostenanteile“ der Mehrkosten „für Erdkabel mit einer Nennspannung von 380 Kilovolt, deren Verlegung auf Grund anderer öffentlichrechtlicher Vorschriften durch einen Planfeststellungsbeschluss zugelassen ist“8, ist mit Wirkung zum 26. August 2009 aufgehoben worden.9 3.3. Ausschluss von abweichendem Landesrecht Mit § 2 EnLAG und den gleichzeitig veränderten Bestimmungen des EnWG regelt der Bundesgesetzgeber die Zulässigkeit des Einsatzes von Erdkabeln im Höchstspannungsbereich abschließend . Nach Artikel 72 Abs. 1 GG ist es den Ländern damit verwehrt, davon abweichende Regelungen zu treffen (siehe Ausarbeitung WD 3 – 425/09, Ziff. 3.3, S. 8 f.). 4. Vereinbarkeit des § 2 EnLAG mit Artikel 72 Abs. 2 GG Auf einer in Artikel 72 Abs. 2 GG abschließend aufgezählten Reihe von Gebieten hat der Bund das Recht zur Gesetzgebung nur, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich macht“. Zu prüfen ist damit, ob die hier in Frage stehende Regelung, den Einsatz von Erdkabeln auf der Höchstspannungsebene im Übertragungsnetz ausschließlich in vier bezeichneten Pilotvorhaben zuzulassen, einer der in Artikel 72 Abs. 2 GG genannten Regelungsgebiete unterfällt und gegebenenfalls ob diese bundeseinheitliche Regelung im Sinne des Artikels 72 Abs. 2 GG erforderlich ist. 7) Zu den Einzelheiten vgl. § 11 Abs. 2 Nr. 7 und § 23 Abs. 1 Nr. 6 der Verordnung über die Anreizregulierung der Energieversorgungsnetze (ARegV) vom 29. Oktober 2007 (BGBl. I S. 2529), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 21. August 2009 (siehe oben Fn. 2). 8) Eingeführt durch Art. 7 Nr. 4 des Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben vom 9. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2833). 9) Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes vom 21. August 2009 (siehe oben Fn. 2). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 7 4.1. Bundeskompetenztitel für die Regelung des § 2 EnLAG Welchem grundgesetzlichen Kompetenztitel eine gesetzliche Regelung zuzuordnen ist, bestimmt sich laut Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach „der wesensmäßigen und histor ischen Zugehörigkeit“ der Sachmaterie10 und dem Hauptzweck der gesetzlichen Regelung.11 Der Bundesgesetzgeber stützt seine Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des EnLAG und zur Änderung des EnWG ausschließlich auf Artikel 74 abs. 1 Nr. 11 GG12, also auf das Recht der Wirtschaft , insbesondere der Energiewirtschaft.13 4.1.1. Recht der Energiewirtschaft Der Begriff für „das Recht der Wirtschaft“ ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in einem weiteren Sinn zu verstehen.14 Insbesondere umfasse es die Vorschriften, die sich in irgendeiner Form auf die Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bereichs beziehen.15 Der Begriff der Energiewirtschaft bezieht sich auf Erzeugung und Verteilung16 bzw. die Gewinnung und Weitergabe17 von Energie. Mit umfasst ist auch der Verkehr mit Energie einschließlich der Energiefernleitungen.18 Das Recht der Energiefernleitungen unterfällt damit dem „Recht der Energiewirtschaft“ nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG19. 4.1.2. Weitere Kompetenznormen In Betracht kommt als Sachmaterie neben dem Recht der Wirtschaft auch die Raumordnung im Sinne des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 29 GG. Raumordnung ist die „zusammenfassende, übergeordnete Planung und Ordnung des Raumes. Sie ist übergeordnet, weil sie überörtliche Planung ist und weil sie vielfältige Fachplanungen zusammenfasst und aufeinander abstimmt.“20 Bei Energielei- 10) BVerfGE 7, 29 [40]; 36, 193 [203]. 11) BVerfGE 8, 104 [116 f.]; 8, 143 [149 ff.]; 13, 181 [196 f.]; 13, 367 [371 f.]; 29, 402 [409]. 12) Gesetzesbegründung, Drs. 16/10491, S. 15. Die Begründung des Gesetzes vom 21. August 2009 (siehe oben Fn. 2) stützte sich wegen den in diesem Gesetz vorgeschlagenen Regelungen zu Eisenbahnen, Bundesfernstraßen, Bundeswasserstraßen, zum Luftverkehr, zu Magnetschwebebahnen, zum Naturschutz und zum Verwaltungsprozess neben Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auch auf Artikel 73 Nr. 6 und 6a, Artikel 74 Abs. 1 Nr. 1 und 21 bis 23 GG in der damals gültigen Fassung, Drs. 16/54, S. 28. 