© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 410/18 Gerichtskostenfreiheit von Wohngeldstreitigkeiten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 410/18 Seite 2 Gerichtskostenfreiheit von Wohngeldstreitigkeiten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 410/18 Abschluss der Arbeit: 6. Dezember 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 410/18 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird, ob es sich bei Wohngeldstreitigkeiten um gerichtskostenfreie Angelegenheiten der Fürsorge im Sinne des § 188 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) handelt. Dabei soll auch thematisiert werden, ob dies verfassungsrechtlich geboten ist. 2. Wohngeldsachen als Angelegenheiten der Fürsorge im Sinne von § 188 Satz 1 VwGO Infolge der Zuweisung der Sozialhilfestreitigkeiten an die Sozialgerichte1 wurde mit dem Siebenten Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (7. SGGÄndG)2 vom 9. Dezember 2004 auch § 188 Satz 1 VwGO neugefasst. Der Begriff der Sozialhilfe in § 188 VwGO a. F. wurde früher weit verstanden und umfasste auch Sachgebiete, die nicht durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechtes in das Sozialgesetzbuch auf die Sozialgerichtsbarkeit übertragen worden sind. Bei der Neufassung des § 188 Satz 1 VwGO wurde auf Anregung des Bundesrates3 der Oberbegriff der „Angelegenheiten der Fürsorge“ eingeführt. Diese umfassen dem Wortlaut nach insbesondere die Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes, der Jugendhilfe, der Kriegsopferfürsorge, der Schwerbehindertenfürsorge sowie der Ausbildungsförderung. Soweit diese nicht ohnehin den Sozialgerichten zugewiesen sind, ordnet § 188 Satz 2 VwGO weiterhin Gerichtskostenfreiheit vor den Verwaltungsgerichten an. Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern sind davon ausdrücklich ausgenommen. § 188 Satz 1 VwGO enthält zwar eine Aufzählung von „insbesondere“ erfassten Sachgebieten, definiert den Begriff der Fürsorge aber nicht näher. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) war das Wohngeld nicht dem Sachgebiet der „Sozialhilfe“ zuzuordnen.4 Nach seinem Beschluss vom 18. März 2009 über die Nichtzulassung der Revision bestehe auch nach der Neufassung des § 188 VwGO keine Gerichtskostenfreiheit in Wohngeldstreitigkeiten.5 Der Rechtsfrage komme mangels erkennbarem vertieftem Begründungsbedarf keine grundsätzliche Bedeutung zu. Das BVerwG verweist auf einen entsprechenden Beschluss des OVG Lüneburg aus dem Jahr 2007.6 Dieses sah aufgrund der abweichenden erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts durchaus einen vertieften Begründungsbedarf und führte aus, dass der Gesetzesbegründung kein Hinweis auf eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 188 VwGO auf Wohngeldstreitigkeiten zu entnehmen sei. Sie 1 Vgl. Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003, BGBl. I 2004 S. 3022. 2 BGBl. I 2004 S. 3302. 3 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 15/3169, S. 11, und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und soziale Sicherung vom 30. September 2004, BT-Drs. 15/3867, S. 4. 4 Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 1972, Az. VIII C 127.71, BVerwGE 41, 115 (126); Beschluss vom 17. Juni 2005, Az. 5 B 115.04, BeckRS 2005, 28530. 5 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. März 2009, Az. 5 PKH 1/09, juris; Beschluss vom 5. März 2015, Az. 5 KSt 6/15, juris (insb. Rz. 6). 6 Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. August 2007, Az. 4 OA 12/06, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 410/18 Seite 4 enthalte auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der in § 188 VwGO n. F. verwandte Begriff der Fürsorge mit dem Begriff der „öffentlichen Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz (GG) gleichzusetzen oder in Anlehnung an diesen auszulegen sei. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG sei in den Gesetzesmaterialien nur als ein Beispiel für eine gesetzliche Regelung des Begriffs der Fürsorge erwähnt worden. Der dort zugrunde gelegte traditionelle Fürsorgebegriff umfasse zudem ohnehin nur solche finanziellen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Leistungen, „die dem Hilfsbedürftigen ein Leben ermöglichen, das der Menschenwürde entspricht“7. Nach § 1 des Wohngeldgesetzes (WoGG) soll das Wohngeld als Miet- oder Lastenzuschuss der wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens dienen. Das Wohngeld konkretisiere damit zwar auch das Sozialstaatsprinzip, sei aber angesichts seiner wohnungspolitischen Zielsetzung gerade keine Fürsorge im traditionellen Sinne.8 Dieser Ansicht hat sich 2017 auch das OVG Münster angeschlossen.9 Dieses führt ergänzend aus, dass das Wohngeld von Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG als Teil der Materie des Wohnungswesens erfasst werde.10 Das OVG Schleswig ordnete die Gewährung von Wohngeld hingegen als eine Angelegenheit der Fürsorge im Sinne des § 188 Satz 1 VwGO ein.11 Zur Begründung führt es aus, dass der Begriff der Fürsorge weit zu verstehen sei und all diejenigen Sachgebiete umfasse, die Leistungen mit einer primär fürsorglichen Intention zum Gegenstand haben.12 Weder sei die beispielhafte Aufzählung von „insbesondere“ umfassten Sachgebieten in § 188 Satz 1 VwGO abschließend, noch verbiete der Umstand, dass in Art. 74 GG einerseits in Nr. 7 die „öffentliche Fürsorge" und andererseits in Nr. 18 u. a. „das Wohngeldrecht" erwähnt wird, den Fürsorgebegriff im vorliegenden Kontext weiter auszulegen.13 Das Wohngeld verfolge das vorrangige Ziel der sozialen Sicherung, da es gewährleisten solle, dass jeder in einer angemessenen Wohnung leben könne, die er sich selbst vielleicht nicht leisten könnte.14 Auf diesen Gesichtspunkt komme es den Wohngeldberechtigten 7 OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. August 2007, Az. 4 OA 12/06, juris Rz. 12; ebenso Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 84. EL August 2018, Art. 19 GG Rn. 242 m.w.N. 8 Vgl. OVG Lüneburg, a.a.O., Rz. 13 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 14. November 1969, Az. 1 BvL 4/69 = BVerfGE 27, 220, 221 (227) zu § 29 WoGG a.F.; auf die wohnungsbaupolitische Zielsetzung des Wohngelds hinweisend auch VGH München, Beschluss vom 19. August 2013, Az. 12 C 13.1519, juris. 9 Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 5. Oktober 2017, Az. 12 A 1453/17, juris. 10 Vgl. OVG Münster a.a.O. juris Rz. 15 f. unter Verweis auf den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (u.a. Art. 74 GG), BR-Drs. 174/06, S. 30. 11 Vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 9. Oktober 2014, Az. 3 O 24/14, juris. 12 Vgl. OVG Schleswig a.a.O., juris Rz. 3. 13 Vgl. OVG Schleswig a.a.O., juris Rz. 4 f. unter Verweis auf BT-Drs. 15/3867, S. 4. 14 Vgl. OVG Schleswig a.a.O.; zustimmend Winkler, in: Beck-Online Kommentar Sozialrecht, 50. Edition Stand 1. September 2018, § 1 WoGG Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 410/18 Seite 5 eher an als auf den wohnungspolitischen.15 Dieser Ansicht hat sich jüngst das OVG Bautzen ausdrücklich angeschlossen.16 In seinem Urteil vom 5. Dezember 2017 wies es zur Begründung des gegenüber Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG erweiterten Fürsorgebegriffes des § 188 Satz 1 VwGO ergänzend daraufhin, dass nach dessen ausdrücklichem Wortlaut auch das nicht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG fallende BAföG eine Angelegenheit der Fürsorge sei.17 Allein der systematische Vergleich mit den Kompetenzregelungen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 13 und 18 GG führt mithin nicht zu einer eindeutigen Klärung der Definition der „Angelegenheiten der Fürsorge“ in § 188 Satz 1 VwGO und der Frage, ob diese auch