© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 396/18 Möglichkeit des Vorgehens gegen Versammlungen mit Bezug zum Nationalsozialismus Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 2 Möglichkeit des Vorgehens gegen Versammlungen mit Bezug zum Nationalsozialismus Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 396/18 Abschluss der Arbeit: 14. Dezember 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Zum Versammlungsverbot 4 2.1. Bedeutung der Versammlungsfreiheit 4 2.2. Voraussetzungen eines Versammlungsverbots 4 2.3. Versammlungsverbot wegen erwarteten Straftaten nach § 130 Abs. 3 StGB 5 2.4. Versammlungsverbot wegen polizeilichen Notstands 6 3. Grundsätze der sog. Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG 7 3.1. Verfassungsmäßigkeit von § 130 Abs. 4 StGB 7 3.2. Grundsätze zur Auslegung von Art. § 130 Abs. 4 StGB 8 4. Mögliche Erweiterung von § 130 Abs. 4 StGB? 10 5. Versammlungsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit den rechtlichen Möglichkeiten zum Verbot oder zur Beschränkung von Versammlungen mit Bezug zum Nationalsozialismus. Zunächst erfolgt eine Erläuterung der Voraussetzungen eines Versammlungsverbots sowie zweier Beispiele für präventive Versammlungsverbote (2.). Anschließend wird auf die sog. Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eingegangen (3.). Dabei erfolgt insbesondere eine Darstellung der allgemeinen Grundsätze, die sich aus der Entscheidung ableiten lassen. Des Weiteren wird auf die Zulässigkeit einer Erweiterung von § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB) eingegangen (4.). Abschließend wird dargelegt, welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, gegen eine Versammlung aufgrund der Art und Weise ihrer Durchführung vorzugehen (5.). 2. Zum Versammlungsverbot 2.1. Bedeutung der Versammlungsfreiheit Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gibt allen Deutschen das Recht, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Das BVerfG betont in seiner Rechtsprechung die Bedeutung der Versammlungsfreiheit: „Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“1 Die Versammlungsfreiheit wird allerdings nicht vorbehaltlos gewährt. Versammlungen unter freiem Himmel können gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Das BVerfG betont aber, dass „Verbote und Auflösungen nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen“2 dürften. 2.2. Voraussetzungen eines Versammlungsverbots Die Rechtsgrundlage für Verbote oder Beschränkungen von Versammlungen ist, soweit die Länder nicht von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht haben3, § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes des Bundes (VersG). Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird in der Regel angenommen, wenn 1 BVerfGE 69, 315 (347). 2 BVerfGE 69, 315 (354). 3 Den Ländern steht seit 2006 die Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Versammlungsrechts zu. Von dieser Kompetenz haben bisher nur Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein durch Erlass eines eigenen Versammlungsgesetzes Gebrauch gemacht. In den übrigen Ländern gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 GG das Versammlungsgesetz des Bundes fort. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 5 eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.4 Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.5 Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung regelmäßig nicht ausreichend, um eine Versammlung zu verbieten.6 Versammlungsverbote kämen nur zum Schutz elementarster Rechtsgüter in Betracht.7 Ein Verbot ist daher grundsätzlich nur im Falle einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit möglich.8 Voraussetzung für ein Versammlungsverbot „ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer, dass nach den Umständen zur Zeit des Erlasses der Verfügung die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist und eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit als