Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 418/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasserinnen: Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt Ausarbeitung WD 3 - 418/07 Abschluss der Arbeit: 27. November 2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung Im Folgenden soll geklärt werden, ob und ggf. wie sich ein nachträglicher Wegfall einer EG-Richtlinie bzw. eines Rahmenbeschlusses auf den nationalen Umsetzungsakt auswirkt. Hinsichtlich der EG-Richtlinie könnte dies in den Fällen relevant werden, wo eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erfolgreich wäre, für den Rahmenbeschluss etwa bei der Aufhebung durch den Rat. Die Untersuchung ist beschränkt auf die Prüfung des nationalen materiellen Rechts der Bundesrepublik Deutschland.1 Soweit prozessuale Fragen berührt sind, wird an der entsprechenden Stelle darauf hingewiesen. 1.1. EG-Richtlinien Die EG-Richtlinie ist eine Handlungsform des sekundären Gemeinschaftsrechts2. Gemäß Art. 249 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) sind EG-Richtlinien für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich; den Mitgliedstaaten wird jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlassen. Innerstaatliche Wirksamkeit erlangen EG-Richtlinien dementsprechend grundsätzlich , indem sie durch einen nationalen Rechtsakt umgesetzt werden3; hierfür wird den Mitgliedstaaten eine Frist gesetzt. Setzt ein Mitgliedstaat nicht innerhalb dieser Frist um, kann die Nichterfüllung der Umsetzungsverpflichtung sanktioniert werden.4 Denkbar ist, - dass ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß der Art. 226, 227 EGV eingeleitet wird5, - dass EG-Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne nationalen Umsetzungsakt unmittelbar angewandt werden6 oder, 1 Zu möglichen gemeinschaftsrechtlichen Gründen für eine Nichtigkeit von EG-Richtlinien siehe Payandeh, Mehrdad, Die Nichtigkeit von EG-Richtlinien: Konsequenzen für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt im Lichte des Demokratieprinzips, DVBl. 2007, 741 ff. 2 Zu den drei „Säulen“ der EU vgl. nur Fischer, Hans Georg, Europarecht, Grundkurs des Rechts der Europäischen Union, 2006, Rn. 12. 3 Zu etwaigen Vorwirkungen der Richtlinien und der in diesem Zusammenhang zu nennenden richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts siehe Fischer (Fn. 2), Rn. 209 und Rn. 220. 4 Siehe Überblick bei Schwarze, Jürgen, Richtlinienumsetzung „eins zu eins“, in: Pitschas, Rainer; Uhle, Arnd (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, S. 167 (168 ff.). 5 Fischer (Fn. 2), Rn. 277 ff. 6 Zu den vom EuGH im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Voraussetzungen im Einzelnen siehe Fischer (Fn. 2), Rn. 208 ff. - 4 - - dass staatshaftungsrechtliche Ansprüche gegen den Mitgliedstaat geltend gemacht werden, wenn dem Bürger durch die fehlende Umsetzung der EG- Richtlinie Schäden entstanden sind7. 1.2. Rahmenbeschlüsse Der Rahmenbeschluss ist hingegen eine Handlungsform des Rates in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) und damit dem Unionsrecht8 zuzuordnen. Rahmenbeschlüsse sind gemäß Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) S. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich und müssen durch einen nationalen Rechtsakt umgesetzt werden. Für Rahmenbeschlüsse ordnet Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) S. 3 EUV ausdrücklich an, dass sie nicht unmittelbar wirksam sind. Die Mitgliedstaaten sind – ähnlich wie bei EG-Richtlinien – zur Umsetzung verpflichtet .9 Jedoch gibt es – anders als bei EG-Richtlinien – keine gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen, wenn ein Rahmenbeschluss nicht durch die Mitgliedstaaten umgesetzt wird.10 2. Folgen des Wegfalls für den nationalen Umsetzungsakt Welche Rechtsfolgen der nachträgliche Wegfall eines europäischen Rechtsaktes für den nationalen Umsetzungsakt nach sich zieht, ist im nationalen Recht nicht ausdrücklich geregelt. In der Literatur ist die Frage bisher wenig diskutiert; in den einschlägigen Kommentaren finden sich nur knappe feststellende Ausführungen.11 Im Wesentlichen lassen sich drei Ansätze unterscheiden: - Der Wegfall des gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Rechtsaktes bewirkt die Nichtigkeit des nationalen Umsetzungsaktes12 (siehe unten 2.1.). - Der Wegfall des gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Rechtsaktes bewirkt die Rechtswidrigkeit des nationalen Umsetzungsaktes13 und führt zu einer 7 Fischer (Fn. 2), Rn. 249 ff. 8 Zum Unterschied zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht siehe BVerfGE 89, 155 (196). 