Deutscher Bundestag Grundgesetz a. D.? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2009 Deutscher Bundestag WD 3 – 375/09 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 2 Grundgesetz a. D.? Verfasser/in: Ausarbeitung: WD 3 – 375/09 Abschluss der Arbeit: 29. Oktober 2009 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Grundgesetz im Innern 4 2.1. Plebiszitäre Elemente 4 2.1.1. Allgemeines 4 2.1.2. Geläufige Argumente gegen Volksabstimmungen 4 2.1.3. Geläufige Argumente für Volksabstimmungen 5 2.2. Rolle des Bundesverfassungsgerichts 5 2.3. Geltungsdauer 6 3. Grundgesetz und Europa 7 3.1. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 7 3.2. Die „Solange“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 8 3.3. Europarechtlich bedingte Grundgesetzänderungen seit Maastricht 9 3.3.1. Maastricht-Vertrag 9 3.3.2. Föderalismusreform 9 3.3.3. Lissabon-Vertrag 10 3.4. Maastricht- und Lissabon-Urteil 11 3.4.1. Maastricht-Urteil 11 3.4.2. Lissabon-Urteil 12 3.4.3. Neufassung der Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 4 1. Einleitung Diese Ausarbeitung begreift sich als eine Art „Steinbruch“ für einzelne Argumentationslinien auf den Themenfeldern „Grundgesetz im Innern“ und „Grundgesetz und Europa“. Diese Zielsetzung erklärt auch ihren Umfang. Ausgewählte Artikel des Moderators der Podiumsdiskussion sind als Anlage beigefügt. 2. Grundgesetz im Innern 2.1. Plebiszitäre Elemente 2.1.1. Allgemeines Für den Bereich des Bundes sind im Grundgesetz (GG) Abstimmungen nur in Art. 29 (Neugliederung des Bundesgebietes), 118 (Neugliederung der badischen und württembergischen Länder) und 118a (Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg) vorgesehen. Das Grundgesetz ist auf eine fast ausschließliche mittelbare Ausübung von Staatsgewalt (repräsentative Demokratie) festgelegt. Allerdings hat es immer wieder parlamentarische Initiativen gegeben, direktdemokratische Elemente auf Bundesebene einzuführen. Von der 8. bis zur 16. Wahlperiode sind insgesamt 21 entsprechende Gesetzesinitiativen in den Bundestag eingebracht worden, von denen 17 Vorlagen auf eine Änderung des GG gerichtet waren. Die Vorlagen scheiterten an der nicht erreichten Zweidrittelmehrheit1. Auf Landesebene ist eine direkte Beteiligung des Volkes an der Ausübung von Staatsgewalt jedoch in weiterem Umfang möglich. 2.1.2. Geläufige Argumente gegen Volksabstimmungen Die Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Weimarer Republik haben gezeigt: Der Zwang zur Mobilisierung der Massen honoriert nicht die sachlich begründete, sondern die propagandistisch wirksame Stellungnahme. Volksabstimmungen machen nur auf der überschaubaren lokalen Ebene Sinn, da dort die zu entscheidenden Fragen einfacher sind und die Zahl der Abstimmungsberechtigten geringer ist. Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss, nicht eine Ja-oder-Nein-Entscheidung ohne weitere Arbeit an der Lösung. Die Entscheidung politischer Fragen überfordert die Erfahrung und das Wissen vieler Bürger. Gut organisierte, aktive Minderheiten haben die Möglichkeit, Sonderinteressen gegen eine passive Mehrheit durchzusetzen. Aktuelle Stimmungslagen der Bevölkerung beeinflussen das Ergebnis der Volksabstimmungen . In erster Linie steuern die Antragsteller den Abstimmungsprozess und die Medien: Es besteht die Gefahr der Manipulation. Parlamentarische Entscheidungen bieten im Gegensatz zu Volksabstimmungen ein dokumentiertes und transparentes Verfahren von Lesungen und Debatten. 1 Vgl. Hölscheidt/Menzenbach, Referenden in Deutschland und Europa, DÖV 2009, 777 (779). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 5 Ein per Volksabstimmung beschlossenes Gesetz erweckt den Anschein größerer Legitimation und ist weniger korrigierbar als parlamentarische Entscheidungen. Volksabstimmungen könnten dazu führen, dass das Parlament nur noch weniger wichtige Fragen zu entscheiden hätte. Es ist einfacher im Volk Gegner einer Änderung zu finden, als eine Mehrheit für etwas Neues. Der politische Prozess wird durch einen zusätzlichen Schritt in der Gesetzgebung verlangsamt . 