Freiheitsrecht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergibt, dass ein Verbot zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter bzw. Gemeinschaftsgüter notwendig ist“9. Ein Versammlungsverbot ist ultima ratio und kann nur ausgesprochen werden, wenn Beschränkungen und polizeiliche Vorfeldmaßnahmen nicht genügen, um die öffentliche Sicherheit bei einer Durchführung der Versammlung zu gewährleisten.10 Das Versammlungsverbot spielt daher im Vergleich zur Versammlungsauflage nur eine untergeordnete Rolle.11 Die Rechtsprechung ist bei der Beurteilung von Versammlungsverboten im Laufe der Zeit strenger geworden. Dies wird vor allem auf die liberale Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit zurückgeführt.12 Versammlungsverbote werden in einer Vielzahl von Fällen von den Gerichten aufgehoben. Nachfolgend werden zwei Beispiele von Versammlungen erläutert, in denen das Verbot letztinstanzlich bestätigt wurde. 2.3. Versammlungsverbot wegen erwarteten Straftaten nach § 130 Abs. 3 StGB Im Februar 2006 wurde eine für Mannheim unter dem Motto „Schafft Meinungsfreiheit – Freiheit für Zündel, Rudolf, Verbeke und Irving“ angemeldete Versammlung der Gruppierung „Freie Nationalisten Rhein Neckar“ wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verboten. 4 BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 5 BVerfG NVwZ 2008, 671 (673) m.w.N. 6 Vgl. etwa BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 7 BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 8 Zu einem Ausnahmefall siehe unter 5. 9 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 113. 10 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 112. 11 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 112. 12 Vgl. Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 119. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 6 Das Verwaltungsgericht (VG) Karlsruhe bestätigte im Eilverfahren das Verbot.13 Bereits das Motto der Versammlung lege eine Gefahr der Begehung von Straftaten nach § 130 Abs. 3 und 4 StGB nahe. Bei den genannten Personen handle es sich um bekannte Holocaust-Leugner. Der Veranstalter billige ausweislich des Versammlungsmottos deren Äußerungen und fordere zudem die Abschaffung von § 130 Abs. 3 StGB. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden Württemberg wies die Beschwerde der „Freien Nationalisten Rhein Neckar“ gegen das Verbot zurück.14 Die angekündigten Redner seien Vertreter eines revisionistischen Weltbildes, mit dem sich auch die Veranstalter identifizierten. Es sei davon auszugehen, dass die Redner Straftaten nach § 130 Abs. 3 StGB begehen würden. Diese Einschätzung wurde durch das BVerfG bestätigt.15 Unter den Rednern seien bereits wegen Volksverhetzung vorbestrafte Personen, was die Annahme der Gefahr für die öffentliche Sicherheit verstärke. 2.4. Versammlungsverbot wegen polizeilichen Notstands Versammlungsverbote aufgrund von befürchteten Gegendemonstrationen sind grundsätzlich unzulässig, da sich die behördlichen Maßnahmen gegen die störenden Dritten richten müssen.16 Eine Ausnahme gilt jedoch im Fall des sog. polizeilichen Notstands. Dieser Begriff bezeichnet den Fall, dass die Versammlungsbehörde gegen einen Dritten anstelle des eigentlichen Störers einschreiten muss, weil es ihr unmöglich ist, die öffentliche Sicherheit durch Maßnahmen gegen den Störer aufrecht zu erhalten.17 Eine für den 31. Dezember 2016 angemeldete Versammlung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), die unter dem Motto „Wenn eine Armlänge nicht mehr ausreicht“ hinter dem Kölner Hauptbahnhof stattfinden sollte, wurde aufgrund der nicht zu gewährleistenden Sicherheit verboten. Die verfügbaren polizeilichen Einsatzkräfte seien am Silvesterabend bereits durch andere Sicherheitsaufgaben gebunden. Da mit dem Auftreten gewaltbereiter Gegendemonstranten zu rechnen sei und der Schutz der Teilnehmer nicht gewährleistet werden könne, dürfe die Versammlung nicht stattfinden. Das VG Köln bestätigte das Versammlungsverbot und führte aus, dass aufgrund der besonderen Sicherheitslage am Silvesterabend ausnahmsweise gegen die friedlichen Demonstranten als Nichtstörer vorgegangen werden könne.18 Die Silvesterfeierlichkeiten würden durch ein umfangreiches Polizeiaufgebot geschützt. Es seien daher nicht genügend Kräfte verfügbar, um die Versammlung vor Gegendemonstranten zu schützen. Somit liege ein polizeilicher Notstand 13 VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. März 2006, 11 K 632/06. 