Deutscher Bundestag Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 426/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 2 Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 426/10 Abschluss der Arbeit: 15. November 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung 5 2. Fragestellung und Prüfumfang 5 3. Das Projekt 6 3.1. Projektbeteiligte 7 3.2. Planfeststellungsverfahren 7 3.3. Vertragliche Beziehungen 8 3.3.1. Rahmenvereinbarung 1995 8 3.3.2. Realisierungsvereinbarung 2001 9 3.3.3. Memorandum of Understanding 2007 9 3.3.4. Finanzierungsvertrag zu „Stuttgart 21“ 9 3.3.4.1. Projektrealisierung 10 3.3.4.2. Kostentragung 10 3.3.4.3. Risikovorsorge für Kostensteigerungen 11 3.3.4.4. Kostentragung im Falle des Projektabbruchs 12 3.3.4.5. Vorbehalte/aufschiebende Bedingungen 12 3.3.4.6. Kündigungsmöglichkeiten 12 3.3.4.7. Entschließung des Landtages 13 3.3.5. „Gemeinsame Erklärung“ 13 3.3.6. Grundstücksverträge 14 3.4. Verpflichtungsermächtigungen im Landeshaushalt 14 4. Bindungen des Landes an das Projekt „Stuttgart 21“ 14 4.1. Bundesrechtliche Bindung des Landes 15 4.1.1. Bindung durch Bundesgesetz 15 4.1.2. Bindungen durch die Bundesverwaltung 17 4.1.2.1. Infrastrukturauftrag 17 4.1.2.2. Planfeststellung 18 4.2. Landesrechtliche Bindungen an das Projekt „Stuttgart 21“ 19 4.2.1. Haushaltsrecht 19 4.2.2. Beschlüsse des Landtages 20 4.3. Vertragliche Bindungen 20 5. Ausstiegsmöglichkeiten 21 5.1. Aufhebung der Planfeststellungsbeschlüsse 21 5.2. Kündigung des Finanzierungsvertrages 22 5.2.1. Anwendbares Recht für eine außerordentliche Kündigung 22 5.2.2. Wesentliche Änderung der Verhältnisse 23 5.2.2.1. Mögliche breite Ablehnung des Projekts durch die Bevölkerung 25 5.2.2.2. Kostenentwicklung 26 5.2.2.3. Zwischenergebnis 27 5.2.3. Verhütung oder Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl 27 5.2.4. Rechtsfolgen 27 5.3. Aufhebungsvertrag 28 5.4. Ausstiegsgesetz 28 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 4 5.4.1. Gesetzesänderungen, die einen Widerruf der Planfeststellung ermöglichen 28 5.4.2. Gesetz zur Aufhebung der Verpflichtungsermächtigungen im Staatshaushaltsplan 28 5.4.3. Gesetz zur Aufhebung des Finanzierungsvertrages 29 5.4.3.1. Gesetzgebungskompetenz des Landes 29 5.4.3.2. Einzelfallgesetz 29 5.4.3.3. Rückwirkungsverbot 30 5.4.4. Gesetz über die Kündigung des Finanzierungsvertrages 32 5.4.5. Volksabstimmung 33 5.4.5.1. Zulässigkeit einer Volksabstimmung nach Art. 60 Abs. 3 LVerf BW 33 5.4.5.2. Volksabstimmung nach Art. 60 Abs. 1 LVerf BW 34 5.4.5.3. Verstoß gegen die Budgethoheit 34 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 5 1. Zusammenfassung Aus rechtlicher Sicht sind verschiedene Wege denkbar, aus dem Projekt „Stuttgart 21“ auszusteigen . Die Vertragsparteien können den Finanzierungsvertrag einvernehmlich aufheben. Eine Kündigung des Finanzierungsvertrages durch das Land Baden-Württemberg wäre möglich, wenn die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert haben, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist. Für diesen Fall kommt auch eine Aufhebung des Vertrages unmittelbar durch Gesetz in Betracht. Die Landesregierung kann durch Gesetz zur Kündigung des Finanzierungsvertrages bei Vorliegen eines Kündigungsgrundes verpflichtet werden. Eine Volksabstimmung über ein derartiges Gesetz wäre nach einem erfolgreichen Volksbegehren möglich. Ein Widerruf der Planfeststellungsbeschlüsse kommt nach derzeitiger Sachlage nicht in Betracht. 2. Fragestellung und Prüfumfang Das Projekt „Stuttgart 21“ ist wegen seiner Kosten und der städtebaulichen Implikationen in der Öffentlichkeit, insbesondere der örtlichen Bevölkerung umstritten. Seit August 2010 gibt es in Stuttgart massiven Protest der Gegner des Projekts. Als Reaktion darauf haben auch die Projektbefürworter ihre Position in der Öffentlichkeit bekundet. Es soll daher geprüft werden, unter welchen Voraussetzungen ein Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ rechtlich möglich wäre. In der Diskussion ist eine Kündigung des Finanzierungsvertrages durch die Landesregierung, die gegebenenfalls durch eine Volksabstimmung hierzu verpflichtet werden soll. Angedacht wird auch eine Aufhebung des Vertrages durch ein Gesetz. Die Prüfung erfolgt ausschließlich anhand der öffentlich zugänglichen Verträge zwischen den Beteiligten. Von der Prüfung nicht umfasst ist die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Zur Zulässigkeit eines Ausstiegs, insbesondere im Wege einer Volksabstimmung, hat die Landesregierung zwei Rechtsgutachten eingeholt. Danach könne der Finanzierungsvertrag nicht gekündigt werden. Außerdem sei eine Volksabstimmung über ein Gesetz zum Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ nicht zulässig.1 1) Dolde, Klaus-Peter/Porsch, Winfried, Gutachterliche Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der Initiative der SPD für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, Oktober 2010; Kirchhof, Paul, Gutachtliche Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Landtag von Baden- Württemberg für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, Oktober 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 6 Auch die SPD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag hat ein Gutachten zur Frage des Ausstiegs aus dem Finanzierungsvertrag eingeholt. Danach soll eine außerordentliche Kündigung möglich sein, zu der die Landesregierung durch eine Volksabstimmung verpflichtet werden könne .2 3. Das Projekt Das Projekt „Stuttgart 21“bezeichnet den geplanten Umbau des Eisenbahnknotens Stuttgart. Im Zentrum der Stadt Stuttgart soll anstelle des bisherigen Kopfbahnhofs der Neubau eines achtgleisigen Durchgangsbahnhofs in Tieflage errichtet werden. Dieser soll nordseitig unterirdisch an die Schnellbahnstrecke Mannheim-Stuttgart angeschlossen werden. Südseitig soll der Bahnhof unterirdisch unter anderem über einen 9,5 km langen Tunnel („Fildertunnel“) an den Flughafen Stuttgart-Echterdingen und schließlich an die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke Stuttgart- Ulm angeschlossen werden.3 Der Eisenbahnknoten Stuttgart soll eingebunden werden in die Transeuropäische Magistrale 17 Paris – Strasbourg – Stuttgart – Wien – Budapest/Bratislava (TEN-Projekt Nr. 17)4. Als Teilstück dieser Magistrale ist die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm gemäß § 1 des Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG)5 Bestandteil des „Vordringlichen Bedarfs“ des geltenden Bedarfsplans für die Bundesschienenwege (Anlage zu § 1, 1.a) lfd. Nr. 20).6 Das Projekt „Stuttgart 21“ selbst ist nicht Teil dieses Bedarfsplanes7, sondern ein eigenwirtschaftliches Projekt der DB AG.8 Die Realisierung des Projekts „Stuttgart 21“ ist nach Auffassung der Bundesregierung auch keine notwendige Bedingung für die Realisierung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.9 2) Hermes, Georg/Wieland, Joachim, Rechtliche Möglichkeiten des Landes Baden-Württemberg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stuttgart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündigung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grundlage eines Volksentscheides zu beseitigen, Oktober 2010, abrufbar unter: www.spd.landtag-bw.de/cgisub /fetch.php?id=521 3) § 1 des Finanzierungsvertrag vom 2. April 2009 (siehe unten: 3.3.4, S. 9, Fn. 32). 4) Entscheidung Nr. 1692/96/EG vom 9. September 1996 (ABl. L 228), geändert mit Entscheidungen Nr. 1346/2001/EG vom 22. Mai 2001 und Entscheidungen Nr. 884/2004/EG vom 29. April 2004. 5) Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes vom 15. November 1993 (BGBl. I S. 1874), zuletzt geändert durch Art. 309 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2407). 6) Vgl. im Einzelnen unter Punkt 4.1.1 (S. 15). 7) So auch der eindeutige Wortlaut in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Gemeinsamen Erklärung von Bund, Land einschließlich Partner und der DB AG mit ihren Töchtern vom 2. April 2009 (siehe unten: 3.3.5, S. 13). 8) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Fragen 3 bis 5; Antwort der Bundesregierung vom 6. August 2010, Drs. 17/2723, Frage 16; ; Antwort der Bundesregierung vom 25. Oktober 2010, Drs. 17/3446, Vorbemerkung und zu Frage 2. 9) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Frage 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 7 3.1. Projektbeteiligte Vorhabenträger und Bauherren sind ausschließlich die Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU)10: DB Netz AG, die DB Station & Service AG und die DB Energie GmbH, allesamt hundertprozentige Töchter der Deutschen Bahn AG. An der Finanzierung des Projekts beteiligen sich neben den Vorhabenträgern auch das Land Baden -Württemberg, die Gemeinde Stuttgart, die Flughafen Stuttgart GmbH und der Verband Region Stuttgart als Aufgabenträger.11 Ihre Beteiligung dient der Erreichung städtebaulicher Ziele12 und der Vernetzung aller Verkehrsträger in der Region13. Die Bundesrepublik Deutschland ist an dem Projekt „Stuttgart 21“ lediglich finanziell mit einem Festbetrag in Höhe von 563,8 Mio. Euro beteiligt. Dies entspricht dem Betrag, der für die Einbindung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm im Knoten Stuttgart auch ohne Verwirklichung des Projekts „Stuttgart 21“ erforderlich wäre.15 Rechtsgrundlage hierfür ist nach Angaben der Bundesregierung § 8 Abs. 1 BSWAG.16 3.2. Planfeststellungsverfahren Das Projekt „Stuttgart 21“ umfasst sieben Planfeststellungsabschnitte.17 Durch Beschluss vom 28. Januar 2005 hat das Eisenbahn-Bundesamt die Talquerung in Stuttgart mit dem neuen Hauptbahnhof einschließlich des teilweisen Abrisses des bisherigen Bahnhofsgebäudes (Planfeststellungsabschnitt PFA 1.1) festgestellt.18 Der 9,5 Km lange Tunnel zwischen Stadtmitte und Filderhochfläche („Fildertunnel“) ist als PFA 1.2 mit Beschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 10) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Fragen 3 bis 5, 13, 53 bis 55; Antwort der Bundesregierung vom 6. August 2010, Drs. 17/2723, Frage 16. So auch: § 5 Abs. 1 Satz 1 der Gemeinsamen Erklärung von Bund, Land einschließlich Partner und der DB AG mit ihren Töchtern vom 2. April 2009 (siehe unten: 3.3.5, S. 13). VG Stuttgart, Urteil vom 17. Juli 2009, Az. 7 K 3229/08, Rz. 3 und 70. 11) ; Antwort der Bundesregierung vom 16. September 2008, Drs. 16/10233, zu Fragen 3 und 4; Antwort der Bundesregierung vom 6. Oktober 2010, PlenProt 17/64, Anlage 48, S. 6785. 12) Antwort des Ministeriums für Umwelt und Verkehr vom 12. Dezember 1996, LT BW-Drs. 12/652, zu I. 1. 13) § 2 Abs. 4 Satz 2 des Finanzierungsvertrages vom 2. April 2009 (siehe unten: Fn. 32). . 15) Antwort der Bundesregierung vom 6. August 2010, Drs. 17/2723, Frage 16. Antwort der Bundesregierung vom 25. Oktober 2010, Drs. 17/3446, zu Frage 5. § 5 Abs. 2 der Gemeinsamen Erklärung von Bund, Land einschließlich Partner und der DB AG mit ihren Töchtern vom 2. April 2009 (siehe unten: 3.3.5, S. 13). 16) Antwort der Bundesregierung vom 14. April 2009, Drs. 16/12630, zu Frage 1. 17) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 9; VGH BW, Urteil vom 8. Februar 2007, Az. 5 S 2257/05. 