13) Wegen der mit Artikel 3 des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze (siehe oben Fn. 2) erfolgten Änderung der Verwaltungsgerichtordnung wird in der Begründung auch auf die Kompetenznorm in Artikel 74 Abs. 1 Nr. 1 GG hingewiesen, Drs. 10491, S. 15. 14) BVerfGE 5, 25 [28 f.]; 28, 143 [149]. 15) BVerfGE 8, 143 [149]; 29, 402 [409]. 16) Degenhart, in: Sachs, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 74 Rn. 46. 17) Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 74, Rn. 94. 18) Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1984, Art. 74 Rn. 144. 19) So auch: Kunig , in: Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2003, Art. 74 Rn. 48; Gesetzesbegründung zum Niedersächsischen Erdkabelgesetz, Nds. Drs. 15/4150, S. 2. 20) BVerfGE 3, 407 [425] - Baurechtsgutachten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 8 tungen kommt der Raumordnung eine vorrangige Rolle hinsichtlich der Auswahl der Streckenführung und der Prüfung von Alternativstrecken zu.21 Auch wenn die Raumordnung als Gesamtplanung Fachplanungen zusammenfasst und aufeinander abstimmt, ist sie aber nicht selbst Fachplanung. Daher fallen unter sie nicht die fachspezifischen Planungen für Verkehrsanlagen oder die Planungen für Energieversorgungsanlagen.22 Bei der Frage der Gesetzgebungszuständigkeit für letztgenannte ist auf die materiell einschlägigen, spezielleren Kompetenznormen zurückzugreifen .23 So unterliegt die luftverkehrsrechtliche Planung eines Flughafens allein der Kompetenz für den Luftverkehr nach Artikel 73 Nr. 6 GG.24 Ebenso verhält es sich bei der Errichtung, des Betriebes sowie der Änderung von Höchstspannungserdkabeln einschließlich der einzelfallbezogenen Genehmigungsverfahren (z.B. Planfeststellungen) in Bezug auf die besonderen technischen Anlagen. Sie werfen spezielle Fragestellungen auf und erfordern hierauf abgestimmte Lösungen . Die Raumordnung darf die für die fachplanerische Aufgabenstellung relevanten Fragen nicht in der Weise an sich ziehen, dass sie dem Fachplanungsträger die Realisierung einer bestimmten Anlage vorschreibt.25 Somit liegt ein spezifisches fachliches Aufgabenfeld vor, das den Regelungsbereich der Raumordnung zwar tangieren, in seinem Rahmen aber mit kompetenzrechtlichem Schwerpunkt nicht verortet werden kann.26 Betroffen sein könnte der Naturschutz und die Landschaftspflege im Sinne des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 29 GG. Unter Naturschutz und Landschaftspflege27 ist die Abwehr von Gefahren für Natur und Landschaft sowie die positive Beeinflussung von Natur und Landschaft zu verstehen.28 Bestimmungen zu der Alternative Freileitung – Erdkabel können Einfluss auf Natur und Landschaft haben. Zu beachten ist, dass die Länder im Bereich von Naturschutz und Landschaftspflege inzwischen nach Artikel 72 Abs. 3 Nr. 2 GG das Recht haben, auf diesem Gebiet von Bundesgesetzen abweichende Regelungen zu treffen. Eine ähnliche Problemlage ergab sich vor Einführung des Abweichungsrechts der Länder aus dem Umstand, dass der Bund lediglich das Recht zum Erlass von Rahmenvorschriften hatte, die den Ländern einen normativen Spielraum von substantiellem Gewicht überlassen mussten, der ihnen die Möglichkeit gab, die jeweilige Materie entsprechend den besonderen Verhältnissen des e inzelnen Landes ergänzend zu regeln.29 Daraus wurde geschlossen, dass die allgemeinen Naturschutz- und Landschaftspflegeregelungen nicht die Gesetze in den einzelnen Sachbereichen überlagern dürfen. Es gehöre zur Gesetzgebungskompetenz für diese Sachbereiche, abschließend zu regeln, welche verschiedenen Interessen bei den Planungen zu beachten oder abzuwägen seien und welches Gewicht ihnen zukomme.30 Soweit der Bund aus einem anderen Kompetenztitel die Fachplanung hat, z.B. für die Eisenbahn 21) Vgl. BVerwGE 125, 116: Die Wahl des Standorts für einen internationalen Verkehrsflughafen ist vorrangig eine raumordnerische Entscheidung. 22) Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1986, Art. 75 Rn. 135. 23) Rozek, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 75, Rn. 55. 24) Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1986, Art. 75 Rn. 142. 25) BVerwGE 125, 116. 26) Schulte/Kloos, Gesetzgebungszuständigkeit und Regelungskonzeption beim Ausbau des Energieversorgungsnetzes unter besonderer Berücksichtigung der Erdverkabelung auf Höchstspannungsebene, Kurzgutachten , Dresden 2007. 