© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 428/18 Polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnungen zur Unterbringung von Obdachlosen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 428/18 Seite 2 Polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnungen zur Unterbringung von Obdachlosen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 428/18 Abschluss der Arbeit: 18. Dezember 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 428/18 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand erläutert die Möglichkeit der polizeirechtlichen Beschlagnahme von Wohnungen zur Verhinderung oder Beendigung von Obdachlosigkeit.1 Ermächtigungsgrundlage für die Einweisung von Obdachlosen ist die polizeiliche Generalklausel zur Gefahrenabwehr.2 Ist eine Einweisung in öffentliche Einrichtungen nicht möglich, kommt eine Beschlagnahme von privatem Wohnraum in Betracht. Die Beschlagnahme ist unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands zulässig.3 Nach diesen Voraussetzungen kann eine Beschlagnahme auch gegenüber einem Vermieter erfolgen, wenn dem Mieter aufgrund eines Räumungsurteils die Obdachlosigkeit droht.4 2. Voraussetzungen des polizeilichen Notstands Auch wenn die Formulierungen in den einzelnen Landespolizeigesetzen5 voneinander abweichen, lassen sich folgende Voraussetzungen für den polizeilichen Notstand festhalten6: – Es besteht eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder öffentliche Ordnung; – Maßnahmen gegen den polizeirechtlichen Verantwortlichen können nicht oder nicht rechtzeitig erfolgen oder versprechen keinen Erfolg; – die Ordnungsbehörden können die Gefahr nicht selbst oder durch Beauftragte abwenden; – der Nichtstörer muss ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne Verletzung eigener höherwertiger Pflichten in Anspruch genommen werden können. 1 Die Ausführungen beruhen teilweise auf der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Beschlagnahme von privatem Wohneigentum zum Zwecke der Unterbringung von Asylbewerbern, WD 3 - 3000 - 235/15. 2 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kapitel D Rn. 153; Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung, in: NJW 1995, 353 (353). 3 Vgl. Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung , in: NJW 1995, 353 (353). 4 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kapitel D Rn. 153; Blank, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 13. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu § 535 BGB Rn. 161b. 5 Eine Auflistung der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften findet sich bei Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kapitel D Rn. 142. 6 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kapitel D Rn. 142 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 428/18 Seite 4 In der unfreiwilligen Obdachlosigkeit wird nach herrschender Meinung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gesehen.7 Der polizeirechtlich Verantwortliche (sog. Störer) für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist im Falle der Obdachlosigkeit der Obdachlose selbst.8 Grundsätzlich ist daher der Obdachlose selbst verpflichtet, die Obdachlosigkeit zu beenden. Voraussetzung für den polizeilichen Notstand ist demnach, dass der Obdachlose nicht selbst in der Lage ist, sich eine Unterkunft zu beschaffen. Der polizeiliche Notstand setzt ferner voraus, dass die Ordnungsbehörden die Gefahr nicht selbst oder durch Beauftragte abwenden können. Eine Beschlagnahme von privatem Wohnraum ist somit nur nach Erschöpfung aller anderen zumutbaren Möglichkeiten, wie etwa der Unterbringung in einer Notunterkunft oder der Anmietung von Hostelzimmern, möglich.9 Insbesondere müssen Räumlichkeiten, die im öffentlichen Eigentum stehen, vorrangig herangezogen werden, auch wenn sie anderen Zwecken als der Unterbringung von Obdachlosen gewidmet sind.10 Die Räumlichkeiten müssen nur den „Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung“ genügen.11 Weitere Voraussetzung der Inanspruchnahme einer Privatperson als sog. Nichtstörer ist, dass die Person ohne erhebliche eigene Gefährdung in Anspruch genommen werden kann. Eine solche Gefährdung liegt etwa vor, wenn dem Eigentümer der Wohnung aufgrund der Beschlagnahme selbst die Obdachlosigkeit droht.12 Für Mieter und andere Nutzungsberechtigte dürfte entsprechendes gelten, da auch diese im Fall der Beschlagnahme Nichtstörer sind. Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Nichtstörern ist nach der Intensität des Eingriffs vorzugehen . Diese ist am geringsten gegenüber einem Nichtstörer, der sich nicht auf das Grundrecht der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG berufen kann, etwa, weil ihm die Immobilie unentgeltlich von einem Träger öffentlicher Verwaltung zur Verfügung gestellt wurde.13 Wegen der stärkeren 7 Vgl. OVG Greifswald, NJW 2010, 1096 (1097); Ruder, Die polizei- und ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen, in: NVwZ 2012, 1283 (1284 f.) m.w.N. Für die freiwillige Obdachlosigkeit von Erwachsenen gilt dies hingegen nicht, da diese als Ausdruck der freien Entfaltung der Persönlichkeit gesehen wird, siehe Ruder, Die polizei- und ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen, in: NVwZ 2012, 1283 (1284 f.) m.w.N. 8 Ruder, Die polizei- und ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen, in: NVwZ 2012, 1283 (1285). Zu beachten ist, dass die Qualifikation als Störer ohne Rücksicht auf ein Verschulden erfolgt. 9 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Beschlagnahme von privatem Wohneigentum zum Zwecke der Unterbringung von Asylbewerbern, WD 3 - 3000 - 235/15, S. 4. 10 Vgl. Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung , in: NJW 1995, 353 (359). 11 OVG Saarlouis, Beschluss vom 14. April 2014, 1 B 213/14, juris Rn. 11. 12 Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung, in: NJW 1995, 353 (356). 13 Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung, in: NJW 1995, 353 (356 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 428/18 Seite 5 Sozialbindung ist auch ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen vorrangig in Anspruch zu nehmen.14 Wie bei jeder behördlichen Maßnahme muss zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Die Inanspruchnahme von Immobilien, die in privatem Eigentum stehen, zur Unterbringung Obdachloser darf nicht zu einer Beeinträchtigung führen, die zu dem beabsichtigten Erfolg in einem offenbaren Missverhältnis steht. Dabei ist eine Abwägung zwischen den Grundrechten der betroffenen Obdachlosen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und des privaten Eigentümers (Art. 14 GG: Recht auf Verfügung über das Eigentum) vorzunehmen. Zeitlich ist die Beschlagnahme auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt.15 Eine Höchstdauer lässt sich nicht abstrakt festlegen. Jedenfalls endet die Inanspruchnahme wenn die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes nicht mehr gegeben sind. Die zuständige Behörde hat dabei vom ersten Tag der Inanspruchnahme an alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, die die Gewähr dafür bieten, dass der Betroffene so schnell wie möglich anderweitig untergebracht werden kann.16 Die Landespolizeigesetze gewähren Betroffenen, die als Nichtstörer in Anspruch genommen werden , eine angemessene Entschädigung für den durch die Maßnahme entstandenen Schaden.17 Ein Schaden in diesem Sinne ist jede konkrete körperliche oder wirtschaftliche Beeinträchtigung, die als besonderes Opfer auferlegt wird und dabei eine gewisse Opfergrenze überschreitet.18 Hierunter fällt auch der Entzug der Möglichkeit, ein Gebäude durch Vermietung oder im Wege des Eigengebrauchs zu nutzen. Demzufolge hat der Betroffene in der Regel einen Anspruch auf Zahlung einer Nutzungsentschädigung in der ortsüblichen Höhe.19 Gegebenenfalls vorhandene vorangegangene Mietverträge können dabei zur Orientierung herangezogen werden. Nach Beendigung der Inanspruchnahme hat der betroffene Eigentümer einen Anspruch auf Rückgabe der geräumten Immobilie. Rechtsgrundlage ist nach herrschender Meinung das Institut des Folgenbeseitigungsanspruches.20 *** 14 Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung, in: NJW 1995, 353 (357). 15 Fischer, Möglichkeiten und Grenzen der Beschlagnahme von Immobilien zur Flüchtlingsunterbringung, in: NVwZ 2015, 1644 (1647). 16 Ewer/von Detten, Ausgewählte Rechtsfragen bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Obdachloseneinweisung, in: NJW 1995, 353 (356). 17 Eine Auflistung der jeweiligen Vorschriften findet sich bei Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. 2018, Kapitel D Rn. 140a. 18 Cremer, Ansprüche des Wohnungseigentümers gegen den Polizeiträger auf Ausgleich von Schäden infolge einer Obdachloseneinweisung, in: VBlBW 1996, 241 (241). 19 Günther/Traumann, Aktuelle Rechtsprobleme der Wohnraumbeschlagnahme zur Unterbringung Obdachloser, NVwZ 1993, 130 (135). 20 Vgl. Reinhardt, in: Möstl/Trurnit (Hrsg.), BeckOK Polizeirecht Baden-Württemberg, § 33 PolG Rn. 38.1.