18) Az. 59160 Pap-PS 21-PFA 1.1. Bestätigt durch: VGH BW, Urteil vom 6. April 2006, Az. 5 S 596/05. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 8 19. August 2005 planfestgestellt worden.20 Der PFA 1.2 ist bestandskräftig sei dem 4. Juni 2008. Für den Flughafenbereich, Filderbahnhof Flughafen, Rohrer Kurve (PFA 1.3) steht die Planfeststellung noch aus. Die Feststellung des Plans Filderbereich bis Wendlingen (PFA 1.4) ist bestandskräftig seit dem 18. Juni 2009. Die Zuführung Feuerbach/Bad Cannstatt und die S- Bahnanbindung (PFA 1.5) ist planfestgestellt seit dem 13. Oktober 2006 und bestandskräftig seit dem 13. Januar 2007. Die Planfeststellung der Zuführung Ober-/Untertürkheim Abstellbahnhof (PFA 1.6a) ist seit dem 21. August 2007 bestandskräftig. Für die andere Zuführung Ober- /Untertürkheim und Abstellbahnhof (PFA 1.6b) steht die Planfeststellung noch aus.21 3.3. Vertragliche Beziehungen 3.3.1. Rahmenvereinbarung 1995 In der „Rahmenvereinbarung zum Projekt Stuttgart 21“ vom 7. November 1995 einigten sich die Bundesrepublik Deutschland, das Land Baden-Württemberg, die Gemeinde Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und die Deutsche Bahn AG auf die zeitgleiche Realisierung der Projekte „Stuttgart 21“ und „Neubaustrecke Wendlingen – Ulm“.22 Sie legten fest, dass mit dem Projekt „Stuttgart 21“ der Kopfbahnhof durch einen tiefliegenden Durchgangsbahnhof ersetzt, der heutige Abstellbahnhof nach Untertürkheim verlagert und der Landesflughafen an die Neubaustrecke angebunden werden soll.23 Eine anteilige Finanzierung des Gesamtvorhabens sollte unter anderem mit Mitteln der Gemeindeverkehrsfinanzierung (GVFG)24 und aus Regionalisierungsmitteln erfolgen. Für den Finanzierungsanteil aus dem GVFG wurden Vorhabenteile ausgewählt, die einen vordringlichen Nutzen für den Nahverkehr aufweisen. Die für das Vorhaben zu verwendenden Regionalisierungsmittel stehen in der Disposition des Landes Baden-Württemberg und sind für den Schienenpersonennahverkehr zu verwenden.25 Die Deutsche Bahn AG verpflichtete sich, die Erlöse aus dem Verkauf der freiwerdenden Grundstücksflächen in die Finanzierung des Projektes einfließen zu lassen .26 20) Bestätigt durch: VGH BW, Urteil vom 8. Februar 2007, Az. 5 S 2257/05. 21) Nach Auskunft der Bundesregierung fehlen für die PFA 1.3 und 1.6b „rechtskräftige“ (sic) Beschlüsse, Antwort vom 25. Oktober 2010, Drs. 17/3446, zu Frage 1. 22) Gemeinsame Pressemitteilung des Landes Baden Württemberg, des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stattentwicklung und der DB Netze vom 2. April 2009, Nr. 106/2009. 23) Antwort des Ministeriums für Umwelt und Verkehr vom 12. Dezember 1996, LT BW-Drs. 12/652, zu I. 2. 24) Gesetz über Finanzhilfen des Bundes zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz – GVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Januar 1988 (BGBl. I S. 100), zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2986). 25) Antwort der Bundesregierung vom 16. September 2008, Drs. 16/10233, zu Fragen 25 und 26. 26) Antwort des Ministeriums für Umwelt und Verkehr vom 12. Dezember 1996, LT BW-Drs. 12/652, zu I. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 9 3.3.2. Realisierungsvereinbarung 2001 In einer „Realisierungsvereinbarung“ vom 24. Juli 2001 zwischen dem Land Baden-Württemberg, dem Verband Region Stuttgart, der Deutschen Bahn AG und der Gemeinde Stuttgart regelten die Beteiligten unter anderem den Erwerb bestimmter freiwerdender Bahnflächen, die Übernahme von Investitionskostenrisiken, die zusätzlichen Kosten der Flughafenanbindung.27 3.3.3. Memorandum of Understanding 2007 In einem „Memorandum of Understanding“ (MoU) zur Realisierung der Neubaustrecke Stuttgart- Ulm und des Projekts „Stuttgart 21“ vom 19. Juli 2007 erklärten sich der Bund, das Land Baden- Württemberg, die Deutsche Bahn AG, die Stadt Stuttgart und der Verband Region Stuttgart einig, die beiden Projekte „möglichst frühzeitig zu realisieren“. Sie vereinbarten, die voraussichtlichen Kosten in Höhen von 2 800 Mio. Euro wie folgt zu tragen: Das Land und seine Partner stellen unter anderem aus Mitteln aufgrund des GVFG28 und des Regionalisierungsgesetzes (RegG)29 685 Mio. Euro bereit. Hinzu kommen Mittel aus § 8 Abs. 2 BSWAG in Höhe von 200 Mio. Euro. Die Deutsche Bahn AG wird sich mit 1 115 Mio. Euro beteiligen. Der Bund steuert 500 Mio. Euro bei. Dieses Memorandum wurde unter den Vorbehalt der Zustimmung „der zuständigen Gremien und des BMF sowie der Haushaltsgesetzgeber“ gestellt. Einzelheiten sollten in einem zeitnah abzuschließenden „Finanzierungsvertrag“ geregelt werden.30 In seiner Entschließung vom 25. Juli 2007 stimmte der Landtag von Baden-Württemberg dem Memorandum zu.31 3.3.4. Finanzierungsvertrag zu „Stuttgart 21“ Am 2. April 2009 schlossen – das Land Baden-Württemberg, die Gemeinde Stuttgart, der Verband Region Stuttgart („Land und Partner“), – die Flughafen Stuttgart GmbH sowie – die DB Netz AG, die DB Station & Service AG, die DB Energie GmbH („Eisenbahninfrastrukturunternehmen “) und die Deutsche Bahn AG einen „Finanzierungsvertrag“. Der Finanzierungsvertrag regelt die Durchführung und Finanzierung von Planung und Bau des Projekts „Stuttgart 21“ sowie einen möglichen Ausstieg.32 27) VG Stuttgart, Urteil vom 17. Juli 2009, Az. 7 K3 229/08, Rz. 83. 28) Siehe oben: Fn. 24. 29) Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Regionalisierungsgesetz – RegG) vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378, 2395), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 12. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2871). 30) LTag BW-Drs. 14/1583, Anlage. 31) LTag BW-PlenProt 14/29, S. 1840; LTag BW-Drs. 1583. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 10 3.3.4.1. Projektrealisierung Das Projekt „Stuttgart 21“ soll als Teil des Gesamtprojektes mit der geplanten Neubaustrecke Wendlingen – Ulm zum Zwecke der Verbesserung des Verkehrsangebotes realisiert werden (§ 3 Abs. 1). Beide Projekte sollen gleichzeitig spätestens im Dezember 2019 in Betrieb gehen (§ 2 Abs. 3). Träger des Projekts sind die Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) in Sinne des § 2 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG)33, also die DB Netz AG, die DB Station & Service AG und die DB Energie GmbH (§ 4 des Vertrages). Das besondere Interesse der Bahn AG und der EIU an dem Vertrag besteht darin, dass keine unkalkulierbaren Risiken entstehen und die Wirtschaftlichkeit dargestellt ist (§ 2 Abs. 2 des Vertrages ). 3.3.4.2. Kostentragung Die Gesamtkosten des Projektes werden einschließlich einer unterstellten allgemeinen Kostensteigerung auf 3 076 Mio. Euro festgelegt. Getragen werden sollen die Gesamtkosten durch die EIU in Höhe von 1 300,8 Mio. Euro, durch das Land und seine Partner (Gemeinde und Regionalverband ) in Höhe von 389,4 Mio. Euro in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses, durch die Flughafen Stuttgart GmbH in Höhe von 107,8 Mio. Euro, aus noch zu vereinbarenden Mitteln des Bundes nach § 8 Abs. 1 BSWAG in Höhe von 500 Mio. Euro34, aus Mitteln des Bundes nach § 8 Abs. 1 BSWAG für das Bestandsnetz in Höhe von 300 Mio. Euro, aus Mitteln des Bundes nach § 8 Abs. 2 BSWAG in Höhe von 197 Mio. Euro, aus dem Bundesprogramm nach dem GVFG in Höhe von 281 Mio. Euro. Im Verhältnis zu den EIU trägt das Land für seine Partner alle im Zusammenhang mit den Finanzierungsbeiträgen stehenden Rechte und Pflichten (§ 9 des Vertrages) und steht auch für die Beiträge des Flughafens ein (§ 7 Abs. 3 des Vertrages). Um die Anbindung des Flughafens an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz sicherzustellen , leistete die Flughafen Stuttgart GmbH bereits am 31. Juli 2008 einen einmaligen, festen, nicht rückzahlbaren Zuschuss in Höhe von 112,242 Mio. Euro zum Ausgleich von Betriebsverlusten an die EIU. Nach § 7 Abs. 1 des Vertrages ist dieser Zuschuss „im Falle eines Projektabbruchs gleich aus welchem Grund“ zurückzuzahlen. 32) LTag BW-Drs. 14/4382, Anlage 1. 33) Vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378, 2396; 1994 I S. 2439), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542). 34) An der Zulässigkeit der Finanzierung über § 8 Abs. 1 BSWAG zweifeln Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 11 Ursprünglicher Kostenplan Bahn Bund Land &Partner Flughafen EIU-Finanzierungsbeitrag 1 300,8 Land & Partner: nicht rückzahlbarer Zuschuss 389,4 Flughafen: nicht rückzahlbarer Zuschuss 107,8 Sowiesokosten für Anschluss NBS in Wendlingen 500,0 Ersatzinvestitionen/Schienenbestand nach § 8 Abs. 1 BSWAG 300,0 Nahverkehrsförderung nach § 8 Abs. 2 BSWAG 197,0 GVFG-Bundesmittel (Kofinanzierung durch Land) 168,6 112,4 Summen 1 300,8 1 165,6 501,8 107,8 Gesamthaftung des Landes (einschl. Flughafen) 609,6 3.3.4.3. Risikovorsorge für Kostensteigerungen Zur Tragung von Mehrkosten bis zu 1 450 Mio. Euro haben die Parteien folgendes vereinbart: Zunächst übernehmen die EIU einen weiteren Beitrag in Höhe von bis zu 220 Mio. Euro. Danach leisten das Land, die Stadt und der Flughafen zusammen 780 Mio. Euro (Land & Partner: 660,6 Mio. Euro, Flughafen: 119,4 Mio. Euro). Weitere 290 Mio. Euro sind von den EIU zu tragen. Schließlich haben das Land und die Stadt weitere 160 Mio. Euro zu leisten. Finanzierung mit Risikoaufschlag Bahn Bund Land &Partner Flughafen EIU-Finanzierungsbeitrag 1 810,8 Land & Partner: nicht rückzahlbarer Zuschuss 1 210,0 Flughafen: nicht rückzahlbarer Zuschuss 227,2 Sowiesokosten für Anschluss NBS in Wendlingen 500,0 Ersatzinvestitionen/Schienenbestand nach § 8 Abs. 1 BSWAG 300,0 Nahverkehrsförderung nach § 8 Abs. 2 BSWAG 197,0 GVFG-Bundesmittel (Kofinanzierung durch Land) 168,6 112,4 Summen 1 810,8 1 165,6 1 322,4 227,2 Gesamthaftung des Landes (einschl. Flughafen) 1 549,6 Für Mehrkosten über 1 450 Mio. Euro besteht keine Abrede. In diesem Fall nehmen die EIU und das Land Gespräche auf (§ 8 Abs. 4 des Vertrages). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 12 Nach Auskunft der Bundesregierung vom 6. September 2010 hat die aktuelle Kostenkalkulation der DB AG für „Stuttgart 21“ Gesamtprojektkosten in Höhe von 4 088 Mio. Euro ergeben. 35 3.3.4.4. Kostentragung im Falle des Projektabbruchs Ein Abbruch des Vertrages wegen Kostensteigerungen ist nur bis zum 31. Dezember 2009 vorgesehen . In § 2 Abs. 2 des Vertrages heißt es hierzu: „Für den Fall, dass nach Abschluss der Entwurfsplanung, spätestens jedoch bis zum 31.12.2009, eine Erhöhung der für das Projekt aufzuwendenden Gesamtkosten zu erwarten ist, welche zusätzlich die […] vereinbarten Beträge übersteigt, werden die Vertragsparteien Verhandlungen aufnehmen. Kann danach die Finanzierung nicht sichergestellt werden, wird das Projekt qualifiziert abgeschlossen . Diesenfalls werden die ab Unterzeichnung des Memorandum of Understanding […] angefallenen Kosten, bereits gebundene Kosten sowie Kosten für einen qualifizierten Abschluss des Projekts […] von den EIU zu 60 % und vom Land zu 40 % getragen […]“ 3.3.4.5. Vorbehalte/aufschiebende Bedingungen Der Vertrag wurde „unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die zuständigen Beschluss- und Aufsichtsgremien der Vertragsparteien“ geschlossen (§ 15 Abs. 2 des Vertrages). Jede Seite ist verpflichtet, zeitgerecht die Entscheidung ihrer Gremien herbeizuführen und „einen Entfall der aufschiebenden Bedingung“, also der Zustimmung den anderen Parteien unverzüglich anzuzeigen . Mit der Anzeige gelten die jeweiligen Vorbehalte als ausgeräumt. Der Vertrag steht auch unter dem Vorbehalt, dass sich der Bund für das Projekt „Stuttgart 21“ zur Zahlung von 500 Mio. Euro aus Mitteln nach § 8 Abs. 1 BSWAG verpflichtet und die Finanzierung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm übernimmt. In diesem Fall gilt die Kostentragungsregel für einen Projektabbruch bis zum 31. Dezember 2009 (siehe oben: 3.3.4.4). 