2.1.3. Geläufige Argumente für Volksabstimmungen Demokratie bedeutet Regierung durch das Volk und für das Volk. Das Volk sollte daher auch mitentscheiden können. Die Nachfrage der Bevölkerung nach sachlichen Informationen und das Niveau der Berichterstattung in den Medien steigen. Volksabstimmungen führen zu einem größeren Interesse der Bürger an der Politik und zu mehr Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung. Den Bürgern sind in der modernen Bildungs- und Informationsgesellschaft Sachverstand und Unbefangenheit zuzutrauen, auch komplexe politische Sachfragen unmittelbar mitzuentscheiden . Es gibt Volksabstimmungen auf Landesebene, die mit großem Erfolg und ohne negative Begleiterscheinungen durchgeführt wurden. Wenn Bürger die Entscheidungen selber fällen und dadurch direkt in der Verantwortung sind, sind sie eher bereit, eventuell negative Folgen der Entscheidung mitzutragen. Volksabstimmungen verringern die Kluft zwischen Staatsmacht und dem Volk. Im Gegensatz zu den Wahlen ist es dem Bürger im Rahmen einer Volksabstimmung auch einmal möglich, über ein eng gefasstes Einzelthema zu entscheiden. Das repräsentative System wird durch die direkte Bürgerbeteiligung ergänzt. Das Parlament bleibt der Ort der politischen Auseinandersetzung und Entscheidung. Das Parlament kann jederzeit eigene Gesetze verabschieden; der demokratische Entscheidungsprozess wird durch Volksabstimmungen nicht verzögert. Die meisten europäischen Verfassungen enthalten plebiszitäre Elemente. 2.2. Rolle des Bundesverfassungsgerichts Als Verfassungsorgan hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen – begrenzten – Anteil an der Staatsleitung2: Seine Entscheidungen können weitreichende politische Wirkungen haben. Wenn etwa ein Gesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärt wird, kann der politische Mehrheitswille , wie er sich in dem Gesetz artikuliert hat, nicht verwirklicht werden. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt damit selbst nicht die Richtung der Politik, aber es begrenzt die politischen Alternativen, die sich unter Umständen auf nur eine verfassungsrechtliche zulässige Problemlösung verengen können. Unbestritten sind dabei die Wechselwirkungen zwischen Verfassungsrechtsprechung und Politik. Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts wirkt unmittelbar auf die anderen Verfassungsorgane ein. Ihnen ist im verfassungsgerichtlichen Verfahren Gelegenheit zur Äußerung zu geben (so zum Beispiel nach § 94 Abs.1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz [BVerfGG] im Verfassungsbeschwerdeverfahren), soweit es um ihr Handeln oder Unterlassen 2 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Auflage 2001, Rn. 106 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 6 geht. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Sie gehen damit über die Klärung des jeweiligen Einzelfalles hinaus, indem die verfassungsrechtlichen Gründe , soweit sie zu der Entscheidung geführt haben, für alle Fälle staatlichen Handelns zu verbindlicher Richtschnur gemacht werden, soweit sie übertragbar sind3. Erklärt das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar, so hat diese Entscheidung selbst Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). Dadurch kommt der Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit der verfassungsrechtlichen Entscheidungen am deutlichsten zum Ausdruck. Freilich kann das Bundesverfassungsgericht nicht aus eigener Initiative verfassungsrechtlich klärungsbedürftige oder umstrittene Fragen aufgreifen, sondern nur dann tätig werden, wenn es zulässigerweise um eine Entscheidung ersucht wird. Auch wenn die verfassungsgerichtliche Bestätigung oder Verwerfung eines Gesetzes Wirkungen entfaltet, die mit der Entscheidung des Gesetzgebers vergleichbar sind, ist der verfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess weder materiell noch „funktionell“ Gesetzgebung, sondern stets Rechtsentscheidung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat das Gestaltungsrecht und die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers zu respektieren. Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzgesetzgeber, noch weniger ein Obergesetzgeber4. Es darf nur in Ausnahmefällen interimistischer Notgesetzgeber sein5. Im Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgebung und Normen kontrollierender Verfassungsgerichtsbarkeit ist auf jeden Fall die Gemeinwohlpräzisierung Sache des Gesetzgebers, vor allem bei der sozialstaatlich inspirierten Leistungsgesetzgebung. Es gibt allerdings auch Bereiche – das Arbeits (kampf)recht gehört zum Beispiel dazu –, in denen der einfache Gesetzgeber das heiße Eisen einer normativen Regulierung nicht anrührt6. Hier ist es mehr Last als Recht schon der Fachgerichtsbarkeit , per Richterrecht für die behelfsmäßigen quasinormativen Surrogate Sorge zu tragen 7. Ein nicht unbedenklicher Verlust an gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit tritt dadurch ein, dass der Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht oft mit mikroskopisch präzisen Belehrungen bedacht wird, was zu einer weiteren Gewichtsverlagerung nach Karlsruhe und zu Lasten der parlamentarischen Körperschaften führt8. 