14 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 4. April 2006, 1 S 723/06. 15 BVerfG NVwZ 2006, 815. 16 Vgl. BVerfGE 69, 315 (360 f.). 17 Dürig-Friedl in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 72. 18 VG Köln, Beschluss vom 21. Dezember 2016, 20 L 3216/16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 7 vor, der zum Verbot der Versammlung berechtige. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein- Westfalen wies die Beschwerde der NPD gegen das Urteil zurück.19 3. Grundsätze der sog. Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG Das BVerfG entschied am 4. November 2009 über die Verfassungsbeschwerde gegen ein Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Das BVerwG hatte ein Verbot einer für den 20. August 2005 im fränkischen Wunsiedel angemeldeten Gedenkkundgebung für Rudolf Heß bestätigt.20 Das Verbot wurde auf § 15 Abs. 1 VersG in Verbindung mit § 130 Abs. 4 StGB gestützt. Der Beschwerdeführer hielt § 130 Abs. 4 StGB sowie deren Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht für verfassungswidrig. 3.1. Verfassungsmäßigkeit von § 130 Abs. 4 StGB Nach § 130 Abs. 4 StGB wird mit „Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe […] bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“. Das BVerfG hatte insbesondere über die Vereinbarkeit von § 130 Abs. 4 StGB mit der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zu entscheiden . Schwerpunkt der Entscheidung war die Frage, ob es sich bei der Norm um ein „allgemeines Gesetz“ handelt, da grundsätzlich nur ein solches gemäß Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit einschränken darf. Das BVerfG entschied, dass § 130 Abs. 4 StGB zwar kein allgemeines Gesetz sei, da sich die Norm ausschließlich auf Meinungsäußerungen beziehe, die eine bestimmte Haltung zum Nationalsozialismus ausdrückten.21 Ausnahmsweise könne die Vorschrift aber auch als Sonderrecht die Meinungsfreiheit einschränken: „Von dem Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ist eine Ausnahme anzuerkennen für Vorschriften, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen. Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“22 19 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Dezember 2016, 15 B 1525/16. 20 BVerfGE 124, 300. 21 BVerfGE 124, 300 (325). 22 BVerfGE 124, 300 (328). Diese Auffassung wurde von großen Teilen der Literatur kritisiert, vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 84. EL August 2018, Art. 5 Abs. 1 GG Rn. 125; Rackow, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK StGB, 40. Edition Stand: 1. November 2018, § 130 StGB Rn. 46 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 8 3.2. Grundsätze zur Auslegung von Art. § 130 Abs. 4 StGB Aus der Entscheidung ergeben sich Grundsätze zur Auslegung von § 130 Abs. 4 StGB, die auf andere Fälle Anwendung finden können. Nach Ansicht des BVerfG ist es für eine Verwirklichung des Tatbestandes von § 130 Abs. 4 StGB erforderlich, dass sich die von der Norm erfasste Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung erkennbar konkret auf die Gewalt- und Willkürherrschaft des Nationalsozialismus bezieht. Der Begriff der Gewalt- und Willkürherrschaft bezeichne dabei „die für das NS-Regime kennzeichnenden Menschenrechtsverletzungen und damit geschichtlich reale Willkürakte von verbrecherischer Qualität“23. Eine Zustimmung zu diesen Akten lasse die Möglichkeit einer „Wiederholbarkeit real werden“24 und könne die Friedlichkeit der politischen Auseinandersetzung gefährden. Nicht ausreichend für die Verwirklichung des Tatbestandes sei hingegen „jedwede Zustimmung zu Geschehnissen dieser Zeit oder eine Gutheißung allgemein nationalsozialistischen Gedankenguts. So genügt etwa eine falsche Geschichtsinterpretation oder das Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie für eine Bestrafung nach § 130 Abs. 4 StGB nicht.