3.3.4.6. Kündigungsmöglichkeiten Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 des Vertrages ist eine „ordentliche Kündigung“ ausgeschlossen. 35) Antwort der Bundesregierung vom 7. September 2010, Drs. 17/2892, Frage 123 (S. 77); siehe auch: Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Frage 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 13 3.3.4.7. Entschließung des Landtages Der Landtag von Baden-Württemberg stimmte dem Finanzierungsvertrag in einer Entschließung vom 13. Mai 2009 zu.36 3.3.5. „Gemeinsame Erklärung“ In einer „Gemeinsamen Erklärung zur Realisierung der Projekte ‚Stuttgart 21‘ und ‚NBS Wendlingen – Ulm‘“ vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland, das Land Baden-Württemberg, die Gemeinde Stuttgart, der Verband Region Stuttgart, die Flughafen Stuttgart GmbH, die Deutsche Bahn AG, die DB Netz AG, die DB Station & Service AB und die DB Energie GmbH ebenfalls am 2. April 2009 eine „grundsätzliche“ Zuordnung der Finanzierungsbeiträge zu den beiden Projekten .37 In § 1 Abs. 2 bis 4 der Gemeinsamen Erklärung werden die beiden Projekte voneinander abgegrenzt . Klargestellt worden ist, dass Vorhabenträger und Bauherren des Projektes „Stuttgart 21“ allein die EIU sind (§ 5 Abs. 1 Gemeinsame Erklärung). Der Bund sagte zu, mit den EIU eine Finanzierungsvereinbarung über einen vom Bund zu leistenden Festbetrag in Höhe von 500 Mio. Euro (Preis- und Planungsstand 2004) abzuschließen (§ 5 Abs. 2 Gemeinsame Erklärung). Dies entspricht den „Sowieso-Kosten“, die für die Einbindung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm in den Knoten Stuttgart auch ohne Verwirklichung des Projekts „Stuttgart 21“ erforderlich geworden wären.38 Der Bund erklärte sich in Abstimmung mit dem Land bereit, aus der auf das Land entfallenden Quote Bundesmittel nach § 8 Abs. 2 BSWAG (Nahverkehrsförderung) in Höhe von 197 Mio. Euro bereit zu stellen (§ 5 Abs. 5 Gemeinsame Erklärung). Die EIU werden 300 Mio. Euro aus den für Ersatzinvestitionen bereitgestellten Bundesmitteln für „Stuttgart 21“ einsetzen (§ 5 Abs. 6 Gemeinsame Erklärung). Weitere 281 Mio. Euro können aus dem GVFG-Bundesprogramm beantragt werden (§ 5 Ab. 8 Gemeinsame Erklärung). Weiter sagte der Bund zu, mit den EIU eine Finanzierungsvereinbarung zu der NBS Wendlingen – Ulm abzuschließen, mit der er die Gesamtfinanzierung sicherstellt und das Risiko einer Kostensteigerung trägt (§ 4 Gemeinsame Erklärung). Die „Gemeinsame Erklärung“ selbst begründet keine Zahlungsansprüche. Diese werden erst durch entsprechende Finanzierungsverträge oder Zuwendungsbescheide begründet (§ 3 Satz 2 Gemeinsame Erklärung). In der Folge hat der Bund sich in einer Finanzierungsvereinbarung mit der Deutschen Bahn AG verpflichtet, sich an dem Projekt „Stuttgart 21“ finanziell mit einem Festbetrag in Höhe von 563,8 Mio. Euro zu beteiligen. Rechtsgrundlage ist § 8 Abs. 1 BSWAG. 36) LTag BW-PlenProt 14/66, S. 4760, LTag BW-Drs. 14/4438. 37) LTag BW-Drs. 14/4382, Anlage 2. 38) Antwort der Bundesregierung vom 6. August 2010, Drs. 17/2723, Frage 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 14 3.3.6. Grundstücksverträge An Dritte veräußerte die Bahn Grundstücke für ca. 125 Mio. Euro ohne Rücktrittsrecht. 3.4. Verpflichtungsermächtigungen im Landeshaushalt Die Finanzierung des Projekts „Stuttgart 21“ ist im Staatshaushaltsplan des Landes Baden- Württemberg in Kapitel 0325 (Verkehr) in der Titelgruppe 78 („Finanzierung und Vorsorgebedarf für die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm und für Stuttgart 21“) dargestellt.41 Bereits im Nachtrag 2007/2008 ist für Zuschüsse an die Deutsche Bahn AG für Stuttgart 21 eine Verpflichtungsermächtigung über 169 Mio. Euro erteilt worden (Titel 891 78B).42 Mit dem Staatshaushaltsplan 2009 ist im gleichen Titel eine Verpflichtungsermächtigung über 323,86 Mio. Euro erteilt worden . Eine weitere Verpflichtungsermächtigung über 255,74 Mio. Euro ist im Titel 891 80 (Investitionszuschüsse an öffentliche Unternehmen) veranschlagt.43 Damit durfte sich die Landesregierung bis zu einer Höhe von 748,6 Mio. Euro verpflichten. Für die Abdeckung des Risikos einer Kostensteigerung ist in § 5 Abs. 2 Nr. 3 des Staatshaushaltsgesetzes 2009 die Ermächtigung erteilt, Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt 940 Mio. Euro zu übernehmen. 4. Bindungen des Landes an das Projekt „Stuttgart 21“ Das Projekt „Stuttgart 21“ steht und fällt mit der finanziellen Beteiligung des Landes Baden- Württemberg. Dies hat die Deutsche Bahn AG mehrfach deutlich gemacht. Sowohl in dem „Memorandum of Understanding“ vom 19. Juli 200744 als auch in der Finanzierungsvereinbarung vom 2. April 200945 verfolgte sie vor allem das Ziel, „im Hinblick auf die Zukunft des Unterneh- 41) Zu den haushaltsrechtlichen Grundlagen vgl.: Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 13 f.; Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 25 f. 42) Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Staatshaushaltsplan von Baden-Württemberg für die Haushaltsjahre 2007 und 2008 vom 21. Dezember 2007 (GBl. S. 609). 43) Gesetz über die Feststellung des Staatshaushaltsplans von Baden-Württemberg für das Haushaltsjahr 2009 (Staatshaushaltsgesetz 2009 – StHG 2009) vom 18. Februar 2009 (GBl. S. 65). 44) Siehe oben: 3.3.3 (S. 9). 45) Siehe oben: 3.3.4 (S. 9). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 15 mens […] für die DB AG und die EIU aus der Realisierung des Gesamtvorhabens keine unkalkulierbaren Risiken entstehen“ zu lassen. Sollten die ursprünglich geplanten Ausgaben von 3 076 Mio. Euro eingehalten werden, wäre das Land mit 389,4 Mio. Euro beteiligt (12,7 Prozent). § 8 des Finanzierungsvertrages regelt den Umgang mit Kostensteigerungen. Werden die Kosten überschritten, übernehmen die EIU einen weiteren Finanzierungsbeitrag i.H.v. bis zu 220 Mio. Euro. Danach leisten das Land, die Stadt Stuttgart und der Flughafen einen weiteren Beitrag von bis zu 220 Mio. Euro. Sollten die Kosten um mehr als 1 000 Mio. Euro steigen, leisteten die EIU weitere Finanzierungsbeiträge i.H.v. 160 und 130 Mio. Euro. Danach würden das Land und die Stadt einen Beitrag von 160 Mio. Euro leisten. Der Umgang mit weiteren Kostensteigerungen ist nicht geregelt. Allerdings haben sich die Vertragspartner zu Verhandlungen hierüber verpflichtet. Für die Möglichkeit der Beendigung des Projekts durch das Land, kommt es darauf an, ob Baden- Württemberg verpflichtet ist, an seiner Beteiligung festzuhalten. 4.1. Bundesrechtliche Bindung des Landes Das Land Baden-Württemberg könnte durch Bundesgesetz oder Entscheidungen der Bundesverwaltung verpflichtet sein, an dem Projekt „Stuttgart 21“ festzuhalten. 4.1.1. Bindung durch Bundesgesetz Der Bund hat nach Artikel 73 Abs. 1 Nr. 6a des Grundgesetzes (GG) die ausschließliche Gesetzgebung über den Verkehr von Eisenbahnen, die ganz oder mehrheitlich im Eigentum des Bundes stehen (Eisenbahnen des Bundes), den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes sowie die Erhebung von Entgelten für die Benutzung dieser Schienenwege. Von dieser Kompetenz umfasst ist auch die Planung, der Bau, die Änderung und die Unterhaltung von Bahnanlagen.46 Zu diesen Betriebsanlagen gehören neben den Schienenwegen auch Bahnhöfe.47 Durch Bundesgesetz darf auch ein konkretes Verkehrsvorhaben zugelassen werden.48 Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz mit dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) Gebrauch gemacht. Dieses regelt unter anderem die Eisenbahnaufsicht, die Aufnahme eines Eisenbahnbetriebes , Beförderungspflichten und den Zugang zu Eisenbahninfrastrukturen sowie die Planfeststellung für den Bau oder die Änderung von Eisenbahnbetriebsanlagen. Es dient der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn und eines attraktiven Verkehrsangebotes auf der Schiene sowie der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs auf der 46) Kirchhof (Fn. 1), S. 32; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 45. 47) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 12. Zur Frage, ob Bahnhöfe zu den Betriebsanlagen der Bahn gehören, siehe: Ronellenfitsch, Privatisierung und Regulierung des Eisenbahnvermögens, DÖV 1996, S. 1028 [1033 f.]: Bei modernen Bahnhöfen ist nur ein Teil für den Bahnverkehr notwendig. Für sonstige Einrichtungenim Bahnhof ohne Bezug zum Bahnbetrieb können in Abstimmung mit dem eisenbahnrechtlichen Planungsträger bauplanerische Festsetzungen über Art und Maß der Nutzung der Bahnhofsgebäude getroffen werden 48) BVerfGE 95, 1 [18]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 16 Schiene bei dem Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen und dem Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen (§ 1 Abs. 1 AEG). Bestimmte Eisenbahnstrecken oder Vorgaben für den Bau bestimmter Bahnhöfe sieht das AEG nicht vor. Anderes könnte sich aus dem BSWAG49 ergeben. Gemäß § 1 des Gesetzes wird ein Bedarfsplan für die Bundesschienenwege aufgestellt, der für die Feststellung des Bedarfs für die Planfeststellung verbindlich ist.50 Finanziert werden die Schienenwege durch den Bund im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel (§ 8 Abs. 1 BSWAG). Der Bedarfsplan ist in einer Anlage zu § 1 dem Gesetz angehängt, das für konkrete Bauvorhaben einen vordringlichen oder einen weiteren Bedarf definiert. Mit Aufnahme eines Vorhabens in den Bedarfsplan konkretisiert der Bund das öffentliche Interesse an einem Vorhaben.51 Im Bedarfsplan ist keine Bestimmung über den Zeitpunkt der Realisierung einer Maßnahme enthalten. Hierüber entscheidet das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Einvernehmen mit der Deutschen Bahn AG im Rahmen der vom Parlament zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel.52 Sonstige Vorhaben, die nicht in den Bedarfsplan aufgenommen sind, werden dem unternehmerischen Interesse der Eisenbahnen des Bundes zugeordnet. Die Finanzierungsverantwortung für solche Vorhaben fällt rechtlich allein der Deutschen Bahn AG zu.53 Aufgenommen in den Bedarfsplan ist als Vorhaben des vordringlichen Bedarfs die Ausbau- bzw. Neubaustrecke Stuttgart – Ulm – Augsburg (1. a) lfd. Nr. 20). Nach Auffassung der Bundesregierung ist das Projekt „Stuttgart 21“ anders als die Neubaustrecke nicht im Bedarfsplan des Bundes aufgeführt.54 Dies hat auch die Deutsche Bahn AG als Holding der Vorhabenträgerinnen in der Gemeinsamen Erklärung vom 2. April 2009 erklärt.55 Demgegenüber vertritt Kirchhof die Auffassung, im Bedarfsplan sei „die Neu- und Ausbaustrecke Stuttgart – Ulm – Augsburg einschließlich Einbindung in den Knoten Stuttgart“ enthalten und damit sei „das Vorhaben der Modernisierung und des Ausbaus des Eisenbahnknoten Stuttgart […] von einer gem. § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG geforderten Planrechtfertigung getragen“. Das mache eine „Einwirkung des Landesstaatsvolkes durch Landesgesetzgebung auf diese Planungen […] unzulässig“.56 Der Wortlaut des Bedarfsplans spricht für die Auffassung der Bundesregierung. Anders als die Knoten Berlin, Dresden, Erfurt, Halle/Leipzig und Magdeburg (lfd. Nr. 27) ist der Knoten Stutt- 49) Siehe oben: Fn. 5. 