2.3. Geltungsdauer Das Grundgesetz ist die endgültige Verfassung des vereinigten Deutschland und gilt durch die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Jahr 1990 als vom Volk bestätigt. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, dass die Deutschen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet haben und dieses Grundgesetz damit für das gesamte Deutsche Volk gilt. Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit durch Beitritt der DDR zum Grundgesetz nach Art. 23 Grundgesetz (alte Fassung) am 3. Oktober 1990 und nach Beendigung der alliierten Besatzungsrechte durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 wurde die Bezeichnung „Grundgesetz“ für die Verfassung des vereinigten Deutschland beibehalten. Nachdem sich Forde- 3 Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 108. 4 Stern, FS für Kriele, 1997, S. 23. 5 Bethke, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 41 f. 6 Vgl. BVerfGE 50, 290 (368); 57, 220 (245 f.). 7 Vgl. BVerfGE 88, 103 (115 f.). 8 Bethke, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethke Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblatt, Stand März 1998, Vorbemerkungen Rn. 168. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 7 rungen nicht durchgesetzt hatten, die Wiederherstellung der deutschen Einheit zum Anlass zu nehmen, das Grundgesetz gemäß Art. 146 (alte Fassung) durch eine neue Verfassung abzulösen, wurde auch davon abgesehen, das Grundgesetz in Verfassung „umzutaufen“. Dafür sprachen und sprechen folgende Argumente: Das Grundgesetz hat sich als deutsche Verfassung bewährt wie keine ihrer Vorgängerinnen. Die deutsche Bevölkerung verbindet mit dem Grundgesetz Stabilität der rechtlichen Grundlagen des Staates, die weithin anerkannt sind und integrierend wirken. Das Grundgesetz gilt außerhalb Deutschlands nicht nur in den Fachkreisen der Verfassungsrechtler als Markenzeichen für die in Deutschland geltende freiheitliche demokratische Staatsordnung, die in anderen Staaten teilweise rezipiert worden ist und noch rezipiert wird. Obwohl Art. 146 GG a. F. mit der Wiedervereinigung gegenstandslos geworden war und deshalb hätte gestrichen werden können, wurde aus innenpolitischen Gründen die Vorschrift neu gefasst9. Die Neufassung der Schlussbestimmung eröffnet den Weg für eine Verfassungsablösung, worin aber kein entsprechender Auftrag liegt10. Auch lassen sich hieraus keine subjektiven Rechte auf Durchführung einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung ableiten11. Die Verfahrensvoraussetzungen für eine Verfassungsneubildung sind ebenso wenig abschließend geklärt wie die materiell -rechtlichen Bindungen der verfassunggebenden Gewalt, insbesondere an Art. 79 Abs. 3 GG. 3. Grundgesetz und Europa 3.1. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts Generell gilt für das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht der Vorrang des Gemeinschaftsrechts: Stehen europarechtliche und nationale Normen im Widerspruch, so verdrängt das Gemeinschaftsrecht das nationale Recht. Speziell für das deutsche Recht handelt es sich dabei um einen Anwendungsvorrang, keinen Geltungsvorrang. Das deutsche Recht wird also nicht außer Kraft gesetzt, sondern im Konfliktfall nicht angewandt. Dies wurde durch das Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt12: „Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts , der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (…). Art. 24 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall.“13 9 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII; 1992, § 166 Rn. 49 f.; Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Auflage 2009, Art. 146 Rn. 6. 10 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 2. Auflage 2008, Art. 146 Rn. 51. 11 BVerfGE 89, 155 (180). 12 BVerfGE 75, 223 (244); BVerfGE 85, 191 (204); BVerfGE 92, 203 (227). 