“25 Eine Billigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft sei auch dann möglich, wenn sie nicht ausdrücklich erfolge, sich aber aus den Umständen ergebe. Das BVerfG bestätigte die Auffassung des BVerwG, dass der Tatbestand auch durch eine Verherrlichung nationalsozialistischer Symbolfiguren erfüllt werden könne: „Die Entscheidung legt insoweit eine differenzierende, der Meinungsfreiheit Rechnung tragende Auffassung zugrunde, nach der eine solche Billigung nur dann anzunehmen ist, wenn die geehrte Person unter den gegebenen Umständen als Symbolfigur für die Herrschaft des Nationalsozialismus als solche steht, nicht aber schon dann, wenn sich positive oder selbst verharmlosende Äußerungen auf – auch führende – Vertreter des Nationalsozialismus beziehen, die nur der Person gelten. Keinen verfassungsrechtlichen Einwänden unterliegt hierbei auch die Beurteilung, dass die uneingeschränkte Verherrlichung einer Symbolfigur, die für die nationalsozialistische Herrschaft insgesamt steht, sich zugleich als eine Billigung der Gewalt- und Willkürherrschaft darstellt. Eine Billigung, die sich vorbehaltlos auf die Herrschaft des Nationalsozialismus in den Jahren zwischen 1933 und 1945 als Ganze bezieht, wird bei einem unbefangenen Betrachter unweigerlich auch und vor allem als Billigung der diese Zeit kennzeichnenden Menschenrechtsverletzungen verstanden werden.“26 Zulässig sei daher auch die Deutung des BVerwG, dass bei der Versammlung Rudolf Heß in seiner Rolle als Stellvertreter Hitlers und damit als ein wesentlich Mitverantwortlicher von Menschenrechtsverletzungen geehrt werden sollte: 23 BVerfGE 124, 300 (343). 24 BVerfGE 124, 300 (343). 25 BVerfGE 124, 300 (343). 26 BVerfGE 124, 300 (346). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 9 „Es [das BVerwG] stellt hierbei maßgeblich darauf ab, dass Rudolf Heß [...] bei Gesamtwürdigung der geplanten Versammlung als „Stellvertreter des Führers“, wesentlich Mitverantwortlicher für das Geschehen und damit des nationalsozialistischen Regimes als solchen geehrt werden sollte. Angesichts der langjährigen und zeitweilig besonders engen Beziehung zwischen Adolf Hitler und Rudolf Heß, die auch in der äußerst hervorgehobenen Funktion von Rudolf Heß als ,Stellvertreter des Führers‘ in allen Parteiangelegenheiten seinen Ausdruck gefunden hatte, sowie seiner persönlichen Verantwortung für massive Menschenrechtsverletzungen hält sich die Einschätzung, dass sich eine solche Deutung bei der Versammlung in den Vordergrund geschoben hätte, im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.“27 Liege nach diesen Maßstäben eine Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft vor, so könne die zur Erfüllung des Tatbestandes ebenfalls erforderliche Verletzung der Würde der Opfer grundsätzlich vermutet werden.28 Gleiches gelte für die erforderliche Störung des öffentlichen Friedens. Diese Vermutung trage nur in Ausnahmefällen nicht, etwa wenn „im konkreten Fall gewaltanreizende und einschüchternde oder bedrohende Wirkungen ausgeschlossen werden können, etwa weil Äußerungen im Rahmen kleiner geschlossener Versammlungen keine Tiefen- oder Breitenwirkung erreichen, sie beiläufig bleiben oder unter den konkreten Umständen nicht ernst genommen werden können“29. Zusammengefasst lässt sich damit sagen, dass eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 4 StGB und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG in Betracht kommt, wenn bei einer Versammlung eine Gutheißung des Nationalsozialismus zu erwarten ist, die sich erkennbar auf dessen Gewalt- und Willkürherrschaft bezieht. Eine reine Billigung des Nationalsozialismus im Ganzen genügt