27) Bis zur GG-Reform 2006: Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GG. 28) Degenhart, in: Sachs, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 74 Rn. 122; Rozek, in: Mangoldt /Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 75, Rn. 52; Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1986, Art. 75 Rn. 123. 29) BVerfG, NJW 2004, 2803 [2804]. 30) Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1986, Art. 75 Rn. 127. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 9 nach Artikel 73 Abs. 1 Nr. 6 oder für die Fernstraßen nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 23 GG, kann er sich auf jene Kompetenznormen stützen und damit die Abweichungsbefugnis der Länder abwenden .31 Eine Zuordnung zu dem eine ausschließliche Bundeskompetenz begründenden Artikels 73 Abs. 1 Nr. 14 GG (Errichtung und Betrieb von Anlagen, die der Nutzung der Kernenergie dienen) scheidet aus. Unter den Begriff der Anlagen in Artikel 73 Abs. 1 Nr. 1432 GG fallen Anlagen zur Erzeugung und Spaltung von Kernbrennstoffen, zur Wiederaufbereitung bestrahlter Kernbrennstoffe und der Lagerung von Abfällen.33 Die Leitungen zum Abtransport der in Kernkraftwerken erzeugten Energie fallen nicht darunter. Sie entsprechen Leitungen für andere Kraftwerke. Es fehlt ihnen an der kernkraftspezifischen Besonderheit. 4.1.3. Zwischenergebnis Damit kommt als Kompetenznorm für die Regelung der Zulässigkeit der Erdverkabelung nur Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Betracht. 4.2. Erforderlichkeit der Regelung im Sinne des Artikel 72 Abs. 2 GG Die einschlägige Kompetenznorm des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist ausdrücklich in Artikel 72 Abs. 2 GG aufgeführt. Damit hat der Bund die Befugnis zur Regelung des Rechts der Wirtschaft nur, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich macht“. 4.2.1. Die Erforderlichkeitsklausel in Artikel 72 Abs. 2 GG Bis zum 14. November 1994 hatte Artikel 72 Abs. 2 GG folgende Fassung34: (2) Der Bund hat in diesem Bereiche das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil 1. eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 31) Degenhart, in: Sachs, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 73 Rn. 122. 32) Bis zur GG-Reform 2006: Art. 74 Nr. 11a GG. 33) Degenhart, in: Sachs, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 73 Rn. 59 f.; Oeter, in: Mangoldt /Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 74, Rn. 108; Maunz , in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1984, Art. 74 Rn. 56 ff. 34) Abgedruckt bei Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 1996, Art. 72. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 10 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert. Die praktische Bedeutung dieser „Bedürfnisklausel“ war gering. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestehe, für „eine Frage pflichtgemäßen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justiziabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen“ sei.35 Diese Formel diente ihm dazu, auf jegliche Prüfung des Vorliegens eines solchen Bedürfnisses zu verzichten . Entweder überging es Artikel 72 Abs. 2 völlig oder erwähnte ihn nur pro forma.36 Diese Rechtsprechung stieß im Laufe der Zeit auf heftige Kritik; sie führe zu einer Verdrängung der Länder aus der Gesetzgebung.37 Durch die Verfassungsreform von 1994 wurde die „Bedürfnisklausel“ durch eine „Erforderlichkeitsklausel “ ersetzt. Sie hatte folgende Fassung:38 (2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich macht. Ziel der Neufassung des Artikel 72 Abs. 2 GG mit der Verfassungsreform von 1994 war es, die Position der Länder dadurch zu stärken, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz konzentriert, verschärft und präzisiert werden und damit die „als unzureichend empfundene“ verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit verbessert wird. Sowohl der Anlass („wenn“) als auch der Umfang („soweit“) der Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz durch den Bundes sollte von zwei alternativen Bedingungen abhängen 39: der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung - zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder - zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse.40 In dieser Grundgesetzänderung hat das Bundesverfassungsgericht die „klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen […], seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern.“41 Inzwischen stellt das Bundesverfassungsgericht an das Vorliegen der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung hohe Anforderungen und legt dem Bund dafür die Darlegungslast auf. Der Bundesgesetzgeber müsse mindestens eines der in Artikel 72 Abs. 2 GG genannten Ziele verfolgen.42 Für das Vorliegen der Erforderlichkeit des Bundesgesetzes zur Erreichung eines dieser Ziele bestehe „kein von verfas- 35) BVerfGE 2, 213 [224]; 4, 115 [127 f.]; 10, 234 [245]; 33, 224 [229]; 65, 1 [63]; 65, 283 [289]. 36) Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 72, Rn. 34 m.w.Nw. 37) Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 72, Rn. 35 m.w.Nw. 38) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994, Artikel 1 Nr. 5 (BGBl. I S. 3146). 39) Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Drs. 12/6000, S. 33. 40) Zu den Motiven im Einzelnen siehe Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 72, Rn. 86 ff. m.w.Nw. 41) BVerfGE 106, 62 [136 f.]. 42) BVerfGE 110, 141 [175]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 11 sungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum“.43 Insbesondere könne die Entscheidung des Bundesgesetzgebers auf seine methodischen Grundlagen und seine Schlüssigkeit hin überprüft werden.44 Eine bundesgesetzliche Regelung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht schon dann erforderlich, wenn es lediglich um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen oder um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse geht, sondern erst dann notwendig, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern […] in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“.45 Die Rechts- und Wirtschaftseinheit wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefährdet, wenn eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene „eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann“.46 So könnten einheitliche Rechtsregeln „erforderlich werden, wenn eine unterschiedliche rechtliche Behandlung desselben Lebenssachverhalts unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheiten und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugen kann“.47 Zur Gesetzgebung ist der Bund in diesem Bereich auch nur befugt, „soweit“ eine bundesgesetzliche Regelung für die genannten Ziele erforderlich ist. Daher ist diese Frage nicht generell, sondern in Bezug auf den konkreten Normbereich zu beantworten.48 Mithin ist jede einzelne bundesgesetzliche Regelung auf ihre Erforderlichkeit zur Erreichung der genannten Ziele zu prüfen. Wegen der strengen Auslegung des Artikels 72 Abs. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht war für den Bund die Einschränkung der Erforderlichkeitsprüfung ein zentrales Anliegen der Föderalismuskommisson I.49 Im Ergebnis ist zwar eine ganze Reihe von Materien von der Erforderlichkeitsprüfung ausgenommen worden50, weil Bund und Länder übereinstimmend von der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelungen ausgingen.51 Abgesehen von der Beschränkung ihres Anwendungsbereichs ist die Erforderlichkeitsklausel jedoch im ihrer Struktur und in Bezug auf die konkreten Tatbestandsmerkmale durch den Verfassungsgesetzgeber unverändert bestätigt worden.52 Von der Erforderlichkeitsprüfung nicht ausgenommen worden ist das Recht der Energiewirtschaft (Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Diese Materie betreffende Gesetze unterliegen weiterhin der Erforderlichkeitsprüfung. 43) BVerfGE 110, 141 [175]. 44) BVerfGE 111, 126 [255]. 45) BVerfGE 106, 62 [144]; 111, 226 [253]; 112, 226 [244]. 46) BVerfGE 106, 62 [145]. 47) BVerfGE 111, 226 [254]. 48) BVerwG, 7 C 15/05 vom 26. 4. 2006, Rn. 9. 49) Stünker, in Holtschneider/Schön, Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 94. 50) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034). 51) Gesetzentwurf, Drs. 16/813, S. 9, 11; Stünker, in Holtschneider/Schön, Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 100. 52) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 12 4.2.2. Begründung der Gesetzgebungskompetenz durch den Gesetzgeber In ihrer Gesetzesbegründung stützt die Bundesregierung das Gesetzgebungsrecht des Bundes zum Erlass des EnLAG sowohl auf das Erfordernis einer bundeseinheitlichen Regelung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als auch auf ihre Erforderlichkeit zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Sie bezweifelt, dass die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „auf das Recht raumbedeutsamer Fachplanungen erstreckt werden kann“. Wenn für die Erforderlichkeit verlangt werde, dass sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik erheblich und in einer das Sozialgefüge erschütternden Weise auseinander entwickeln oder eine konkrete Gefahr dafür besteht, möge dies für einen Teilausschnitt eines Berufsbildes – hier das des Altenpflegers – überzeugen, um den Bund von einer besonders intensiven Regulierung abzuhalten. Sie gehe „aber dort in das Leere, wo es um Grundfragen der Infrastrukturausstattung mit überregionaler Bedeutung für das Gemeinwesen geht“.53 Bei Energieleitungen gehe es um Grundfragen der Infrastrukturausstattung mit überregionaler Bedeutung für das Gemeinwesen. Energieleitungen garantierten gleichwertige Lebensverhältnisse . Der Gesetzgeber dürfe nicht zuwarten, bis eine konkrete Gefahr bestehe, dass Teile des Landes infolge unterschiedlicher Planungen des Leitungsbaus benachteiligt würden. Insoweit scheine es konsequent, für das Fachplanungsrecht für raumbedeutsame Infrastrukturmaßnahmen eine derartige Gefahrensituation stets anzunehmen.54 Im Bereich des Energieleitungsbaus machten Maßgaben zur Vereinfachung, Beschleunigung und Stabilisierung der Planungen eine bundeseinheitliche Regelung zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich, insbesondere bei länderübergreifenden Vorhaben oder Vorhaben mit länderübergreifenden Auswirkungen. Bei solchen länderübergreifenden Sachverhalten führten unterschiedliche Regelungen zur Feststellung des Bedarfs für den Bau der Leitungen zu ernsthaften Hindernissen bei der Verwirklichung der Planung.55 Zweifel an der Befugnis des Bundes zur Regelung der Teilverkabelung sind im Gesetzgebungsverfahren nicht geäußert worden. Der (federführende) Ausschuss des Bundestages für Wirtschaft und Technik hat sich die Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs zu Eigen gemacht.56 Der für Verfassungsfragen zuständige mitberatende Rechtsausschuss hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken angemeldet.57 Auch in der Sitzung des Bundesrates, in der über eine mögliche Anrufung des Vermittlungsausschusses zu entscheiden war, ist die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz nicht aufgeworfen worden.58 Der Bundespräsident hat mit der Ausfertigung des Gesetzes zum Ausdruck gebracht, dass er das EnLAG für „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande genommen“ (Artikel 82 Abs. 1 GG) hält. 53) Drs. 16/10491, S. 15: Hinweis auf die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben, Drs. 16/54, S. 28. 54) Drs. 16/10491, S. 15. 55) Drs. 16/10491, S. 15. 56) Drs. 16/12898, S. 19. 57) Drs. 16/12898, S. 11. 58) Bundesratsprotokoll 847/08, S. 261. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 13 In seiner Stellungnahme zu einem Petitionsverfahren im Deutschen Bundestag wies das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie darauf hin, dass der zügige Ausbau des Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung, der verstärkte grenzüberschreitende Stromhandel und neue konventionelle Kraftwerke den raschen Bau neuer Höchstspannungsleitungen dringend erforderlich machten. Um Erfahrungen mit dem Einsatz von Erdkabeln im eng vermaschten deutschen Höchstspannungs-Übertragungsnetz zu gewinnen, könne nur im Rahmen von Pilotprojekten unter bestimmten Voraussetzungen eine Erdverkabelung auf technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten erfolgen.59 4.2.3. Erforderlichkeit zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet Zu den „Lebensverhältnissen“ zu rechnen sind Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen , wie sie von der Rechtsordnung mitbestimmt und gestalten werden. Dazu zählt auch die Infrastruktur, soweit sie Einfluss auf die Lebensumstände der Menschen hat.60 Kompetenzbegründend ist die Herstellung „gleichwertiger“ Lebensverhältnisse. „Gleichwertig“ ist nicht „einheitlich“ im Sinne der bis 1994 gültigen Fassung. Die Neuformulierung „nimmt das Niveau der kompetentiell legitimierenden Vereinheitlichung vielmehr deutlich zurück“.61 Die Ablösung des bisherigen Begriffs der Einheitlichkeit sollte den regionalen Besonderheiten der einzelnen Länder Rechnung tragen. Das Erfordernis der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist nicht erfüllt, wenn lediglich eine „Verbesserung der Lebensverhältnisse“ in Rede steht.62 Der Zweck des neuen Artikel 72 Abs. 2 GG, die Bundeskompetenzen einzuschränken, würde „an Kraft verlieren, wäre es dem Bund erlaubt, irgendwelche Verbesserungen, die immer möglich und wünschenswert sind, ohne Weiteres zum Anlass für einen Eingriff in das grundsätzlich bestehende Gesetzgebungsrecht der Länder zu nehmen.