© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 384/18 Die postmortale Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 384/18 Seite 2 Die postmortale Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 384/18 Abschluss der Arbeit: 05.11.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 384/18 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird, inwiefern die Schutzwirkung der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG über den Tod eines Menschen hinausgeht und ob sie damit Auswirkungen auf die Gewährleistung der Totenruhe auf Friedhöfen haben kann. 2. Umfang der Menschenwürde Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG garantiert den allgemeinen Eigenwert, der jedem Menschen kraft seines Personseins zukommt.1 Die Menschenwürde ist der Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertesystems .2 Sie schützt alle Menschen vor Angriffen auf ihre Würde. Solche Angriffe können in Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und anderen Verhaltensweisen bestehen, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen.3 Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet den Staat zum positiven Schützen der Menschenwürde, auch vor Angriffen aus dem nichtstaatlichen Bereich.4 Geschützt ist die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und sich seiner selbst bewusst ist. Es kommt darauf an, was der Betroffene empfindet; übertriebene Empfindlichkeit wird aber nicht geschützt.5 Von Art. 1 Abs. 1 GG wird nur der Kernbereich menschlicher Existenz vor schweren Beeinträchtigungen geschützt.6 Nicht alle Geschmacklosigkeiten, zweifelhaften Formen des Zeitvertreibs oder dem Jugendschutz unterfallenden Vergnügungen sind zugleich Würdeverletzungen.7 Da auf Rechtfertigungsebene grundsätzlich keinerlei Abwägungsspielräume bestehen, kann nicht schon bei jedem im allgemeinen Sprachgebrauch als „unwürdig“ bezeichneten Zustand auch eine Verletzung der Menschenwürde im juristischen Sinne angenommen werden.8 Das Grundrecht vermittelt nur Elementarschutz, es geht um schwere Beeinträchtigungen des Kernbereichs menschlicher Existenz, nicht um jeden unliebsamen Zustand.9 1 BVerfGE 30, 1. 2 BVerfGE 6, 32 (41). 3 BVerfGE 107, 275 (284). 4 Antoni in: Hömig/Wolff, 12. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 8. 5 Antoni in: Hömig/Wolff, 12. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 4. 6 Höfling in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 17. 7 Dreier in: Dreier, 3. Aufl. 2013, Art. 1 GG Rn. 152. 8 Hillgruber in: Epping, 38. Ed. 2018, Art. 1 GG Rn. 11. 9 Jarass in: Jarass/Pieroth, 15. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 11a. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 384/18 Seite 4 3. Postmortale Geltung Menschenwürde kommt jedem Wesen der Gattung „Mensch“ zu.10 Inwieweit ihr Schutz auch über den Tod des Menschen hinaus Bestand hat, ist umstritten: Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts endet die Menschenwürde nicht mit dem Tod. Die Würde und der allgemeine Achtungsanspruch seien vom Staat unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG noch über den Tod hinaus zu achten und zu schützen.11 Dies betreffe den Schutz der Ehre des Verstorbenen und den Schutz seines Leichnams als Hülle der verstorbenen Person, der nicht wie beliebige Materie behandelt werden dürfe.12 Laut dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) würde es „mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.“13 Dieser Würdeschutz bezieht sich nach der Entscheidung des BVerfG auf das Lebensbild des Verstorbenen in der Wahrnehmung der Nachwelt, das vor Erniedrigung oder diffamierender Darstellung durch Dritte zu schützen sei.14 Es geht um besonders schwere Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsbildes Verstorbener.15 Dieser postmortale Persönlichkeitsschutz verblasse mit der Zeit und verliere namentlich gegenüber der Meinungsfreiheit allmählich in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen schwächer werde, an Umfang.16 Eine absolute Aussage 10 Hillgruber in: Epping, 38. Ed. 2018, Art. 1 GG Rn. 3. 11 So das BVerfG zum Ehrschutz eines Verstorbenen in Abwägung zur Kunstfreiheit, BVerfGE 30, 173 (194); ebenso das BVerfG zur postmortalen Achtung in Abwägung zur Meinungsfreiheit, BVerfG NJW 2001, 2957; zustimmend Herdegen in: Maunz/ Dürig, 83. EL 2018, Art. 1 GG Rn. 57; mit Verweis auf: Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Auflage 2018, Art. 1 GG Rn. 22. 