50) Kirchhof (Fn. 1), S. 34. 51) Begründung des Gesetzentwurfs zum BSWAG, Drs. 12/3500, S. 7; Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 14. 52) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Frage 8. 53) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 14 f. 54) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Fragen 3 bis 5; Antwort der Bundesregierung vom 6. August 2010, Drs. 17/2723, Frage 16; ; Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 16 ff. 55) § 1 Abs. 1 Satz 1 der Gemeinsamen Erklärung von Bund, Land einschließlich Partner und der DB AG mit ihren Töchtern vom 2. April 2009 (siehe oben: 3.3.5, S. 13). 56) Kirchhof (Fn. 1), S. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 17 gart gerade nicht aufgeführt. Hätte der Bundesgesetzgeber den Aus- oder Umbau des Knoten Stuttgart in den Bedarfsplan aufnehmen wollen, wäre der Knoten ausdrücklich aufgeführt worden .57 Ein Eisenbahnknoten ist auch nicht notwendiger Bestandteil einer Neubau- oder Ausbaustrecke . So sind neben der Aufführung der ABS/NBS Nürnberg-Erfurt (Nr. 9) und der NBS/ABS Erfurt-Leipzig/Halle (Nr. 10) als „Ausbau von Knoten“ Erfurt und Halle/Leipzig gesondert ausgewiesen . Der Knoten Stuttgart ist auch nicht implizit Teil der Neubaustrecke. Die Realisierung des Projekts „Stuttgart 21“ ist nach Auffassung der Bundesregierung keine notwendige Bedingung für die Realisierung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.58 Durch ein Bundesgesetz ist das Land Baden-Württemberg nicht verpflichtet, an dem Projekt „Stuttgart 21“ festzuhalten. 4.1.2. Bindungen durch die Bundesverwaltung Nach Artikel 87e GG wird die Eisenbahnverkehrsverwaltung für Eisenbahnen des Bundes in bundeseigener Verwaltung durchgeführt. Der Begriff der Eisenbahnverkehrsverwaltung umfasst alle hoheitlichen Ordnungs- und Steuerungsaufgaben, die das Eisenbahnwesen einschließlich des Baus und des Betriebs der Eisenbahn betreffen.59 „Eisenbahnverkehrsverwaltung“ umfasst damit zwei Teilkomponenten, zum einen ein ordnungsrechtliches und zum andern ein infrastrukturelles Element.60 4.1.2.1. Infrastrukturauftrag Aus Artikel 87e Abs.4 GG ergibt sich, dass der Bund zur Gewährleistung des Bedarfs an Verkehrsinfrastruktur tätig werden darf bzw. muss. Diese Verpflichtung setzt voraus, dass der Bund über die Verwaltungszuständigkeit für den Ausbau und den Erhalt des Schienennetzes verfügt. Andernfalls könnte er den Gewährleistungsauftrag nicht erfüllen.61 Er hat also die Kompetenz, im Bereich der Eisenbahnen selbst tätig zu werden. Für Dolde/Porsch folgt aus der „ausschließlichen Verwaltungskompetenz des Bundes“ für die Durchführung des Vorhabens „Stuttgart 21“, dass dem Land die Kompetenz für die Aufhebung von vertraglichen Verpflichtungen, die den Bau der Eisenbahnanlagen für das Projekt „Stuttgart 21“ betreffen, fehlt.62 Auch Kirchhof sieht hier eine Bundeskompetenz für die „Exekutivplanung“ 57) Zu dieser Einschätzung tendiert auch der VGH BW in seiner Entscheidung vom 6. April 2006, Az. 5 S 596/05, Rz. 40: „Zweifelhaft und wohl zu verneinen ist dies, weil der Neubau bzw. Ausbau des Eisenbahnknotens Stuttgart in Abschnitt 1a […] bei den in Nr. 27 näher bezeichneten Knoten nicht aufgeführt ist […]. Dass Abschnitt 1a Nr. 20 des Bedarfsplans nicht auch den Knoten Stuttgart umfasst, legt auch die in dem […] Bundesverkehrswegeplan enthaltene Beschreibung des entsprechenden Maßnahmenumfangs nahe […].“ Ebenso: VGH BW, Urteil vom 8. Februar 2007, Az. 5 S 2257/05, Rz. 62. 58) Antwort der Bundesregierung vom 8. März 2010, Drs. 17/955, Frage 6. 59) Kirchhof (Fn. 1), S. 35; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 46. 60) Gersdorf, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 5. Auflage 2005, Art. 87e, Rn. 19. 61) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 48. 62) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 48, 51 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 18 und hält es mangels Landeskompetenz für unzulässig, dass das Land über die Fortsetzung und weitere Finanzierung von „Stuttgart 21“ entscheidet.63 Das Projekt „Stuttgart 21“ ist jedoch kein Projekt des Bundes. Nach Auffassung der Bundesregierung und der am Projekt Beteiligten wird das Vorhaben alleine von den Bahntöchtern getragen. Das Land und seine Partner beteiligen sich an dem Vorhaben als Aufgabenträger. Nach Angaben der Landesregierung sollen städtebauliche Ziele64 und die Vernetzung aller Verkehrsträger in der Region65 erreicht werden. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass der Bund sich nicht an der Finanzierung beteiligt. Der Bund trägt nur die Kosten, die für die Einbindung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm im Knoten Stuttgart auch ohne Verwirklichung des Projekts „Stuttgart 21“ erforderlich wären. Nach Artikel 104a Abs. 1 GG tragen der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Wenn die Länder im Auftrage des Bundes handeln, trägt der Bund die sich daraus ergebenden Aufgaben (Artikel 104a Abs. 2 GG). Fehlte dem Land die Verwaltungskompetenz zur Beteiligung an dem Vorhaben „Stuttgart 21“, hätte es sich an der Finanzierung nicht beteiligen dürfen. Offenbar gingen bislang sowohl der Bund als auch das Land davon aus, dass dem Land eine Verwaltungskompetenz zusteht. Ist das Land als Aufgabenträger zuständig, sich an der Finanzierung des Vorhabens zu beteiligen, dann ist es auch zuständig, über einen „Ausstieg“ aus der Finanzierung zu entscheiden. 4.1.2.2. Planfeststellung Zur hoheitlichen Ordnungsaufgabe der Eisenbahnverkehrsverwaltung gehört die Ausführung von Gesetzen in verwaltungsmäßiger Weise, insbesondere die Wahrnehmung von Aufsichts- und Genehmigungsbefugnissen . Dazu gehört z.B. die Bundeszuständigkeit für die Durchführung der Planfeststellung nach § 18 Abs. 1 AEG.66 Zuständige Behörde ist das Eisenbahn-Bundesamt.67 Das Eisenbahn-Bundesamt hat gemäß § 18 AEG einige Planfeststellungsabschnitte des Projektes „Stuttgart 21“ planfestgestellt. Gemäß § 18c AEG in Verbindung mit § 75 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG)68 wird durch die Planfeststellung die Zulässigkeit des Vorhabens einschließlich der notwendigen Folgemaßnahmen an anderen Anlagen im Hinblick auf alle von ihm berührten öffentlichen Belange festgestellt. Alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Träger des Vorhabens und den durch den Plan Betroffenen werden rechtsgestaltend geregelt. 63) Kirchhof (Fn. 1), S. 35. 64) Antwort des Ministeriums für Umwelt und Verkehr vom 12. Dezember 1996, LT BW-Drs. 12/652, zu I. 1. 65) § 2 Abs. 4 Satz 2 des Finanzierungsvertrages vom 2. April 2009 (siehe unten: Fn. 32). 66) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 13. 67) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 46. Im Einzelnen siehe Entwurfsbegründung zu dem Eisenbahnneuordnungsgesetz, Drs. 12/4609, S. 57. 68) In der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 14. August 2009 (BGBl. I S. 2827) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 19 Die erste Rechtswirkung der Planfeststellung besteht in der Genehmigungswirkung.69 Durch den Planfeststellungsbeschluss wird die öffentlich-rechtliche Zulässigkeit des Vorhabens im Hinblick auf alle von dem Vorhaben berührten Belange festgestellt. Neben der Planfeststellung sind andere behördliche Entscheidungen in Bezug auf die Zulässigkeit des Vorhabens nicht erforderlich (Konzentrationswirkung). Sie ersetzt also andere Genehmigungen sowie Ausnahmen und Befreiungen von gesetzlichen Verboten, die für die Verwirklichung des Vorhabens erforderlich sind.70 Aus der Planfeststellung folgt eine Pflicht des Landes zur Duldung des Vorhabens, nicht aber eine Verpflichtung des Landes zur finanziellen Beteiligung an dem Projekt. Die Planfeststellung begründet auch kein rechtlich geschütztes Vertrauen der Deutschen Bahn AG darauf, dass andere sich an der Finanzierung des Projektes beteiligen.71 4.2. Landesrechtliche Bindungen an das Projekt „Stuttgart 21“ 4.2.1. Haushaltsrecht Mit einem Ausstieg aus der Finanzierung des Projekts „Stuttgart 21“ könnte gegen das Haushaltsrecht verstoßen werden. Im Staatshaushaltsplan sind Mittel zur Erfüllung des Finanzierungsvertrages eingestellt (siehe oben: 3.4, S. 14). Durch einen Ausstieg aus dem Vertrag entfiele die Verpflichtung des Landes, die im Haushaltsgesetz veranschlagten Ausgaben zu leisten.72 Dolde /Porsch legen nahe, mit dem Ausstieg würde gegen die dem Ausgabeposten im Staatshaushaltsplan zugrunde liegende sachliche Entscheidung über die Realisierung des Projekts verstoßen .73 Ein Ausstieg aus dem Vertrag erforderte „zwingend“ eine Änderung des bestehenden Haushaltsgesetzes.74 Aus dem Umstand, dass in den Staatshaushaltsplan des Landes Baden-Württemberg Verpflichtungsermächtigungen für das Projekt „Stuttgart 21“ eingestellt wurden, ergeben sich keine Bindungen des Landes. Der Haushaltsplan ermächtigt nach § 3 Abs. 1 der Landeshaushaltsordnung für Baden-Württemberg (LHO BW)75 lediglich die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen.76 Ansprüche oder Verbindlichkeiten werden durch den Haushaltsplan weder begründet noch aufgehoben (§ 3 Abs. 2 LHO BW). Eine Verpflichtung, die bewilligten 69) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 27. 70) Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar, 7. Auflage 2008, § 75, Rn. 10. 71) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 28. 72) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 50. 73) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 50. 74) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 57. 75) Gesetz vom 19. Oktober 1971 (GBl. S. 428), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 1. März 2010 (GBl. S. 265, 267). 76) Kirchhof (Fn. 1), S. 38; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 50. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 20 Ausgaben zu leisten, begründet die Veranschlagung im Haushaltsplan nicht.77 Einen individuellen Leistungsanspruch kann z.B. ein sachregelndes Gesetz begründen78 oder eben ein Vertrag. 