Wohngeldstreitigkeiten umfassen. Als maßgeblich wird in Rechtsprechung und Literatur die Frage erachtet, ob mit dem Wohngeld unter Verweis auf den Wortlaut des § 1 WoGG eine primär wohnungsbaupolitische Zielsetzung verfolgt wird oder ob (nunmehr) der Aspekt der sozialen Sicherung im Vordergrund steht. Diese Frage lässt sich anhand der bisherigen Rechtsprechung und Literatur nicht eindeutig beantworten. Gegen das o. g. Urteil des OVG Bautzen aus dem Jahr 2017 ist derzeit die Revision beim BVerwG18 anhängig. Wann und in welcher Weise sich das BVerwG bezüglich der für die Kostenentscheidung und Streitwertfestsetzung maßgeblichen Auslegung des Fürsorgebegriffes in § 188 VwGO äußern wird, bleibt abzuwarten. 3. Gerichtskostenfreiheit von Wohngeldstreitigkeiten aus verfassungsrechtlicher Sicht Zwar kann die aus sozialpolitischen bzw. sozialstaatlichen Gründen eingeführte19 Gerichtskostenfreiheit als Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 des GG verstanden werden, allerdings ist sie dort nicht verbürgt.20 Auch aus der Garantie des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich kein genereller Anspruch auf kostenlosen Rechtsschutz.21 Jedoch wird aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung 15 Vgl. OVG Schleswig a.a.O.; in diese Richtung tendierend Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung , 34. EL Mai 2018, § 188 VwGO Rn. 10; siehe auch W.-R. Schenke/Hug, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 23. Auflage 2017, § 188 VwGO Rn. 2 m.w.N. 16 Vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 5. Dezember 2017, Az. 4 A 223/15, juris; OVG Bautzen, Urteil vom 5. Dezember 2017, Az. 4 A 273/17, juris; OVG Bautzen, Beschluss vom 1. Juni 2018, Az. 4 E 34/18, juris. 17 Vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 5. Dezember 2017, Az. 4 A 223/15, juris Rz. 48. 18 Aktenzeichen 5 C 2.18. 19 Vgl. Wolff, in: Posser/Wolff, Beck-Online Kommentar VwGO, 47. Edition Stand 1. April 2018, § 188 VwGO Rn. 2; Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 188 VwGO Rn. 4. 20 So zur Parallelnorm des § 64 SGB X Mutschler, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 101. EL September 2018, § 64 SGB X Rn. 1 m.w.N. 21 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 84. EL August 2018, Art. 19 GG Rn. 242 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 410/18 Seite 6 mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG das Gebot der Rechtsschutzgleichheit hergeleitet.22 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die Chancen der Wahrnehmung von Rechtsschutz durch Unbemittelte und Bemittelte weitgehend aber nicht vollständig angeglichen werden.23 Unbemittelte müssen alle Möglichkeiten haben, von denen ein verständiger Bemittelter Gebrauch machen würde, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt.24 Insofern lässt sich kein allgemeines verfassungsrechtliches Gebot der Gerichtskostenfreiheit aus der Rechtsschutzgleichheit ableiten. Die pauschale Regelung der Gerichtskostenfreiheit in § 188 Satz 1 VwGO erfolgte lediglich zur Vereinfachung, da es in den dort erfassten Sachgebieten häufig vorkommt, dass mittellose oder minderbemittelte Kläger an einem Verfahren beteiligt sind.25 Die Rechtswahrnehmungsgleichheit kann im Einzelfall durch das auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etablierten Institut der Prozesskostenhilfe sichergestellt werden. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kann zudem von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache abhängig gemacht werden.26 *** 22 Vgl. BVerfGE 78, 104 (117 f.); 81, 347 (356) m.w.N.; zuletzt Kammerbeschluss vom 23. Oktober 2018, Az. 2 BvR 1050/17, juris. 23 Vgl. BVerfGE 22, 83 (86); 63, 380 (394 f.). 24 Vgl. schon BVerfGE 9, 124 (130f). 25 Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 1974, Az. V C 18.74, BVerwGE 47, 233 (238). 26 Vgl. BVerfGE 81, 347 (357).