hingegen nicht. Die Gutheißung muss nicht ausdrücklich erfolgen, sondern kann sich aus dem Gesamtumständen der Versammlung ergeben. Die Erfüllung des Tatbestandes kann auch durch eine Verherrlichung von nationalsozialistischen Führungspersonen erfolgen. Erforderlich ist dafür aber, dass die Person als Symbolfigur stellvertretend für die Gewalt- und Willkürherrschaft des Nationalsozialismus steht, sodass durch die Ehrung der Person zugleich eine Gutheißung dieser Gewalt- und Willkürherrschaft erfolgt. Bei einer Versammlung zu Ehren von Rudolf Heß ist es eine zulässige Deutung, dass sich die Ehrung auf dessen Rolle als Hitlers Stellvertreter und damit auf seine Verantwortlichkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen bezieht. Diese Grundsätze entbinden die Versammlungsbehörden allerdings nicht von einer Beurteilung im Einzelfall unter Einbeziehung aller Umstände und Abwägung der gegenüberstehenden Interessen. Zu beachten ist außerdem, dass es für die von der Versammlungsbehörde im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG i.V.m. § 130 Abs. 4 StGB aufgestellte Gefahrenprognose darauf ankommt, durch wen die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft droht. Entscheidend sind grundsätzlich die Äußerungen des Veranstalters sowie der von ihm eingeladenen Teilnehmer. Äußerungen und Aufrufe von Dritten „sind nur dann für die Gefahrenprognose erheblich, wenn sie dem Veranstalter zugerechnet werden können, weil 27 BVerfGE 124, 300 (347). 28 BVerfGE 124, 300 (344). 29 BVerfGE 124, 300 (344). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 10 er sie kennt, sich damit solidarisiert oder sie zumindest duldet und sich nicht deutlich öffentlich distanziert“30. 4. Mögliche Erweiterung von § 130 Abs. 4 StGB? Fraglich ist, ob der Tatbestand von § 130 Abs. 4 StGB um weitere Handlungen erweitert werden könnte. Eine Erweiterung des Tatbestandes müsste mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar und daher verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit von § 130 Abs. 4 StGB beruht allerdings nach der Wunsiedel-Entscheidung auf dem begrenzten Anwendungsbereich der Norm: „§ 130 Abs. 4 StGB ist in seiner Ausgestaltung auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Vorschrift begründet bei einer Auslegung, die Art. 5 Abs. 1 GG Rechnung trägt, einen angemessenen Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und dem Schutz des öffentlichen Friedens. Sie ist insbesondere nicht in dem Sinne übermäßig weit gefasst, dass sie inhaltlich schon allein die Verbreitung von rechtsradikalen und auch an die Ideologie des Nationalsozialismus anknüpfenden Ansichten unter Strafe stellte. Weder verbietet sie generell eine zustimmende Bewertung von Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes, noch eine positive Anknüpfung an Tage, Orte oder Formen, denen ein an diese Zeit erinnernder Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt. Die Strafandrohung ist auf die Gutheißung allein der historisch real gewordenen Gewalt- und Willkürherrschaft unter dem Nationalsozialismus begrenzt, für die Deutschland eine fortwirkende, besondere, geschichtlich begründete Verantwortung trägt.“31 Eine Erweiterung der Norm dürfte aufgrund dieser Ausführungen verfassungsrechtlich problematisch sein. Zulässig wäre aber eine Klarstellung des Gesetzgebers durch ausdrückliche Nennung von Handlungen, die bereits von § 130 Abs. 4 StGB umfasst sind, wie etwa der Verherrlichung von Symbolfiguren der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. 5. Versammlungsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung Neben dem Verbot oder der Beschränkung einer Versammlung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit besteht nach § 15 Abs. 1 VersG die Möglichkeit, wegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung gegen eine Versammlung vorzugehen. Gegen den Inhalt von Meinungsäußerungen kann allerdings nur dann vorgegangen werden, wenn durch die Äußerungen die Grenze zur Strafbarkeit überschritten wird, die Äußerungen also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten.32 Beschränkende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung kommen immer dann in Betracht, wenn diese sich gegen die Art und Weise der Durchführung der Versammlung richten.33 30 Dürig-Friedl in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 22. 