“63 Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „vielmehr erst dann bedroht […], wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“64 Es obliege dem Bundesgesetzgeber, das für die Begründung dieser Einschätzung erforderliche Tatsachenmaterial sorgfältig zu ermitteln.65 Ausdrücklich abgelehnt hat das Bundesverfassungsgericht die Annahme des Erfordernisses einer bundesgesetzlichen Regelung auch dann, wenn angenommen werden könnte, dass die Unterschiede in der Erhebung von Studiengebühren zwischen den Ländern erhebliche Wanderungs- 59) Schreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 17. Juli 2008 an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, Az. III B 1. 60) Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 72, Rn. 91 m.w.Nw. 61) BVerfGE 106, 62 [144]. Zur Literatur siehe Oeter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2005, Art. 72, Rn. 92. m.w.Nw. 62) BVerfGE 111, 126 [253]. 63) BVerfGE 106, 62 [144]. 64) BVerfGE 106, 62 [144]; 112, 226 [244]. 65) BVerfGE 106, 62 [144]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 14 bewegungen auslösen würden.66 Für die Ausbildung von Altenpflegern wäre erst dann eine Erforderlichkeit anzunehmen gewesen, wenn in einzelnen oder in mehreren Ländern aufgrund mangelhafter Länderregelungen die in diesen Ländern ausgebildeten Altenpfleger oder die Pflegebebürftigen dort deutlich schlechter stünden.67 Diesen strengen Kriterien des Bundesverfassungsgerichts dürften die im Gesetzgebungsverfahren vorgetragenen Argumente nicht genügen. Auch wenn Energieleitungen die Grundfragen der Infrastrukturausstattung mit überregionaler Bedeutung für das Gemeinwesen betreffen, ergibt sich daraus noch nicht, dass deren unterschiedliche Ausgestaltung – einmal als Freileitung, einmal als Erdkabel – zu einer unterschiedlichen Entwicklung der Lebensverhältnisse führen könnte. Richtig ist sicher, dass der bundesweite Verbund von Energieleitungen gleichwertige Lebensverhältnisse fördern kann. Dies wird jedoch nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Land Regelungen vorsieht, Teile dieses Verbundes nicht überirdisch, sondern in der Erde zu verlegen. Die Feststellung, Energieleitungen garantierten gleichwertige Lebensverhältnisse, mag eine hinreichende Bedingung für gleichwertige Lebensverhältnisse begründen; ein Argument für eine notwendige Bedingung – wie von Artikel 72 Abs. 2 GG verlangt – wird hierdurch nicht geliefert. Dass für das Fachplanungsrecht für raumbedeutsame Infrastrukturmaßnahmen (hier das Energieleitungsrecht ) eine Gefahrensituation für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse stets anzunehmen sei – so die Gesetzesbegründung –, lässt sich ohne jede weitere Erläuterung nicht feststellen . Eine in verschiedenen Ländern unterschiedliche Regelung der Frage, ob und wann Energieleitungen ausnahmsweise nicht als Freileitungen, sondern als Erdkabel zu verlegen sind, dürfte die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet dann gefährden, wenn dies dazu führte , dass die Leitungen und Netze nicht mehr miteinander kompatibel wären und dadurch bestimmte Gebiete nicht mehr ausreichend mit Energie versorgt werden könnten. Die Lebensverhältnisse könnten sich auch dann auseinander entwickeln, wenn in einem Land die Errichtung von Energieleitungen durch Vorgaben des Landesrechts so verteuert würden, dass die Energieversorger sich veranlasst sähen, ihre Leitungen um dieses Land herumzulegen.68 Solche Gefahren sind in dem Gesetzgebungsverfahren vom Bund weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich . Solange technische Probleme der Leitungsverbindungen ausgeschlossen sind und lediglich unterschiedliche Regelungen über die mögliche Teilverkabelung mit unbezifferten Kostenfolgen zu erwarten sind, dürfte es an der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung, die Detailregelungen durch die Länder ausschließt, fehlen, um gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen . 4.2.4. Erforderlichkeit zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse Unterschiedliche rechtliche Ordnungen in den Bundesländern sind notwendige Folge des bundesstaatlichen Aufbaus. Die „Wahrung der Rechtseinheit“ kann daher nicht so verstanden wer- 66) BVerfGE 112, 126 [247]. 67) BVerfGE 106, 62 [154]. 68) Erforderlich wäre die Gefahr der Verschlechterung der Energieversorgung. Der Anreiz allein, eine Leitung um ein Land mit höheren rechtlichen Auflagen herumzulegen, rechtfertigt noch keine bundesgesetzliche Regelung, vgl. BVerfGE 112, 226 [247]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 15 den, dass die Setzung bundeseinheitlichen Rechts stets erforderlich wäre.69 Die Unterschiedlichkeit von Regelungen in den Ländern allein kann ein gesamtstaatliches Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung nicht begründen.70 Die Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse ist erst dann berührt, wenn die Gesetzesvielfalt auf Länderebene „eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann“.71 Einheitliche Rechtsregeln können daher erforderlich werden, wenn die unterschiedliche rechtliche Behandlung desselben Lebenssachverhalts unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheiten und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugen kann. Um dieser Bedrohung von Rechtssicherheit und Freizügigkeit im Bundesstaat entgegen zu wirken, kann der Bund eine bundesgesetzlich einheitliche Lösung wählen.72 In der Gesetzesbegründung zum EnLAG wird nur allgemein postuliert, im Bereich des Energieleitungsbaus machten Maßgaben zur Vereinfachung, Beschleunigung und Stabilisierung der Planungen eine bundeseinheitliche Regelung zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich, insbesondere bei länderübergreifenden Vorhaben oder Vorhaben mit länderübergreifenden Auswirkungen. Dass die vier sich den Energieleitungsmarkt in Deutschland teilenden Netzbetreiber durch länderspezifische Regelungen zur Teilverkabelung unzumutbar behindert oder verunsichert würden, ist nicht dargelegt worden. Dagegen spricht schon, dass sich die Netzbetreiber bei der Errichtung von Höchstspannungsleitungen im Planfeststellungsverfahren in jedem Fall mit landesspezifischen Regelungen insbesondere des Naturschutzes und der Landschaftspflege auseinanderzusetzen haben.73 Weder aus dem Gesetzestext noch aus der Begründung ist ersichtlich, dass mit dem EnLAG eine Rechtsvereinheitlichung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Teilverkabelung ermöglicht werden soll, angestrebt wird. § 2 EnLAG hat vielmehr den Charakter eines Einzelfallgesetzes , das für vier Pilotprojekte Sonderregelungen vorsieht. Nicht einmal für diese vier Pilotprojekte werden einheitliche Regelungen erlassen. Während die in § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 EnLAG aufgezählten Vorhaben nur möglich sind, wenn ein bestimmter Abstand zu Wohngebäuden unterschritten wird, kann im Naturpark Thüringer Wald auch ohne diese Voraussetzung ein Erdkabel errichtet werden (§ 2 Abs. 2 Satz 2 EnLAG). Es gehe – so die Begründung – darum, unabhängig von Abstandsvorschriften eine Teilverkabelung für die etwaige Querung des Rennsteiges im Thüringer Wald zu ermöglichen, ohne der Entscheidung der zuständigen Behörden zum Trassenverlauf vorgreifen zu wollen. Durch diese Regelung solle ermöglicht werden, eine Teilverkabelung unter den besonderen geographischen Bedingungen einer Mittelgebirgslandschaft zu testen.74 Dass die landesrechtliche Ermöglichung einer Teilverkabelung die Interessen der Nachbarländer oder des Bundes berührt, ist nicht dargelegt worden. Die Zulassung der vier Pilotvorhaben für die Errichtung von Erdkabeln in der Höchstspannungsebene nach § 2 Abs. 1 EnLAG hat im Gesetzgebungsverfahren nicht zu einer Problematisierung einer möglichen Rechtszersplitterung geführt. 69) BVerfGE 111, 126 [253]. 70) BVerfGE 106, 62 [145]. 71) BVerfGE 106, 62 [145]. 72) BVerfGE 106, 62 [146]; BVerfGE 111, 126 [254]. 