13 BVerfGE 75, 223 (244), zu Art. 24 GG a.F. (Art. 23 GG), (Hervorhebung durch den Verfasser). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 8 3.2. Die „Solange“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Mit dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht zunächst im Jahr 1974.14 Im Beschluss „Solange I“ ging es um das Verhältnis zwischen sekundärem Gemeinschaftsrecht und den Grundrechten des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht traf folgende zentrale Aussagen: Grundsätzlich liegt es in der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs, über die Gültigkeit von Normen des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat hier keine Prüfungskompetenz. Aber: Das Bundesverfassungsgericht kann zu dem Ergebnis kommen, dass eine Norm von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden darf, weil sie mit einer Grundrechtsvorschrift des Grundgesetzes kollidiert: „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 [jetzt Art. 234] des Vertrags geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“15 Zur Begründung führte das Gericht aus: Art. 23 Abs. 1 GG (Art. 24 Abs. 1 a.F.) erlaubt zwar die Übertragung von Hoheitsrechten. Diese Übertragung ist aber nur zulässig, wenn dadurch nicht die Identität der deutschen Verfassung aufgegeben wird. Zentraler Bestandteil dieser Verfassung sind die Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht räumte sich selbst also eine zeitlich beschränkte Prüfungskompetenz ein, und zwar durch den Eintritt der Bedingung eines adäquaten Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Diese Bedingung sah das Bundesverfassungsgericht 1986 schließlich16 als erfüllt an und führte in der Entscheidung „Solange II“17 aus: Nach Auffassung des erkennenden Senats ist mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist.18 Damit rückte das Bundesverfassungsgericht von „Solange I“ ab und erklärte sich für die Prüfung des Gemeinschaftsrechts für nicht mehr zuständig – unter folgenden Bedingungen: 14 BVerfGE 37, 271 ff. 15 BVerfGE 37, 271 (285). 16 Nachdem in weiteren Entscheidungen Schritt für Schritt eine Umkehr von „Solange I“ zu beobachten war, vgl. BVerfG, NJW 1980, 519; BVerfG, NJW 1982, 507; BVerfG, NJW 1982, 512. 17 BVerfGE 73, 339 ff. 18 BVerfGE 73, 339 (378). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 9 „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen (…).19 Konsequenz dieser Entscheidung war schließlich auch, dass „Fachgerichte oder Behörden der Bundesrepublik Deutschland nicht befugt oder verpflichtet sind, Akte der Organe der Europäischen Gemeinschaften auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes zu überprüfen“20. 3.3. Europarechtlich bedingte Grundgesetzänderungen seit Maastricht 3.3.1. Maastricht-Vertrag Der Bundestag hat den Maastricht-Vertrag auf Grundlage des neuen Europa-Artikels angenommen : Art. 23 GG wurde mit Wirkung zum 25.12.1992 eingefügt. Art. 23 Abs. 1 GG enthält eine Integrationsklausel. In Art. 23 Abs. 2 GG sind Informationspflichten der Bundesregierung in europäischen Angelegenheiten gegenüber dem Bundestag und dem Bundesrat festgelegt und in Art. 23 Abs. 3 GG das Recht des Bundestages, dazu Stellung zu nehmen. Details regelt gemäß Art. 23 Abs. 3 GG ein Zusammenarbeitsgesetz.21 Jüngst sind in einer Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung hierfür noch speziellere Regelungen festgelegt worden.22 Für die Beteiligung des Bundesrates und der Bundesländer treffen Art. 23 Abs. 4 und Abs. 6 GG nähere Aussagen. 3.3.2. Föderalismusreform Seit seiner Neufassung durch das 38. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 199223 im Zuge der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht ist der Europaartikel 23 des 19 BVerfGE 73, 339 (387), (Hervorhebungen durch den Verfasser). 20 BVerfG, NJW 1987, 3077, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf „Solange II“. 21 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) vom 12.3.1993, BGBl. I S. 311, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 17.11.2005, BGBl. I S. 3178. 22 Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union in Ausführung des § 6 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (BTBregGVereinb) vom 28.9.2006, BGBl. I S. 2177. 23 BGBl. I S. 2086. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 10 Grundgesetzes (GG) einmal geändert worden, nämlich durch das 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 200624 im Rahmen der Föderalismusreform. Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG erhielt mit Wirkung ab 1. September 2006 folgende Fassung: „Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen , vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen.“ Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG lautete vorher: „Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden.“ Es wurden also die Wörter „auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks “ eingefügt, das Wort „soll“ durch „wird“ ersetzt sowie am Ende das Wort „werden“ gestrichen . Art. 45 GG, der den Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union betrifft, ist seit Maastricht nicht geändert worden. 3.3.3. Lissabon-Vertrag Das GG hat drei Änderungen25 erfahren, die in Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon vom 13. Dezember 2007 stehen. Dort werden den Parlamenten der EU- Mitgliedstaaten – damit auch dem Bundestag und dem Bundesrat – erstmalig direkte Mitwirkungsrechte gegenüber Organen der Europäischen Union verliehen. Die Grundgesetzänderungen treten an dem Tag in Kraft, an dem der Vertrag von Lissabon nach seinem Art. 6 Abs. 2 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft tritt. Durch die Grundgesetzänderung soll in Art. 23 GG folgender Abs. 1a eingefügt werden: „Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 zugelassen werden.“ Art. 45 GG erhielt folgende Fassung: „Der Bundestag bestellt einen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregie- 24 BGBl. I S. 2034. 25 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93) vom 8. Oktober 2008 (BGBl. S. 1926). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 11 rung wahrzunehmen. Er kann ihn auch ermächtigen, die Rechte wahrzunehmen, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind.“ Der Bundestag kann den Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union nunmehr nicht nur – wie bisher – zur Wahrnehmung der Rechte des Plenums gemäß Art. 23 GG gegenüber der Bundesregierung ermächtigen, sondern auch zur Wahrnehmung derjenigen Rechte, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind. Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 GG lautet nunmehr: „(Das Bundesverfassungsgericht entscheidet) bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung , einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages.“ Das für Normenkontrollanträge aus der Mitte des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht maßgebende Quorum (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ist damit an das für die Erhebung der Subsidiaritätsklage vorgesehene Quorum eines Viertels der Mitglieder des Bundestages angepasst worden26. 3.4. Maastricht- und Lissabon-Urteil 3.4.1. Maastricht-Urteil Gegenstand des Maastricht-Urteils27 aus dem Jahr 1993 war das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union28. Der Schwerpunkt der Entscheidung lag bei der Frage , welche verfassungsrechtlichen Grenzen existieren, wenn sich die deutsche Rechtsordnung zugunsten der Hoheitsgewalt einer supranationalen Organisation öffnet. Die Kernaussagen29 lauten: Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung ist aber, dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme gesichert ist.30 Die Aufgaben des Bundestags dürfen nicht entleert werden. Damit die durch die Wahl bewirkte Legitimation erhalten bleibt, müssen dem Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben.31 Gesetze, die die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht öffnet, müssen die übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm hinreichend bestimmbar festlegen.32 Eine Generalermächtigung ist demnach unzulässig. 26 Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/8488, S. 2. 27 BVerfGE 89, 155 ff. 28 BGBl. II S. 1251. 29 BVerfGE 89, 155 (181). 30 BVerfGE 89, 155 (184). 31 BVerfGE 89, 155 (186). 32 BVerfGE 89, 155 (187). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 12 Das Gericht traf auch Aussagen, die sich in den Kontext der „Solange“-Rechtsprechung einfügen . Erneut ging es um das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Grundrechten. Zur Frage, welches Gericht über den Grundrechtsschutz gegenüber Rechtsakten der Europäischen Union zu entscheiden hat, führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit (…), dass ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. (…) Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis’ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (…) beschränken kann.