9 Streinz, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 4. Auflage 2007, Art. 23 Rn. 41; einschränkend BVerfG, NJW 2005, 2289 (2292), wonach „[…] die mitgliedstaatlichen Legislativorgane die politische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung, notfalls auch durch die Verweigerung der Umsetzung, behalten“. […]. 10 BVerfG, NJW 2005, 2289 (2292). 11 Siehe etwa Nettesheim, Martin, in: Grabitz, Eberhard (Begr.); Hilf, Meinhard, (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Band III, Art. 249 Rn. 186; Ehricke, Ulrich, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Kommentar, 2003, Art. 231 EGV Rn. 4; Fischer (Fn. 2), Rn. 299. 12 Payandeh (Fn. 1), 741 (743 ff.); Nettesheim (Fn. 11) Art. 249 Rn. 186. 13 Ehricke (Fn. 11) Art. 231 EGV Rn. 4, allerdings ohne Konsequenzen zu nennen. - 5 - Aufhebungsverpflichtung, nicht aber zu einem automatischen Wegfall des nationalen Rechtsaktes14 (siehe unten 2.2.). - Der nationale Rechtsakt bleibt beim Wegfall des gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Rechtsaktes unberührt; weitergehende rechtliche Folgen treten nicht ein15 (siehe unten 2.3.). 2.1. Position 1: Nichtigkeit des nationalen Umsetzungsaktes Soweit von der Nichtigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes ausgegangen wird, soll dies zwar nicht für die nachträgliche Aufhebung einer EG-Richtlinie, wohl aber bei Nichtigkeit der EG-Richtlinie gelten.16 Bei Nichtigkeit der EG-Richtlinie sei der Gesetzgeber fälschlicherweise von einer Umsetzungsverpflichtung ausgegangen. Es fehle aufgrund dieser vermeintlichen Bindung an einer freien und eigenständigen Entscheidung und damit an einer hinreichenden demokratischen Legitimation des Gesetzes. Das führe zu einem Verstoß gegen das Demokratieprinzip17 bzw. zu einem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil ein verfassungsrelevanter Begründungsfehler vorliege 18. 2.2. Position 2: Rechtswidrigkeit des nationalen Umsetzungsaktes Einer anderen Auffassung zufolge führe die Nichtigkeit des EU-Aktes zwar nicht zur Nichtigkeit, wohl aber zur Rechtswidrigkeit der auf Grund des nichtigen Aktes erlassenen Durchführungsmaßnahmen.19 Diese würden unanwendbar20 und seien aufzuheben 21. Dies folge schon aus Art. 233 EGV, wonach das oder die Organe, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt oder deren Untätigkeit als vertragswidrig erklärt worden ist, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergebenden Maßnahmen zu ergreifen haben.22 14 Gaitanides, Charlotte, in: von der Groeben, Hans; Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, EG Art. 231 Rn. 5. 15 Röttinger, Moritz, Bedeutung der Rechtsgrundlage einer EG-Richtlinie und Folgen einer Nichtigkeit , EuZW 1993, 117 (120); zustimmend: Burgi, Martin, in: Rengeling, Hans-Werner; Middeke, Andreas; Gellermann, Martin (Hrsg.), Handbuch des Rechtschutzes in der Europäischen Union, 2. Auflage 2003, § 7 Rn. 111; ähnlich wohl auch Cremer, Wolfram, in: Callies, Christian; Ruffert, Matthias (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, EGV Art. 231 Rn. 2; für den Fall der nachträglichen Aufhebung Schneider, Hans, Gesetzgebung, 3. Auflage 2002, Rn. 226. 16 Payandeh (Fn. 1), 741 (743). 17 Payandeh (Fn. 1), 741 (744). 18 Nettesheim (Fn. 11), Art. 249 Rn. 186. 19 Gaitanides (Fn. 14), EG Art. 231 Rn. 5. 20 Borchardt, Klaus-Dieter, in: Lenz, Carl Otto; Borchardt, Klaus-Dieter, EU- und EG-Vertrag, Kommentar , 4. Auflage 2006, Art. 231 Rn. 4. 21 Booß, Dierk, in: Grabitz/Hilf (Fn. 11), Art. 231 Rn. 6. 