4.2.2. Beschlüsse des Landtages In seiner Entschließung vom 12. Oktober 2006 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg, „mit Nachdruck die Bemühungen um das Gesamtprojekt Neubaustrecke Stuttgart– Ulm/Stuttgart 21 und die Initiative, möglichst rasch eine Grundsatzentscheidung über die Realisierung dieses Gesamtprojektes herbeizuführen“, zu unterstützen.79 Am 25. Juli 2007 stimmte der Landtag dem „Memorandum of Understanding“ vom 19. Juli 2007 in Form einer Entschließung zu.80 Dem Finanzierungsvertrag vom 2. April 2009 stimmte der Landtag in seiner Entschließung vom 13. Mai 2009 zu.81 Fraglich ist, welche rechtlichen Wirkungen von derartigen Entschließungen ausgehen. „Entschließungen“ des Parlaments sind anders als z. B. Gesetzesbeschlüsse, Beschlüsse zur Einsetzung von Ausschüssen oder Wahlen in der Regel politische Willensbekundungen, die nicht auf eine Rechtswirkung gerichtet sind („schlichte Parlamentsbeschlüsse“).82 Beschlüsse des Parlaments habe die rechtliche Wirkung, die ihnen die Verfassung, die Geschäftsordnung oder einfache Gesetze verleihen. Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LVerf BW) nennt neben Wahlen und Gesetzesbeschlüssen die „Stellungnahmen des Landtages“ zu Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, welche die Landesregierung zu berücksichtigen hat (Art. 34a Abs. 2 LVerf BW). § 49a der Geschäftsordnung des Landtages (GO LT BW) kennt „Entschließungen zu Gesetzentwürfen“. Weder die LVerf BW noch die GO LT BW sehen für „Entschließungen“ Rechtsfolgen vor. 4.3. Vertragliche Bindungen Das Land Baden-Württemberg hat sich spätestens mit dem Finanzierungsvertrag vom 2. April 2009 insbesondere gegenüber den Vorhabenträgern, den Eisenbahninfrastrukturunternehmen, im 77) Heintzen, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 5. Auflage, München 2003, Art. 110, Rn. 32; Hillgruber, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 5. Auflage, München 2005, Art. 110, Rn. 61; Maunz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 58. Ergänzungslieferung 2010, Art. 110, Rn. 15. 78) Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, 505 [508]. 79) LTag BW-PlenProt 14/10, S. 417; LTag BW-Drs. 14/381. 80) LTag BW-PlenProt 14/29, S. 1840; LTag BW-Drs. 1583. 81) LTag BW-PlenProt 14/66, S. 4760, LTag BW-Drs. 14/4438. 82) Achterberg/Schulte, in: Mangoldt/Klein/Strack, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Auflage 2005, Art. 42, Rn. 31; Versteyl, in: Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 5. Auflage 2001, Art. 42, Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 21 Wesentlichen verpflichtet, zu dem Projekt „Stuttgart 21“ einen erheblichen, nicht rückzahlbaren Zuschuss zu leisten (siehe oben: 3.3.4.2 f., S. 10 ff.).83 Nach Auffassung des VG Stuttgart hatten sich die Beteiligten bereits mit der Rahmenvereinbarung von 1995 (siehe oben: 3.3.1, S. 8) rechtsverbindlich verpflichtet, das Projekt zu entwickeln, zu fördern und die Kosten zu übernehmen. Spätestens jedoch in der Realisierungsvereinbarung aus dem Jahr 2001 (siehe oben: 3.3.2, S. 9) sei jedenfalls die Projektbeteiligung der Gemeinde Stuttgart verbindlich vereinbart worden.84 5. Ausstiegsmöglichkeiten 5.1. Aufhebung der Planfeststellungsbeschlüsse Ein Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ könnte durch eine Aufhebung der Planfeststellungsbeschlüsse erreicht werden. Dies hätte zur Folge, dass die planfestgestellten Maßnahmen nicht mehr durchgeführt werden dürften. Zuständig für eine Aufhebung der Planfeststellungsbeschlüsse wäre das Eisenbahn-Bundesamt als Planfeststellungsbehörde. Planfeststellungsbeschlüsse sind Verwaltungsakte i.S.d. § 35 VwVfG, die in einem besonderen Verfahren zu Stande kommen.85 Die Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten (§§ 48, 49 VwVfG) finden grundsätzlich auch auf Planfeststellungsbeschlüsse Anwendung; allerdings werden sie durch die Möglichkeit einer nachträglichen Planergänzung (§ 76 VwVfG) sowie einer Planaufhebung im Falle der Aufgabe eines Vorhabens (§ 77 VwVfG) weitgehend verdrängt. Anwendbar bleibt jedoch § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 VwVfG.86 Danach können rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte widerrufen werden, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen. Die Planfeststellungsbeschlüsse zu „Stuttgart 21“ begünstigen die Vorhabenträgerin DB Netz AG. Einige von ihnen wurden einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen.87 Anhaltspunkte für Rechtsmängel an den anderen Planfeststellungsbeschlüssen sind nicht erkennbar . Der Widerruf der Planfeststellungsbeschlüsse müsste erfolgen, „um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen“. Der Begriff des Gemeinwohls ist eng auszulegen und kann nur dann bejaht werden, wenn besondere, erhebliche, überragende Interessen der All- 83) So auch: Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 5 f.; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 9 ff., 59 ff. 84) VG Stuttgart, Urteil vom 17. Juli 2009, Az. 7 K3 229/08, Rz. 115. Hierzu auch: Zielcke, Der unheilbare Mangel, Süddeutsche Zeitung vom 19. Oktober 2010. 85) Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 74, Rn. 19. 86) BVerwG, Urteil vom 21. Mai 1997, Az. 11 C 1/96, Rz. 26 ff. (BVerwGE 105, 6); Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 72, Rn. 131. 87) VGH BW, Urteil vom 6. April 2006, Az. 5 S 596/05: Die Klage des BUND gegen die Feststellung des PFA 1.1 wurde als unbegründet abgewiesen; VGH BW, Urteil vom 8. Februar 2007, Az. 5 S 2257/05. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 22 gemeinheit betroffen sind.88 Dafür ist die bloße wirtschaftliche Nachteiligkeit für die öffentliche Hand, etwa infolge einer Kostensteigerung, nicht ausreichend.89 Ein überragendes Interesse der Allgemeinheit könnte der Fortbestand des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat und seine Institutionen sein. Dieses müsste durch außergewöhnliche Umstände , vergleichbar mit einer Katastrophensituation, gefährdet sein.90 Zwar gab es in den letzten Wochen zahlreiche Proteste gegen das Projekt „Stuttgart 21“, bei denen es in einzelnen Fällen zu umstrittenen Polizeimaßnahmen kam. Dass hierdurch das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und seine Institutionen grundlegend erschüttert wurde, dürfte aber eher nicht anzunehmen sein. Ein Widerruf der Planfeststellungsbeschlüsse zur Verhütung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl kommt derzeit nicht in Betracht. 5.2. Kündigung des Finanzierungsvertrages Ein einseitiger Ausstieg aus dem Projekt ist nach dem Vertrag nicht mehr vorgesehen. Für den Fall, dass die Finanzierung wegen Erhöhung der Gesamtkosten nicht mehr sichergestellt ist, konnte bis spätestens 31. Dezember 2009 das „Projekt qualifiziert abgeschlossen“ werden. Eine ordentliche Kündigung ist nach § 15 Abs. 1 Satz 2 des Vertrages ausdrücklich ausgeschlossen. 5.2.1. Anwendbares Recht für eine außerordentliche Kündigung In Betracht kommt die Kündigung im Falle einer nachträglichen Änderung der Verhältnisse oder einer Gefahr schwerer Nachteile für das Gemeinwohl nach § 60 VwVfG91 oder wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB92. Zu klären ist, ob es sich bei dem Vertrag um einen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag handelt.93 Ein öffentlich-rechtlicher Vertrag i.S.d. § 54 VwVfG liegt vor, wenn der Vertrag sich auf Gegenstände bezieht, die durch öffentlich-rechtliche Vorschriften geregelt sind.94 Der Finanzierungsvertrag regelt die Finanzierung einer planfestgestellten Infrastrukturmaßnahme, die anteilig aus Haushaltsmitteln des Landes Baden-Württemberg erfolgen soll. Der Sache nach handelt es sich hierbei um eine Subvention des Landes. Diese kann sowohl durch Verwaltungsakt als auch durch Vertrag gewährt werden. Üblicherweise erfolgt die Subventionsgewährung in zwei Stufen: 88) Bader/Ronellenfitsch, Online-Kommentar VwVfG, Stand 1. Juli 2010, § 49, Rn. 64; Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs, (Fn. 70), § 60, Rn. 28; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 19. 89) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 28; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 71. 90) Vgl. OVG Berlin, LKV 2004, 33; Bader/Ronellenfitsch (Fn. 88), § 49, Rn. 66. 91) Ob hier das VwVfG des Bundes oder des Landes einschlägig ist, kann dahin stehen. § 60 ist in beiden Gesetzen textidentisch. Zu dieser Frage eingehend: Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 21 ff. 92) Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Juli 2010 (BGBl. I S. 977). 93) Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch, Verwaltungsverfahrensgesetz, München 2010, § 60, Rn. 1. 94) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 54, Rn. 76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 23 Die Entscheidung über das „Ob“ einer Subvention erfolgt durch Verwaltungsakt und das „Wie“ durch privatrechtlichen Vertrag.95 Vorliegend erging jedoch kein Bescheid über das „Ob“ der Subventionsgewährung, so dass ein Subventionsvertrag vorliegt, der jedenfalls, soweit es um die Beteiligung des Landes an der Finanzierung geht, dem öffentlichen Recht unterfällt. Andere Bestandteile des Vertrages könnten durchaus als privatrechtliche Reglungen zu qualifizieren sein. Bei dem Finanzierungsvertrag handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag.96 Das Land Baden-Württemberg verpflichtete sich zu der Subvention des Vorhabens im öffentlichen Interesse (siehe oben: 3.1, S. 7). Die Bestimmung ist nicht durch § 15 Abs. 1 Satz 2 des Vertrages abbedungen. Dieser schließt nur eine ordentliche Kündigung aus. Bei der Kündigungsmöglichkeit nach § 60 VwVfG handelt es sich um den allgemeinen Rechtsgrundsatz des Wegfalls der Geschäftsgrundlage („clausula rebus sic stantibus“). Diese zwingende Norm kann grundsätzlich vertraglich nicht abbedungen werden .97 5.2.2. Wesentliche Änderung der Verhältnisse Für die Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist erforderlich ist, dass „die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert [haben], dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist“. Die Kündigung ist aber nur zulässig, sofern eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist. Wesentlich ist eine Änderung der Verhältnisse, wenn Umstände eingetreten sind, mit denen die Vertragspartner bei Abschluss des Vertrages nicht gerechnet haben und die bei objektiver Betrachtung so erheblich sind, dass davon auszugehen ist, dass der Vertrag bei Kenntnis dieser Umstände nicht mit demselben Inhalt geschlossen worden wäre.98 Die Verhältnisse können sich in rechtlicher oder in tatsächlicher Hinsicht geändert haben.99 Im Bereich der tatsächlichen Verhältnisse liegen Änderungen des Preis- oder Kostenniveaus, des Standes der Technik, der naturwissenschaftlichen , medizinischen oder anderer Erkenntnisse.100 Gleiches gilt für fortschreitende 95) Vgl. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 54, Rn. 166; zur Abgrenzung der unterschiedlichen Formen der Subventionsgewährung: Schlette, Volker, Die Verwaltung als Vertragspartner, Tübingen 2000, S. 144 ff. 96) So auch: Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 59 f und Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 19 f. 97) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 6; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 11. Auflage, München 2010, § 60, Rn. 1 f; Schliesky, in: Knack/Henneke, Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar, 9. Auflage 2010, § 60, Rn. 1; Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar, 2 Auflage 2010, § 60, Rn. 3. 98) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 8; Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 6; Ziekow (Fn. 97), § 60, Rn. 5. 99) Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 7; Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 6; Ziekow (Fn. 97), § 60, Rn. 4. 100) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 9; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 8; Spieth, in: Bader /Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 24 städtebauliche Entwicklungen.101 Unter rechtlichen Verhältnissen sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen eines Vertrages, insbesondere die Rechtsvorschriften zu verstehen.102 Es darf sich aber nicht um Rechtsvorschriften handeln, die von der Verwaltung selbst herbeigeführt werden .103 Maßgebend sind Verhältnisse, die von beiden Vertragsparteien ausdrücklich oder stillschweigend zur gemeinsamen und wesentlichen Grundlage des Vertrages gemacht worden sind.104 Bei der Feststellung der Vertragsgrundlage kommt es auf die Vorstellung der Vertragsschließenden zur Zeit des Vertragsabschlusses an.105 Ausreichend ist, dass die fraglichen Umstände nur von einer Vertragspartei zugrundegelegt wurden, sofern dies den anderen Vertragspartnern bei Vertragsabschluss erkennbar war und nicht beanstandet wurde.106 Nicht ausreichend ist, dass die fraglichen Verhältnisse lediglich zum Motivationsbereich einzelner oder aller Vertragspartner gehörten, ohne dass diese Ziele, Absichten, Erwartungen oder sonstigen Vorstellungen Geschäftsgrundlage geworden wären.107 Die Verhältnisse müssten sich nachträglich, das heißt nach Vertragsabschluss geändert haben. Dafür reicht es, wenn die Vertragsparteien bei Abschluss des Vertrages einem Tatsachenirrtum unterlagen und dieser Irrtum nach Vertragsabschluss aufgedeckt wurde.108 Die Änderung der Verhältnisse muss so wesentlich sein, dass einer Partei das Festhalten an der ursprünglichen Vereinbarung nicht mehr zuzumuten ist.109 Da der Grundsatz der Vertragstreue auch im öffentlichen Recht nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf, soll dies nur in Betracht kommen, wenn untragbare, mit Recht und Gerechtigkeit schlechterdings unvereinbare Ergebnisse im öffentlichen Interesse vermieden werden müssen.110 Zumutbar ist ein Festhalten am Vertrag, wenn die Änderung nach den zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen in den Risikobereich jener Partei fallen soll.111 Eine solche Risikozuweisung kann sich aus dem Vertrag selbst sowie aus außerhalb des Vertragstextes liegenden Umständen ergeben.112 Nicht zuzumuten ist das Festhalten an dem Vertrag, wenn der Rahmen des Risikos überschritten wird, den der Vertragspartner bei Abwägung aller Umstände, einschließlich der Interessen der übrigen Vertrags- 101) Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 8. 102) Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 8. 103) Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 9; Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 8. 104) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 10; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 61. 105) BVerwGE 25, 299-305 (Rz. 55). 106) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 10; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 13; Spieth, in: Bader /Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 5; Ziekow (Fn. 97), § 60, Rn. 4. 107) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 10. 108) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 13; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 11; Ziekow (Fn. 97), § 60, Rn. 4. A.A. Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 14. 109) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 62. 110) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 18; Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 10. 111) Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 16. 112) Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Fn. 93), § 60, Rn. 12; Ziekow (Fn. 97), § 60, Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 25 partner nach Treu und Glauben hinzunehmen hat.113 Wo das der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.114 5.2.2.1. Mögliche breite Ablehnung des Projekts durch die Bevölkerung Für Hermes/Wieland gehören zu den grundlegenden Umständen, die für den Vertragsschluss maßgeblich waren, „die haushalts-, verkehrs-, wirtschafts- und strukturpolitischen Erwägungen des öffentlichen Interesses“. Diese „bisherige positive politische Gesamteinschätzung des Projektes Stuttgart 21“ wäre hinfällig, wenn das Projekt in einer Volksabstimmung abgelehnt würde. Mit einem in Gesetzesform gefassten Volkswillen würde festgestellt, dass nicht nur Einzelheiten oder Modalitäten des Finanzierungsvertrages, sondern seine Grundlage im Kern entfiele. In der Folge wäre ein weiteres Festhalten an dem Finanzierungsvertrag dem Land Baden-Württemberg nicht zuzumuten.115 Nach Dolde und Porsch soll es sich hierbei aber um keine nachträgliche Änderung der Umstände handeln. Das Projekt sei „bereits vor Abschluss der Finanzierungsvereinbarungen Gegenstand der öffentlichen Diskussion gewesen“.116 Außerdem sei bei der Frage, ob das weitere Festhalten an dem Vertrag zuzumuten sei, zu berücksichtigen, dass derjenige, der die entscheidende Änderung der Verhältnisse vorsätzlich herbeiführt oder sonst selbst bewirkt, aus dem dadurch herbeigeführten Wegfall der Geschäftsgrundlage keine Rechte herleiten kann.117 Dem ist entgegen zu halten , dass eine öffentliche Diskussion über einen Gegenstand nicht mit einer breiten Ablehnung gleichzusetzen ist. Auch hätte der Vertragspartner Land nicht die Ablehnung durch die Bevölkerung vorsätzlich herbeigeführt oder sonst selbst bewirkt. Durch eine Volksbefragung würde diese gegebenenfalls erst ermittelt. Im Falle von Stuttgart 21 ist entscheidend, ob sich die Vertragsparteien bei Vertragsschluss über die durch eine Volksbefragung erst noch zu ermittelnde Ablehnung in der Bevölkerung gleichermaßen geirrt haben und ob tatsächlich die breite Mehrheit der Bevölkerung das Projekt in einem Ausmaße ablehnt, dass ein Festhalten an den Planungen den Frieden in der Region nachhaltig stören würde. Dies kann nur vor Ort beurteilt werden. Dabei müsste außerdem geklärt werden, ob die generelle Akzeptanz dieses Vorhabens in der Öffentlichkeit für beide Vertragsparteien mindestens stillschweigend die gemeinsame und wesentliche Grundlage des Vertrages war. Ausreichend wäre, wenn die öffentliche Akzeptanz für die Landesregierung Geschäftsgrundlage und dies für die Vertragspartner erkennbar war. 113) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 12; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 16. 114) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 17; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 12a; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 16. 115) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 29 ff. 116) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 67 f. 117) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 65. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 26 5.2.2.2. Kostenentwicklung In Betracht kommt eine Kündigung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auch, wenn einem der Vertragspartner die geschuldete Leistung wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist.118 Für das Land Baden-Württemberg könnte eine erhebliche Kostensteigerung des Projektes, an der es sich beteiligen muss, unzumutbar sein. Dolde und Porsch weisen darauf hin, dass Änderungen der Verhältnisse, die vertraglich geregelt sind, nicht Geschäftsgrundlage sein können. In diesem Fall seien diese vertraglichen Regelungen vorrangig zu beachten.119 Die Vertragsparteien haben in § 8 Abs. 3 des Finanzierungsvertrages eine Regelung für Mehrkosten bis zu einer Höhe von 1 450 Mio. Euro getroffen (siehe oben: 3.3.4.3, S. 11). Dort ist im Einzelnen geregelt, vor welcher Seite zusätzliche Kosten in welcher Höhe zu tragen sind. Im Bereich einer Kostensteigerung innerhalb dieser Risikovorsorge ist eine Kündigung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage ausgeschlossen. Für Dolde und Porsch sind auch weitere Kostensteigerungen kein Anwendungsfall von § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. § 8 Abs. 4 des Finanzierungsvertrages regele auch weitere Kostensteigerungen . In diesem Fall „nehmen die EIU und das Land Gespräche auf. § 2 Abs. 2 findet insoweit keine Anwendung.“120 Dem ist entgegen zu halten, dass die Verpflichtung, Gespräche aufzunehmen , keine Regelung ist, die bestimmt, wie mit den weiteren Kostensteigerungen umzugehen ist. Auch der Hinweis, dass das bis zum 31. Dezember 2009 mögliche Kündigungsrecht nach § 2 Abs. 2 des Vertrages „keine Anwendung“ findet, ist noch keine Regelung, jedenfalls keine, die eine Geltendmachung von § 60 Abs. 1 VwVfG abbedingt. Sie verpflichtet lediglich, dass Gespräche aufzunehmen sind. Was danach passiert, ist nicht geregelt. Die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG scheitert auch nicht schon deswegen, weil eine Vertragspartei ausdrücklich oder stillschweigend das Risiko für bestimmte Veränderungen der Verhältnisse übernommen hat. Vielmehr tritt in diesen Fällen das Recht zu kündigen erst dann ein, wenn die Veränderungen der Verhältnisse sich außerhalb des übernommenen Risikobereichs bewegen.121 Steigen die Kosten über den Betrag der vertraglichen Risikovorsorge, kommt eine Kündigung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Betracht.122 Zunächst müssten die Parteien aber über eine Vertragsanpassung Gespräche führen. 118) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 6c. 119) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 67. So auch: OVG Münster, NVwZ 1991, S. 1106; Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 10; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 10; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 90), § 60, Rn. 7. 120) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 66. 121) Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 6. 122) Zu den derzeit kalkulierten Gesamtprojektkosten siehe oben: 3.3.4.3, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 27 5.2.2.3. Zwischenergebnis Als Kündigungsgrund kommt sowohl eine mögliche breite Ablehnung des Projekts durch die Bevölkerung als auch eine über die Risikovorsorge hinausgehende Kostensteigerung in Betracht. Ob ein Kündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG besteht, hängt von der Bewertung der tatsächlichen Umstände ab. 5.2.3. Verhütung oder Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 VwVfG kann die Behörde den Vertrag kündigen, „um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen.“ Der Begriff „schwerer Nachteil für das Gemeinwohl“ in § 60 Abs. 1 Satz 2 VwVfG entspricht der Formulierung in § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 VwVfG. Wie oben ausgeführt (siehe: 5.1, S. 21), ist dieser Begriff eng auszulegen. Nach derzeitiger Sachlage dürfte ein schwerer Nachteil für das Gemeinwohl eher nicht anzunehmen sein. Eine Kündigung aus diesem Grund scheidet daher aus. 5.2.4. Rechtsfolgen Sofern ein Kündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG besteht, ist auf der Rechtsfolgenseite zunächst die Anpassung des Vertrages vorgesehen. Anpassung bedeutet die inhaltliche Umgestaltung des Alt-Vertrages. Eine solche Anpassung könnte z.B. in der Verkleinerung des Projektes oder einer zeitlichen Verschiebung gesucht werden. Ob dies in Betracht kommt, muss zwischen den Parteien erörtert werden. Erst wenn eine Anpassung nicht in Betracht kommt, besteht die Möglichkeit zur Kündigung. Weder für eine Kündigung wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse noch bei schweren Nachteilen für das Gemeinwohl sieht § 60 VwVfG eine ausdrückliche Entschädigungsoder Ausgleichsregelung vor. Die Kündigung löst in der Regel keine Schadensersatzpflicht aus, es kommt aber eine Teilung des Schadens in Betracht.123 Liegt in der Kündigung ein Eingriff in eine geschützte Rechtsposition im Sinne des Artikels 14 GG vor, dürfte ein „Aufopferungsanspruch“ gegeben sein.124 Zu denken wäre auch an eine Entschädigung nach § 49 Abs. 6 VwVfG analog: Bei dem Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes zur Verhütung oder Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl ist dem Betroffenen der Vermögensnachteil zu entschädigen , den dieser dadurch erlitten hat, dass er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat. Im Falle der Kündigung des Finanzierungsvertrages würde faktisch in die Rechtsposition der Bahn AG aus der Planfeststellung eingegriffen. Der Vertrauensschaden bestünde in den Aufwendungen , welche die Bahn AG seit Ablauf der Ausstiegsmöglichkeit nach § 2 Abs. 2 des Vertrages am 31. Dezember 2009 getätigt hat. 123) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 25c. 124) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60, Rn. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 28 5.3. Aufhebungsvertrag Ein Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ könnte ferner durch einen Aufhebungsvertrag erreicht werden. Nach § 54 VwVfG können Rechtsverhältnisse durch öffentlich-rechtlichen Vertrag begründet oder aufgehoben werden. Daher kann auch ein durch öffentlich-rechtlichen Vertrag begründetes Rechtsverhältnis durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag aufgehoben werden.125 Der Finanzierungsvertrag könnte daher einvernehmlich aufgehoben werden. Erforderlich wäre, dass alle Vertragsparteien sich hierauf einigen. Ein derartiger Vertrag bedürfte nach § 57 VwVfG der Schriftform. 5.4. Ausstiegsgesetz Diskutiert wird ein Ausstieg durch Landesgesetz. Denkbar sind unterschiedliche Regelungsinhalte . 5.4.1. Gesetzesänderungen, die einen Widerruf der Planfeststellung ermöglichen Es könnten Regelungen getroffen werden, die mittelbar einen Ausstieg aus dem Projekt ermöglichen . Beispielsweise könnten Landesregelungen über den Naturschutz, die Bauordnung oder das Wasserrecht erlassen werden, die einen Widerruf der Planfeststellungsbeschlüsse nach § 49 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG ermöglichten. Nach dieser Vorschrift können Verwaltungsakte widerrufen werden, wenn die Behörde aufgrund einer geänderten Rechtsvorschrift dazu berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen und der Begünstigte von der Vergünstigung noch keinen Gebrauch gemacht hat. Allerdings hat die DB Netz AG spätestens durch den Baubeginn von dem Planfeststellungsbeschluss für den Bahnhofsumbau Gebrauch gemacht. Eine nachträgliche Rechtsänderung berechtigte daher nicht zu einem Widerruf des Planfeststellungsbeschlusses. 5.4.2. Gesetz zur Aufhebung der Verpflichtungsermächtigungen im Staatshaushaltsplan Ebenfalls nicht zielführend wäre ein Gesetz zur Aufhebung der Verpflichtungsermächtigungen im Staatshaushaltsplan. Die vertragliche Zahlungspflicht des Landes entfiele hierdurch nicht. Ansprüche Dritter werden durch den Haushaltsplan weder begründet noch aufgehoben (§ 3 Abs. 2 LHO BW). Darüber hinaus könnte ein derartiges Gesetz nach Artikel 60 Abs. 6 LVerf BW nicht durch eine Volksabstimmung beschlossen werden.126 125) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 54, Rn. 82; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60, Rn. 3. 126) So auch: Kirchhof (Fn. 1), S. 38. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 29 5.4.3. Gesetz zur Aufhebung des Finanzierungsvertrages Denkbar wäre ein Ausstiegsgesetz, das den Finanzierungsvertrag unmittelbar aufhebt. Die Zulässigkeit der Aufhebung eines Vertrages durch Gesetz folgt aus dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes und ist in der Kommentarliteratur anerkannt.127 Auch wenn der Normgeber selbst Vertragspartner ist, schränkt der bestehende öffentlich-rechtliche Vertrag sein Normgebungsrecht nicht ein.128 Allerdings wären bei einem derartigen Ausstiegsgesetz strenge verfassungsrechtliche Anforderungen zu beachten. 5.4.3.1. Gesetzgebungskompetenz des Landes Nach dem Gutachten von Kirchhof verstieße ein Landesgesetz, mit dem der Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ angestrebt wird, bereits mangels Gesetzgebungskompetenz gegen das GG.129 Den Ländern steht nach der Kompetenzordnung des GG die Gesetzgebungskompetenz zu, soweit sie nicht dem Bund zugewiesen ist (Artikel 70 GG). Dem Bund steht nach Artikel 73 Nr. 6a GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für den Verkehr von Eisenbahnen des Bundes, den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes sowie die Erhebung von Entgelten für die Benutzung dieser Schienenwege zu. Auf dieser Grundlage hat der Bund das BSWAG erlassen. Allerdings ist das Projekt „Stuttgart 21“ kein Bestandteil des Bedarfsplans des Bundes (siehe oben: 4.1.1, S. 15), so dass es sich nicht um ein bundesgesetzlich verankertes Vorhaben handelt. Dementsprechend könnte auch die finanzielle Beteiligung des Landes nicht Gegenstand eines Bundesgesetzes sein. Daher dürfte ein Gesetz, dass den finanziellen Ausstieg aus „Stuttgart 21“ regelt, in die Gesetzgebungskompetenz des Landes fallen und nicht in den Kompetenzbereich des Bundesgesetzgebers eingreifen.130 Dem Land Baden- Württemberg stünde die Gesetzgebungskompetenz für ein Ausstiegsgesetz zu.131 5.4.3.2. Einzelfallgesetz Ein Ausstiegsgesetz verstieße nicht gegen das Verbot von Einzelfallgesetzen nach Artikel 19 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Gesetze, die sich auf ein bestimmtes Vorhaben beziehen, nicht per se unzulässig.132 Artikel 19 Abs. 1 Satz 1 GG schließt Einzelfallgesetze nicht generell aus, sondern nur in seinem Gewährleistungsbereich.133 127) Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 70), § 60 Rn. 14; Kopp/Ramsauer (Fn. 97), § 60 Rn. 6a; Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 10. 128) Schliesky, in: Knack/Henneke (Fn. 97), § 60, Rn. 12. 129) Kirchhof (Fn. 1), S. 32. 130) Anders: Kichhof (Fn. 1), S. 40 ff. 131) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 35 f. 132) Menzenbach, Einzelfallgesetze, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktueller Begriff Nr. 25/09. 133) BVerfGE 25, 371 [396]; 95, 1 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 30 Artikel 14 Abs. 3 Satz 2 GG fordert zwar vorrangig die Administrativenteignung, eröffnet aber ausdrücklich die Möglichkeit einer Legalenteignung nach Artikel 14 abs. 3 Satz 2 GG.134 Dem Gesetzgeber muss auch dann eine Regelung – im Rahmen der verfassungsrechtlich Zulässigen – möglich sein, wenn es nur einen zu regelnden Fall gibt. Im Übrigen sind Gesetze zur Beendigung von Vorhaben nicht ungewöhnlich. Mit dem Gesetz zur Aufhebung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes vom 17. November 2001135 wurde das Vorhaben der Errichtung des Transrapids im Emsland beendet. 5.4.3.3. Rückwirkungsverbot Greift ein Gesetz in vertragliche Rechtspositionen ein, stellt sich die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit im Hinblick auf eine damit verbundene Rückwirkung. Rückwirkende Gesetze müssen sich am Rechtsstaatsgebot des Art. 20 GG messen lassen. Ändert der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich, bedarf dieses einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes , unter deren Schutz Tatbestände verwirklicht worden sind. Die Freiheit des Einzelnen wäre erheblich gefährdet, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände ohne verfassungsrechtliche Grenzen im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten.136 Zu unterscheiden ist zwischen einer echten und einer unechten Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig137, eine unechte Rückwirkung hingegen in der Regel zulässig, setzt aber eine schonende Abwägung zwischen der Notwendigkeit der Änderung und dem Vertrauensschutz voraus.138 Echte Rückwirkung liegt vor, wenn der Gesetzgeber nachträglich in einen abgeschlossenen Fall eingreift, etwa indem Rechtsfolgen für einen vor der Verkündung liegenden Zeitpunkt und nicht für einen nach (oder mit) Verkündung beginnenden Zeitraum eintreten sollen.139 Dagegen liegt eine unechte Rückwirkung vor, wenn die fragliche Rechtsnorm zwar nur für die Zukunft gilt, dabei aber auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt.140 Für Kirchhof verstieße ein Gesetz zur Aufhebung des Finanzierungsvertrages gegen das Verbot einer echten Rückwirkung. Die Vertragsansprüche aus dem Finanzierungsvertrag böten „ein rechtlich endgültig gesichertes, zu einer verlässlichen Vertrauensposition gefestigtes Wirtschafts- 134) Kirchhof (Fn. 1), S. 24; BVerfGE 95, 1 [17]. 135) BGBl. I S. 3106. 136) Kirchhof (Fn. 1), S. 25 f. mit weiteren Nachweisen. 137) Echte Rückwirkung: BVerfGE 11, 145; 14, 104 [297]; 25, 290; 30, 367 [386]; 33, 293; 36, 82; 48, 415; 53, 309; Beschluss vom 7. Juli 2010, Az. 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, Rz. 67. 138) Unechte Rückwirkung: BVerfGE 11, 146; 13, 271; 18, 144 [439]; 22, 275; 24, 220 [270]; 31, 275; 33, 23; 43, 288; 62, 163. 139) BVerfGE 30, 367 [385]; 72, 200 [242]. 140) BVerfGE 95, 65 [86]; 101, 239 [263]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 31 gut“. Dies dürfe nicht rückwirkend entzogen werden.141 Hermes und Wieland gehen hingegen von einer unechten Rückwirkung eines Aufhebungsgesetzes aus.142 Dolde und Porsch äußern sich zu dieser Frage nicht.143 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einigen Entscheidungen bemüht, die Grenze zwischen der echten und der unechten Rückwirkung zu beschreiben: Echte Rückwirkung liege vor, „wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift“144 oder wenn sich der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm auf einen Zeitpunkt vor ihrer Verkündung erstreckt145. Es kommt also darauf an, ob die „Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll (‚Rückbewirkung von Rechtsfolgen‘)“.146 Eine unechte Rückwirkung soll vorliegen, „wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit sogleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet“147 bzw. wenn durch tatbestandliche Rückanknüpfung zwar nicht der zeitliche, jedoch der sachliche Anwendungsbereich einer Norm auf bereits vor Verkündung der Norm eingetretene Sachverhalte erstreckt wird148. „Soweit belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“), liegt eine „unechte“ Rückwirkung vor.