“33 Diese Aussagen lagen im Wesentlichen auf der Linie der „Solange II“-Rechtsprechung. Eine nochmalige Konkretisierung erfolgte in der Entscheidung zur Bananenmarktverordnung im Jahr 2000.34 Kooperationsverhältnis meint danach nicht, dass das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz wieder neben dem Europäischen Gerichtshof ausübt. Diese Aussage könne dem Maastricht-Urteil nicht entnommen werden.35 Vielmehr bleibt es dabei, dass das Bundesverfassungsgericht erst und nur dann wieder tätig wird, wenn der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsstandard verlassen sollte, den der Senat in Solange I festgestellt hat.36 3.4.2. Lissabon-Urteil Mit Urteil vom 30. Juni 200937 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass das deutsche Gesetz zum Vertrag von Lissabon (Zustimmungsgesetz) mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Auch gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Hingegen war das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (sog. Begleitgesetz) verfassungswidrig, insoweit es Bundestag und Bundesrat keine hinreichenden Beteiligungsrechte im europäischen Rechtsetzungs- und Vertragsänderungsverfahren einräumt . Anlass der Entscheidung waren Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren gegen das Zustimmungsgesetz, das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes und das Begleitgesetz. Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerden waren Dr. Peter Gauweiler, MdB, die Mitglieder der Bundestagsfraktion DIE LINKE., der Bundesvorsitzende der ödp, Prof. Dr. Klaus Buchner, 33 BVerfGE 89, 155 (174 f.). 34 BVerfGE 102, 147 ff. 35 BVerfGE 102, 147 (165). 36 BVerfGE 102, 147 (163). 37 BVerfG, Rs. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009, abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 13 und vier Einzelpersonen, zu denen auch das ehemalige Mitglied des Europäischen Parlaments (EP), Franz Ludwig Graf von Stauffenberg, zählte. Dr. Peter Gauweiler, MdB, und die Bundestagsfraktion DIE LINKE. hatten zusätzlich Anträge im Organstreitverfahren gestellt. Antragsgegner in den Organstreitverfahren waren sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Bundesregierung. Die Beschwerdeführer bescheinigten der EU ein anhaltendes Demokratiedefizit, welches auch durch eine Stärkung des EP im Vertrag von Lissabon nicht behoben werde. Befürchtet wurde auch ein Verlust der staatlichen Souveränität aufgrund der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU. Das BVerfG entwickelte den Maßstab seiner Prüfung – anknüpfend an die Entscheidung zum Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1993 – auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 GG, dem Wahlrecht , das einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung garantiere. Dieses Recht sei elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips. Es könne verletzt sein, wenn die Organisation der Staatsgewalt so geändert werde, dass z. B. dem Deutschen Bundestag als dem Organ, das unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande gekommen sei, keine Aufgaben von substantiellem politischem Gewicht blieben. Das Grundgesetz ermögliche es aber, Deutschland in eine internationale, insbesondere auch eine europäische Friedensordnung einzufügen; das BVerfG prägt hier den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit. Voraussetzung für eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU sei jedoch, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beachtet werde. Hiernach dürfen der EU nur sachlich begrenzte Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten übertragen werden, die eigenständige Schaffung neuer Zuständigkeiten durch die EU muss ausgeschlossen sein. Die Mitgliedstaaten müssten die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebensverhältnisse noch politisch gestalten können. Die europäische Integration dürfe gemäß Art. 23 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG nicht zu einer Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen. Betont wird die dauerhafte Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane, insbesondere auch die des Bundestages . Gleichzeitig fordere das Grundgesetz, dass die Ausgestaltung der