22 Gaitanides (Fn. 14), EG Art. 231 Rn. 5; Schwarze, Jürgen, EU-Kommentar, 2000, Art. 233 EGV Rn. 6; ähnlich schon Krück, Hans, in: von der Groeben, Hans; Thieisng, Jochen; Ehlermann, Claus- Dieter, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Auflage 1997, Band 4, Art. 176 EGV Rn. 15. - 6 - 2.3. Position 3: Keine Auswirkungen auf den nationalen Umsetzungsakt Schließlich wird vertreten, dass die Nichtigkeit der EG-Richtlinie grundsätzlich keine Folgen für das nationale Umsetzungsgesetz habe. Das Gesetz bleibe Teil der nationalen Rechtsordnung und falle nicht automatisch weg.23 2.4. Stellungnahme Es sprechen rechtsdogmatische und rechtstatsächliche Gründe gegen die automatische Nichtigkeit des Umsetzungsgesetzes24: Die deutsche Rechtsordnung kennt grundsätzlich keine Nichtigkeit von Gesetzen ohne ausdrücklichen Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat für formelle Gesetze die alleinige Verwerfungskompetenz.25 Das Demokratieprinzip spricht eher gegen denn für eine Nichtigkeit26: Mit dem Wegfall des europäischen Rechtsaktes entfallen (sanktionsbewehrte) Umsetzungspflichten aufgrund des Gemeinschafts- und des Unionsrechts. Dem Gesetzgeber27 ist es nunmehr unbenommen, das Umsetzungsgesetz zu ändern, aufzuheben oder aufrechtzuerhalten . Die gegenläufige Auffassung vermag nicht zu klären, welche Rechtsfolgen eintreten würden, wenn die Entscheidung des Gesetzgebers – insbesondere der Beschluss des Parlaments – auf der Überzeugung beruhte, dass das Umsetzungsgesetz auch ohne europäische Impulse notwendig und verfassungsrechtlich zulässig gewesen sei.28 Motivforschung könnte hier zu beliebigen Ergebnissen führen. Hinzu kommt, dass sich der Gesetzgeber auch anderweitig „determiniert“ fühlen kann, etwa durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich im Laufe der Zeit verändern könnten. 23 Röttinger (Fn. 15), 117 (120); Burgi (Fn. 15), § 7 Rn. 111. 24 Ob das Gesetz bei Nichtigkeit der EG-Richtlinie rechtswidrig wird und zwingend aufzuheben ist, bedarf keiner abschließenden Beurteilung, da jedenfalls ein automatischer Wegfall des Umsetzungsgesetzes nach dieser Auffassung ebenfalls ausscheidet. 25 Sturm, Gerd, in: Sachs (Fn. 9), Art. 100 Rn 2; Sachs (Fn. 9), Art. 20 Rn. 96. 26 Im Übrigen bezieht sich Payandeh (Fn. 1), in der Argumentation auf die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl – hier besteht zwar wie gezeigt eine Umsetzungspflicht, die jedoch nicht durchsetzbar ist. 27 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Gesetzgeber“ bei weitem Verständnis auch den Bundesrat und die Bundesregierung als initiativberechtigte Organe und den Bundespräsidenten einbezieht. Hier wird wegen der „Hauptrolle“ des Parlaments maßgeblich auf dieses abgestellt, vgl. die Formulierung bei Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, 2081 (2084) 28 Siehe zum – geringen, aber vorhandenen – Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Umsetzung von EG-Richtlinien auch Schwarze (Fn. 4), S. 167 (170); Schneider, Hans (Fn. 15), Rn. 225. - 7 - Dieser Befund wird ferner bestärkt durch rechtstatsächliche Erwägungen: Richtlinien werden häufig durch Artikelgesetze umgesetzt.29 Hier entstünden erhebliche rechtliche und praktische Probleme bei der Nichtigkeitsanordnung für einzelne Paragrafen.30 Diese Erwägungen gelten auch unabhängig davon, aus welchen Gründen ein europäischer Rechtsakt wegfällt oder für nichtig erklärt wird. Das bedeutet: Es spielt für die zu prüfende Frage keine Rolle, ob die Nichtigkeitserklärung auf formellen Gründen beruht und etwa die fehlende Kompetenz auf europäischer Ebene betrifft, oder ob die Nichtigkeitserklärung auf materiellen Gründen beruht, etwa wegen des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten des EG-Vertrages. Diese Frage wird erst relevant, wenn es um die Vereinbarkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht nach dem Wegfall des europäischen Rechtsaktes geht.31 3. Ergebnis Im Ergebnis spricht viel dafür, dass der nationale Umsetzungsakt von einem späteren Wegfall des europäischen Rechtsaktes nicht automatisch betroffen ist. 29 Siehe aus jüngster Zeit das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. I S. 1970, dass elf EU-Richtlinien ins nationale Recht übertragen hat; hierfür wurden unter anderem das Aufenthaltsgesetz, das Freizügigkeitsgesetz /EU, das Asylverfahrensgesetz, das Ausländerzentralregistergesetz und das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert. 30 Offen bliebe, wie praktisch zu verfahren wäre, wenn der nationale Gesetzgeber keine Umsetzung „eins zu eins“ (siehe hierzu ausführlich Schwarze [Fn. 4], S. 167 [170 ff.]), vorgenommen hat, sondern über die Richtlinie hinausgegangen ist. 31 Payandeh (Fn. 1), 741 (743).