“149 Bei Rechtssätzen, die Rechtsansprüche einräumen, bedeute „abgewickelter Tatbestand“ nicht „zuerkannt durch Bescheid“, da es nur auf die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale und nicht auch die behördlichen Vollzugsakte ankommen könne. Um bei Anspruchsnormen von „echter Rückwirkung “ sprechen zu können, genüge es, dass der Gesetzgeber in Sachverhalte eingreife, die vor der Gesetzesverkündung abgeschlossen waren und die die Voraussetzungen des bisher geltenden Anspruchstatbestandes erfüllten.150 In der Praxis ist das Bundesverfassungsgericht sehr zurückhaltend, eine echte Rückwirkung anzunehmen . Die Änderung von Gerichts- und Anwaltsgebühren auch für anhängige Verfahren hielt es für eine unechte Rückwirkung.151 Keine echte Rückwirkung habe auch eine für die Zukunft anfallende Steuer auf Glücksspielautomaten, die bereits vor der Gesetzesverkündung aufgestellt wurden.152 Auch das Heranziehen zu Entschließungsbeiträgen von Anliegern, die eine Bau- 141) Kirchhof (Fn. 1), S. 45. 142) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 38. 143) Dolde/Porsch (Fn. 1). 144) BVerfGE 30, 367 [385]. 145) BVerfGE 72, 200 [241]; 97, 67 [78]; 105, 17 [37]; 109, 133 [181]. 146) BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010, Az. 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, Rz. 45. 147) BVerfGE 95, 64 [86]. 148) BVerfGE 72, 200 [242]; 97, 67 [79]; 109, 133 [181]. 149) BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010, Az. 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, Rz. 57; Az. 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, Rz. 46. 150) BVerfGE 30, 367 [386 f.]. 151) BVerfGE 11, 139 [146]. 152) BVerfGE 14, 76 [104]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 32 genehmigung bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes hatten, sei keine echte Rückwirkung.153 Gleiches gelte für das Abschmelzen des Zuwachses der knappschaftlichen Ruhegehälter für die Zukunft .154 Selbst beim Eingriff in Berufungsvereinbarungen zwischen Professoren und Hochschulen durch Gesetz sah das Bundesverfassungsgericht keine echte Rückwirkung.155 Daran fehlte es auch bei Änderungen an Wohnungsbauprämien mit Wirkung für bereits abgeschlossene Bausparverträge .156 Im Steuerrecht findet eine echte Rückwirkung erst statt, wenn eine bereits entstandene Steuerschuld, also nach Ablauf des Veranlagungszeitraumes, verändert wird.157 Die Änderung von Normen des Einkommensteuerrechts mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum hingegen lösen allenfalls eine unechte Rückwirkung aus.158 Ein Gesetz zur Aufhebung des Finanzierungsvertrages würde in eine laufende Rechtsbeziehung eingreifen, die von den Vertragspartnern in der Vergangenheit eingegangen wurde. Der Finanzierungsvertrag ist nicht bereits abgewickelt; er ist für eine noch länger dauernde Laufzeit geschlossen . Soweit durch Gesetz nicht die Finanzierungsbeteiligung für bereits entstandene Ausgaben für das Projekt „Stuttgart 21“ beseitigt würde, sondern ausschließlich Wirkung für die zukünftig entstehenden Kosten eine Vertragsaufhebung vorsieht, liegt ein Fall der regelmäßig zulässigen unechten Rückwirkung vor. Allerdings sind auch bei der Gestaltung einer Regelung mit unechter Rückwirkung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen.159 Letztere wären bei der Gestaltung eines Ausstiegsgesetzes von Bedeutung. Soweit die Vertragspartner des Finanzierungsvertrages auf den Fortbestand des Vertrages und seine Durchführung vertraut und im Vertrauen darauf Investitionen getroffen haben, müssten sie nach Hermes und Wieland entschädigt werden.160 5.4.4. Gesetz über die Kündigung des Finanzierungsvertrages Es könnte ein Gesetz verabschiedet werden, das die Grundentscheidung zum Ausstieg aus dem Projekt „Stuttgart 21“ trifft161 und die Landesregierung zur Kündigung des Finanzierungsvertrages verpflichtet.162 Der Eingriff in einen Vertrag müsste ein zulässiger Regelungsgegenstand eines Gesetzes sein. Hiergegen könnte sprechen, dass der Gesetzgeber durch derartige Regelungen zu stark in den 153) BVerfGE 33, 265 [293]. 154) BVerfGE 36, 73 [82]. 155) BVerfGE 43, 242 [286 f.]. 156) BVerfGE 48, 403 [413]. 157) BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010, Az. 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, Rz. 70. 158) BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010, Az. 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, Rz. 59. 159) Sommermann, Karl-Peter, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Auflage, 2005, Art. 20 Rn. 296. 160) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 38. 161) Vgl. BVerfGE 49, 89. 162) So: Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 75. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 33 exekutiven Bereich eingreifen und damit die Regierung in ihrer Handlungsfähigkeit beschränken würde. Allerdings handelt es sich bei „Stuttgart 21“ um ein umfangreiches Infrastrukturprojekt, das nicht zum üblichen Regierungsalltag zählt.163 Die finanzielle Beteiligung oder Nichtbeteiligung an derartigen Projekten ist eine wesentliche landespolitische Entscheidung, die vom Landtag getroffen werden kann.164 Die Landesregierung könnte daher durch ein Gesetz verpflichtet werden, im Rahmen des (verfassungs-) rechtlich Zulässigen von dem Kündigungsrecht nach § 60 VwVfG Gebrauch zu machen. 5.4.5. Volksabstimmung Einen Schwerpunkt der Diskussion über die rechtliche Zulässigkeit eines Ausstiegs aus „Stuttgart 21“ bildet die Frage, ob ein Ausstieg durch eine Volksabstimmung herbei geführt werden kann. Nach Art. 60 LVerf BW können Gesetze vom Landtag oder durch Volksabstimmung beschlossen werden. Da sich die Zulässigkeit einer Volksabstimmung nach dem badenwürttembergischen Landesrecht richtet, werden die entsprechenden Rechtsfragen nachfolgend nur kurz angesprochen. 5.4.5.1. Zulässigkeit einer Volksabstimmung nach Art. 60 Abs. 3 LVerf BW Zunächst sei auf die Problematik des Art. 60 Abs. 3 LVerf BW hingewiesen. Danach kann eine Volksabstimmung durchgeführt werden, wenn eine von der Landesregierung eingebrachte Gesetzesvorlage im Landtag abgelehnt wird und ein Drittel der Mitglieder des Landtages eine Volksabstimmung beantragt. Um auf diesem Weg eine Volksabstimmung durchzuführen, wurde von der Opposition im badenwürttembergischen Landtag vorgeschlagen, dass die Landesregierung einen Entwurf für ein Ausstiegsgesetz einbringen sollte, der im Landtag jedoch keine Mehrheit fände. Zwischen den Gutachtern Kirchhof und Dolde/Porsch165 einerseits und Hermes/Wieland166 andererseits ist umstritten, ob diese Vorgehensweise rechtsmissbräuchlich wäre, da in der Sache zwischen Landesregierung und der Mehrheit im Landtag kein Dissens besteht. Sowohl die Landesregierung als auch die Mehrheit im Landtag befürworten den Bau von „Stuttgart 21“. Die Landesregierung würde durch Einbringung eines Gesetzes, das sie selbst nicht befürwortet, bewusst einen Dissens herbeiführen, der nach Art. 60 Abs. 3 LVerf BW eine Volksabstimmung ermöglicht. 163) Nach Kirchhof (Fn. 1), S. 24, sind Eisenbahnvorhaben von besonderer Bedeutung für das Gemeinwohl einer gesetzlichen Regelung zugänglich. 164) Vgl. Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 34. 165) Kirchhof (Fn. 1), S. 49 ff.; Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 18 ff. 166) Hermes/Wieland (Fn. 2), S. 40 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 34 Es ist eine Frage des Landesverfassungsrechts, ob eine derartige Vorgehensweise verfassungswidrig wäre. 5.4.5.2. Volksabstimmung nach Art. 60 Abs. 1 LVerf BW Eine Volksabstimmung wäre jedenfalls nach Art. 60 Abs. 1 LVerf BW möglich, wenn eine durch Volksbegehren eingebrachte Gesetzesvorlage vom Landtag nicht unverändert beschlossen wurde. Für ein Volksbegehren ist nach Art. 59 Abs. 2 LVerf BW die Zustimmung von mindestens einem Sechstel der Wahlberechtigen erforderlich. 5.4.5.3. Verstoß gegen die Budgethoheit Ein Gesetz, das den Ausstieg aus dem Finanzierungsvertrag bezweckt, kann nach Auffassung von Dolde/Porsch nach Art. 60 Abs. 6 LVerf BW nicht Gegenstand einer Volksabstimmung sein, da es sich zwar formell nicht um ein Haushaltsgesetz handele, aber materiell ein Akt der Haushaltsgesetzgebung sei.167 Hiergegen spricht jedoch der Wortlaut des Art. 60 Abs. 6 LVerf BW, in dem neben Abgaben- und Besoldungsgesetzen ausdrücklich das Staatshaushaltsgesetz und nicht der Haushalt allgemein genannt wird bzw. von Auswirkungen auf den Haushalt die Rede ist. Sollten unter den Begriff Staatshaushaltsgesetz auch alle Gesetze mit Auswirkungen auf den Staatshaushalt fallen, wären Volksabstimmungen nur in sehr wenigen Fällen möglich, da nahezu jedes Gesetz unmittelbar oder mittelbar Auswirkungen auf den Haushalt hat. Eine derart weitreichende Einschränkung der Volksgesetzgebung erscheint problematisch und dürfte mit Blick auf die von Art. 60 Abs. 6 LVerf BW bezweckte Wahrung der Budgethoheit des Parlaments nicht erforderlich sein. Art. 60 Abs. 6 LVerf BW könnte allenfalls Anwendung finden, wenn ein Gesetz, das formal kein Haushaltsgesetz ist, derart weitreichende Auswirkungen auf den Staatshaushalt hat, dass dieser in seiner grundlegenden Struktur gefährdet ist. In diesem Sinne hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2000 entschieden, dass Gesetzesvorhaben im Wege der Volksgesetzgebung unzulässig seien, die auf den Gesamtbestand des Haushaltes insoweit Einfluss nehmen, als durch ihre Finanzwirksamkeit das haushalterische Gleichgewicht gestört und dadurch mittelbar die parlamentarische Budgethoheit wesentlich beeinträchtigt wird.168 Durch einen Ausstieg aus dem Finanzierungsvertrag zu „Stuttgart 21“ dürfte allerdings keine Störung des haushalterischen Gleichgewichts hervorgerufen werden. Zur Frage der Beeinträchtigung der Budgethoheit durch Volksgesetzgebung vertritt der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin die Auffassung, dass außerbudgetäre Gesetze die Budgethoheit des Parlaments grundsätzlich nicht in Frage stellen, auch wenn sie die Dispositionshoheit des Parlaments einschränkten. Die Haushaltsverantwortung des Parlaments werde nicht unter- 167) Dolde/Porsch (Fn. 1), S. 50 ff. 168) BayVerfGH, NVwZ 2000, 401 (403). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 426/10 Seite 35 miniert, auch wenn seine Planungen und Prioritätensetzungen durch erfolgreiche Volksgesetzgebung modifiziert sein mögen. Das Parlament könne auch plebiszitäre Gesetze jederzeit ganz oder teilweise wieder aufheben.169 Ein Gesetz zum Ausstieg aus der Finanzierung von „Stuttgart 21“ verstieße nach hiesiger Auffassung nicht gegen Art. 60 Abs. 6 LVerf BW und könnte durch Volksabstimmung beschlossen werden . 169) VerfGH BE, Urteil vom 6. Oktober 2009, VerfGH 143/08 („Kitakinder + Bildung von Anfang an = Gewinn für Berlin“).