EU selbst demokratischen Grundsätzen entsprechen müsse. Die jeweils geforderte Reichweite der demokratischen Legitimation hänge dabei vom Ausmaß der Integration ab. Die über die mitgliedstaatlichen Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der EU, abgestützt durch das EP, reiche aus, soweit u. a. das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrt bleibe. Gemessen an diesem Maßstab hält das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon nach Ansicht des BVerfG den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das Grundgesetz an die EU stellt, im Grundsatz stand. Die EU sei zwar nach dem Vertrag von Lissabon weit integriert, doch werde kein Bundesstaat geschaffen, es handele sich bei der EU um einen Verbund souveräner Staaten. Pointiert beschreibt das BVerfG hierbei die Gestalt des EP: Dieses sei eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten, nicht der Bürger, auf die der Grundsatz der Wahlgleichheit keine Anwendung finde. Diese Beschränkung der europäischen Hoheitsgewalt könne auch durch andere Regelungen des Vertrags, z. B. durch die Mitwirkungsrechte nationaler Parlamente, nicht behoben werden. Deutschland bleibe ein souveräner Staat. Die Einhaltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung könne jedenfalls dann hinreichend kontrolliert werden, wenn die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat gestärkt würden, wie das Gericht bei der Würdigung des Begleitgesetzes näher darstellt. Dem Bundestag blieben trotz der neu begründeten Zuständigkeiten der EU Aufgaben von substantiellem Gewicht. Unter anderem seien zwar im Bereich der Strafrechtspflege die Zuständigkeiten der EU erheblich erweitert, dies sei jedoch unter der Voraussetzung einer engen Auslegung und einer besonderen Rechtfertigung mit dem Grundgesetz vereinbar. Gleiches gelte für die neuen Zuständigkeiten im Bereich der Außenwirtschaftsbeziehungen . Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräf- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 14 te bestehe fort. Auch blieben dem Bundestag in hinreichendem Umfang sozialpolitische Gestaltungsräume . Hingegen verstoße das Begleitgesetz in Teilen gegen Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG und müsse daher verfassungskonform geändert werden. Während das BVerfG die im Begleitgesetz geregelte Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle nicht kritisiert, sieht es insbesondere Defizite bei der Beteiligung von Bundestag und Bundesrat in den unterschiedlichen Fällen der Vertragsänderung des Vertrags von Lissabon. Bisher nicht berücksichtigt im Begleitgesetz sei unter anderem das vereinfachte Änderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 6 EUV. Diese Norm eröffne den Regierungsvertretern im Europäischen Rat einen weiten, für den deutschen Gesetzgeber kaum vorhersehbaren Handlungsspielraum für Änderungen des Primärrechts. Jede Änderung im vereinfachten Verfahren bedürfe daher eines Gesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 3 GG. Des Weiteren sehe der Vertrag von Lissabon eine allgemeine Brückenklausel in Art. 48 Abs. 7 EUV vor, durch welche die Abstimmungsmodalitäten im Rat und das anzuwendende Gesetzgebungsverfahren geändert werden können. Auch hierbei handele es sich um eine primärrechtliche Änderung der Verträge, eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Europäischen Rat erfordere daher ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 3 GG. Das vom Vertrag von Lissabon in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV eingeräumte Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente sei kein ausreichendes Äquivalent zum Ratifikationsvorbehalt. Zudem müsse dem Bundestag die Ausübung des Ablehnungsrechts unabhängig von einer Entscheidung des Bundesrates eingeräumt werden. Auch soweit die EU von der Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV Gebrauch machen wolle, um die bestehenden Zuständigkeiten zielgebunden abzurunden, setze dies wegen der Unbestimmtheit möglicher Anwendungsfälle ein Gesetz auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 3 GG voraus. 