12 BayVGH NJW 2003, 1620 zu Plastinaten in der „Körperwelten“-Ausstellung; Hillgruber in: Epping, 38. Ed. 2018, Art. 1 GG Rn. 5. 13 BVerfGE 30, 173 (194). 14 Enders in: Friauf/Höfling, 3. EL 2018, Art. 1 GG Rn. 120; Hanau in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, 1. Aufl. 2016, Art. 1 GG Rn. 11. 15 Di Fabio in: Maunz/Dürig, 83. EL 2018, Art. 2 GG Rn. 226. 16 BVerfGE 30, 173 (196); Enders in: Friauf/Höfling, 3. EL 2018, Art. 1 GG Rn. 120. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 384/18 Seite 5 zu Intensität und Dauer der Schutzwirkung lasse sich nicht treffen. Diese hänge von der Intensität der Persönlichkeitsverletzung ab.17 Nach anderer Ansicht in der Literatur endet der Würdeschutz mit dem Absterben des Menschen als lebender Organismus.18 Tote seien nicht grundrechtsberechtigt, Grundrechtsträger seien stattdessen die Überlebenden; ihnen gegenüber entstünden nachwirkende Schutzpflichten, die Würde des Verstorbenen dürfe nicht missachtet werden.19 Anknüpfungspunkt für den würdevollen Umgang mit Leichnamen seien die Gefühle der Hinterbliebenen und das sittliche Pietätsempfinden der Gesamtgesellschaft.20 Nach einer weiteren Ansicht wird der Schutz der Menschenwürde zwar durch den Tod beendet, gleichzeitig gelte das Gebot der Menschenwürde aber als grundsätzliches Prinzip der Werteordnung des Grundgesetzes auch über den Tod hinaus fort.21 Weitere Stimmen erkennen eine grundrechtliche Fortwirkung der Menschenwürde nach dem Tod als postmortal wirkendes allgemeines Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG an.22 Diese Meinung wird vom BVerfG ausdrücklich abgelehnt. Grundrechtsträger des Art. 2 Abs. 1 GG könne nur der lebende Mensch sein.23 4. Schutz der Totenruhe Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 1 Abs. 1 GG über den postmortalen Achtungsanspruch eines jeden Menschen grundsätzlich auch die Totenruhe.24 Jeder tote Mensch hat einen Anspruch auf ein würdiges Begräbnis und eine würdige Totenruhe. Menschliche Leichname dürfen zudem nicht in herabwürdigender oder lächerlich machender Weise behandelt werden.25 Der Schutz der Totenruhe wird zudem strafrechtlich flankiert durch die Straftatbestände der §§ 167a, 168 StGB.26 17 Di Fabio in: Maunz/Dürig, 83. EL 2018, Art. 2 GG Rn. 226. 18 Herdegen in: Maunz/Dürig, 83. EL 2018, Art. 1 GG Rn. 56. 19 Jarass in: Jarass/Pieroth, 15. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 10. 20 Mit Verweisen auf den Streitstand Dreier in: Dreier, 3. Aufl. 2013 Art. 1 GG Rn. 75. 21 Hofmann in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, 14. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 10. 22 Herdegen in: Maunz/Dürig, 83. EL April 2018 Art. 1 GG Rn. 57. 23 BVerfGE 30, 173 (194). 24 Vgl. BVerfG Beschl. v. 09.05.2016, Az. 1 BvR 2202/13 -, juris Rn. 60. 25 So BayVGH NJW 2003, 1620 zu Plastinaten in der „Körperwelten“-Ausstellung. 26 Kunig in: v. Münch/Kunig, 6. Aufl. 2012, Art. 1 GG Rn. 15; zum Anspruch auf würdige Totenbestattung: BVerwGE 45, 224 (230). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 384/18 Seite 6 Das Unübliche, Ungewöhnliche oder auch von der Allgemeinheit als unerwünscht Empfundene ist aber selbst beim Umgang mit den menschlichen Überresten nicht per se unzulässig.27 Aus einem allgemein den Toten gebührenden Respekt lassen ferner keine subjektiven öffentlichen Rechte dem Staat gegenüber ableiten.28 Der verfassungsrechtliche Schutz währt zudem nicht ewig. So können etwa Grabstätten nach 30, 25 oder auch weniger Jahren eingeebnet oder zur Wiederbelegung freigegeben werden.29 Auch das Verhalten Privater auf Friedhofsanlagen, wird nicht per se durch den dargestellten Schutz der Totenruhe vorgegeben. Verhaltensweisen, bei denen weder die Ehre konkreter Verstorbener betroffen ist, noch Leichname und deren Ruhestätten in herabwürdigender Weise behandelt werden, stehen nicht unmittelbar im Konflikt mit der verfassungsrechtlich geschützten Totenruhe oder dem Achtungsanspruch des Verstorbenen. Es obliegt vielmehr dem Gesetzgeber bzw. dem Inhaber des Hausrechts auf Friedhöfen, etwaige problematische Verhaltensweisen durch Regelungen in den Friedhofsgesetzen oder Friedhofsordnungen zu begegnen. *** 27 BVerwG NJW 1974, 2020 zum gesetzlichen Friedhofszwang. 28 Enders in: Friauf/Höfling, 3. EL 2018, Art. 1 GG Rn. 121. 29 So Dreier in: Dreier, 3. Aufl. 2013, Art. 1 GG Rn. 77.