31 BVerfGE 124, 300 (337). 32 BVerfG NVwZ 2008, 671 (673). 33 BVerfG NVwZ 2008, 671 (673). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 11 Zur Frage, wann die Art und Weise einer Versammlung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, hat das BVerfG ausgeführt: „Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung infolge der Art und Weise der Durchführung einer Versammlung kann beispielsweise bei einem aggressiven und provokativen, die Bürger einschüchternden Verhalten der Versammlungsteilnehmer bestehen, durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird. Ein Anlass für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit unter Berufung auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung kann ferner gegeben sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dienenden Feiertag so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen [...]. Gleiches gilt, wenn ein Aufzug sich durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft identifiziert und durch Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert [...]. Art. 8 GG schützt zwar Aufzüge , nicht aber Aufmärsche mit paramilitärischen oder in vergleichbarer Weise aggressiven und einschüchternden Begleitumständen [...].“ Als einschränkende Auflagen kommen etwa ein Verbot des Tragens bestimmter Bekleidung oder der Verwendung bestimmter Gegenstände in Betracht.34 Möglich ist grundsätzlich auch die zeitliche oder örtliche Verlegung der Versammlung. Allerdings schützt die Versammlungsfreiheit unter anderem die Selbstbestimmung des Veranstalters in Bezug auf den Zeitpunkt und Ort der Versammlung .35 Verändert die Versammlungsbehörde den Ort oder den Zeitpunkt der Versammlung in einer Weise, die erkennbar nicht vom Veranstalter gewollt war, so wird die Verlegung nicht als Auflage, sondern als Verbot eingestuft.36 Ein solches Verbot zum Schutz der öffentlichen Ordnung ist nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn die Versammlung an einem bestimmten Gedenktag oder Gedenkort stattfinden sollte und die „Stoßrichtung“ der Versammlung sich eindeutig gegen das Gedenken richtet.37 Für die Beurteilung ist insbesondere das Motto der Versammlung maßgeblich. Das BVerwG stellte 2014 die Rechtswidrigkeit einer Verfügung fest, mit der eine Versammlung der NPD am Holocaust-Gedenktag auf den nächsten Tag verschoben werden sollte.38 Zur Begründung führte das Gericht aus, dass zwischen dem Motto der Versammlung „Von der Finanz- zur Eurokrise – zurück zur D-Mark heißt unsere Devise“ und dem Gedenken an die Holocaust-Opfer kein Zusammenhang bestehe. Eine besondere Ausprägung des Schutzes bestimmter Orte vor Versammlungen findet sich in § 15 Abs. 2 VersG. Die Vorschrift gibt der Versammlungsbehörde die Möglichkeit, Auflagen oder Verbote auszusprechen, „wenn die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als 34 Vgl. Dürig-Friedl in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 105. 35 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 38. Edition, Stand: 15. August 2018, Art. 8 GG Rn. 17. 36 Kniesel in : Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl. 2016, § 15 VersG, Rn. 14. 37 Dürig-Friedl in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 99. 38 BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2014, 6 C 1/13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 396/18 Seite 12 Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnern“. § 15 Abs. 2 S. 2 VersG benennt ausdrücklich das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als solch einen Ort. Den Ländern steht es gemäß § 15 Abs. 2 S. 4 VersG frei, weitere symbolträchtige Orte festzulegen. ***