3.4.3. Neufassung der Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon Am 25. September 2009 sind folgende Begleitgesetze vom 22. September 2009 in Kraft getreten: das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union38 (Kern dieses Artikelgesetzes ist das Integrationsverantwortungsgesetz ), das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG)39 und das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG)40. Das Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon vom 22. September 2009 hat der Bundespräsident noch nicht ausgefertigt. Das Integrationsverantwortungsgesetz setzt die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um. Im Einzelnen regelt es die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat bei Änderungen des Primärrechts , die nicht den üblichen Ratifikationsverfahren unterliegen, und bei der Anwendung von primärrechtlichen Rechtsgrundlagen, mit denen die Kompetenzen der EU ausgedehnt werden können. Zugleich wird die Beteiligung in den Fällen geregelt, in denen die Mitgliedstaaten einer 38 BGBl. I S. 3022. 39 BGBl. I S. 3026. 40 BGBl. I S. 3031. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 375/09 Seite 15 Vertiefung der europäischen Integration Einhalt gebieten können. Ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG ist für die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland auf Ebene der EU erforderlich für das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 6 EUV, welches Änderungen unter anderem im Bereich des Binnenmarktes, der Wirtschafts- und Währungspolitik und der Beschäftigungspolitik gestattet. Hinzu kommt eine Reihe von besonderen Vertragsänderungsverfahren , die auf einen bestimmten Bereich beschränkt sind. Bei der allgemeinen Brückenklausel in Art. 48 Abs. 7 EUV, die eine Änderung der Abstimmungsmodalitäten im Rat oder einen Wechsel des anzuwendenden Gesetzgebungsverfahrens ermöglicht, setzt bereits die Zustimmung des deutschen Vertreters im Europäischen Rat bzw. Rat ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG voraus. Gleiches gilt bei den Kompetenzerweiterungsklauseln, zu denen Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV im Bereich des Strafrechts zählt. Mit der Flexibilitätsklausel gemäß Art. 352 AEUV können die bestehenden Zuständigkeiten der EU zielgebunden abgerundet werden. Dies erfordert ebenfalls ein Gesetz auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 GG. Hingegen genügt ein Beschluss des Bundestages für die Zustimmung des deutschen Vertreters im Europäischen Rat bzw. Rat zur Anwendung von besonderen Brückenklauseln, die auf bestimmte Politiken bezogen sind. Zusätzlich ist ein Beschluss des Bundesrates erforderlich, wenn Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind. Der Bundestag kann, ebenso wie der Bundesrat in bestimmten Fällen, den deutschen Vertreter im Rat durch Beschluss anweisen, das Notbremseverfahren anzuwenden. Dieses Verfahren erlaubt es einem Mitglied des Rates den Europäischen Rat anzurufen, wenn es durch den Entwurf eines Gesetzgebungsaktes grundlegende Aspekte der Strafrechtsordnung oder des Systems der sozialen Sicherheit seines Mitgliedstaats verletzt sieht. Außerdem werden im Integrationsverantwortungsgesetz die primärrechtlich gewährten Rechte der Subsidiaritätsrüge und das Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente bei Brückenklauseln näher ausgestaltet. Die sachlich mit der Subsidiaritätsrüge verknüpfte Subsidiaritätsklage wird durch das Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon nachträglich in das Integrationsverantwortungsgesetz überführt werden. Anlässlich der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden die Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in Angelegenheiten der EU zwischen Bundestag und Bundesregierung einerseits und zwischen Bund und Ländern andererseits in das EUZBBG bzw. das EUZBLG aufgenommen. Hierdurch werden die Vereinbarungen, deren Rechtsnatur bislang nicht eindeutig geklärt war, in Gesetzesform gegossen. Inhaltlich regeln beide Gesetze weitgehend Ähnliches: Die in Art. 23 Abs. 2 GG vorgesehene umfassende und frühestmögliche Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der EU durch die Bundesregierung wird ausgestaltet . Ebenfalls konkretisiert wird die grundgesetzlich vorgesehene Möglichkeit der diesbezüglichen Stellungnahmen von Bundestag oder Bundesrat. Erfahrungen aus der bisherigen Praxis, wie sie in zwei Monitoring-Berichten der Bundestagsverwaltung dargelegt wurden, sind dabei in das EUZBBG einbezogen worden. So werden unter anderem die Unterrichtungspflichten zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in eine eigene Regelung aufgenommen. Anlage