73) Dazu eingehend Säcker, Der beschleunigte Ausbau der Höchstspannungsnetze als Rechtsproblem, Frankfurt 2009, S. 59 ff. 74) Drs. 16/10491, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 16 Die Ermöglichung von landesrechtlichen Bestimmungen zur Teilverkabelung lässt keine Gefahr für die Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse befürchten. 4.2.5. Erforderlichkeit zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse Ein weiteres Ziel, das die Kompetenz zur Bundesgesetzgebung begründen kann, ist die Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Die Wahrung der Wirtschaftseinheit liegt im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Regelsetzung geht.75 Das ist nicht schon dann der Fall, wenn die Länder eine sachlich nicht optimale Regelung wählen.76 Dies ist vielmehr anzunehmen, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen.77 So können unterschiedliche landesrechtliche Regelungen die Verteilung des wirtschaftlichen Potentials, sowohl des personellen wie des sachlichen, verzerren.78 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass unterschiedliche Ausbildungs- und Zulassungsvoraussetzungen im deutschen Wirtschaftsgebiet störende Grenzen aufrichten können, die dazu führen, dass sich der Nachwuchs in bestimmten Regionen ballt oder ausdünnt bzw. das Niveau der Ausbildung beeinträchtigt wird.79 Auch wenn durch unterschiedliches Landesrecht erhebliche Wettbewerbsnachteile für den Standort Deutschland zu besorgen wären, könne eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich sein.80 In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass die Energieleitungsvorhaben länderübergreifend seien. Es gehe um einen Ausgleich zwischen der hohen Stromerzeugung im Norddeutschen Bereich und einer erheblichen Energieabnahme in Süddeutschland. Dazu komme die Zunahme des grenzüberschreitenden Stromaustauschs. Bei solchen länderübergreifenden Sachverhalten führten unterschiedliche Regelungen zur Feststellung des Bedarfs für den Bau der Leitungen zu ernsthaften Hindernissen bei der Verwirklichung der Planung. Wo es um die Feststellung des Bedarfs für den Bau der Leitungen geht (§ 1 EnLAG), dürfte die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung schlüssig und ausreichend dargelegt sein. Bei länderübergreifenden Vorhaben kann der Bedarf in den betroffenen Ländern nicht sinnvoll unterschiedlich festgestellt werden. Zulässigerweise bezweckt das Gesetz den rascheren Ausbau des Höchstspannungsnetzes in Deutschland durch die gesetzliche Festlegung des Bedarfs für bestimmte Vorhaben. Anders verhält es sich bei den Vorschriften über die konkrete Umsetzung vor Ort und einer Berücksichtigung lokaler Besonderheiten – überirdische oder unterirdische Verkabelung (§ 2 En- LAG). Es ist nicht dargelegt oder sonst ersichtlich, wie die landesgesetzliche Ermöglichung einer Erdverkabelung auf Teilstrecken erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen 75) BVerfGE 106, 62 [146]; 111, 126 [254]. 76) BVerfGE 111, 126 [254]. 77) BVerfGE 106, 62 [147]; 112, 226 [249]. 78) BVerfGE 106, 62 [146 f.]. 79) BVerfGE 106, 62 [147]. 80) BVerfGE 111, 126 [266]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 451/09 Seite 17 oder die Verteilung des wirtschaftlichen Potentials verzerren soll. Auch wenn die Errichtung eines Erdkabels gegenüber einer Freileitung erheblich teuer sein mag, so ist nicht dargetan, wie sich dies auf den Strompreis in Deutschland auswirken würde, insbesondere ob dies erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft hätte. Die Wirtschaftseinheit ist auch nicht wegen einer unterschiedlichen Belastung der Netzbetreiber durch mögliche Mehrkosten infolge landesgesetzlicher Vorgaben zur Teilverkabelung in Gefahr. Zum einen treten die Betreiber von Elektrizitätsnetzen in Deutschland wegen der regionalen Aufteilung der Leitungsgebiete nicht miteinander in Konkurrenz. Zum andern hat der Bundesgesetzgeber selbst in § 2 Abs. 4 EnLAG einen Mechanismus zur angemessenen Umlage solcher Mehrkosten vorgesehen. 4.3. Ergebnis Die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen ins Detail gehenden Regelung zu der Zulässigkeit von Teilverkabelung ist aufgrund des im Gesetzgebungsverfahren erfolgten Sachvortrags zweifelhaft . Ob ein weiterer Sachvortrag, insbesondere weitere technische Darlegungen, eine andere Sichtweise rechtfertigen, muss dahingestellt bleiben. Anlage 1