Zur Berücksichtigung der Wahlbeteiligung bei der Feststellung des Wahlergebnisses - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 340/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zur Berücksichtigung der Wahlbeteiligung bei der Feststellung des Wahlergebnisses Ausarbeitung WD 3 - 340/07 Abschluss der Arbeit: 18. September 2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Prüfungsgegenstand 1.1. Aktuelle Rechtslage in Baden-Württemberg Gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) muss das Volk in den Ländern eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Die technische Ausgestaltung des Wahlverfahrens überlässt das Grundgesetz den Ländern.1 Dementsprechend heißt es in Art. 26 Abs. 4 der Landesverfassung Baden- Württemberg (VerfBW): „Alle nach der Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen sind allgemein, frei, gleich, unmittelbar und geheim.“ In Art. 28 Abs . 1 VerfBW wird das Verfahren dahingehend näher spezifiziert, dass die Abgeordneten nach einem Verfahren gewählt werden müssen, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Unter Beachtung dieser Vorgaben und jener aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bzw. Art. 26 Abs. 4 VerfBW wird die weitere Ausgestaltung des Wahlverfahrens der Bestimmung durch ein Gesetz vorbeha lten . Der Landesgesetzgeber ist also, soweit das gewählte Verfahren mit den eben genannten Grundsätzen in Einklang steht, in der Ausgestaltung des Wahlverfahrens frei. Nach dem in Baden-Württemberg geltenden Recht finden die Wahlen zum Landtag nach einer Verhältniswahl statt, bei der jeder Wahlberechtigte gemäß § 1 Abs . 3 S. 1 Landtagswahlgesetz (LWG) eine Stimme hat. Die Auswahl der von den Parteien aufgestellten Kandidaten wird durch die erreichten Mehrheiten in den Wahlkreisen bestimmt . Es handelt sich um ein System, das Elemente der Mehrheitswahl enthält, aber zumindest vorrangig eine Verhältniswahl darstellt.2 1.2. Reformbestrebungen Aus einem interfraktionellen Antrag geht hervor, dass Bestandteil einer umfassenden Parlamentsreform in Baden-Württemberg auch eine Änderung des Wahlrechts sein soll. 1 Tettinger, in : von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Band 2, 5. Auflage 2005, Art. 28 Abs. I Rn. 85. 2 Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Artikel 28 Rn. 11, nach dem das Baden -Württembergische Wahlsystem ein reines Verhältniswahlrecht sei. Der Staatsgerichtshof Baden -Württembergs geht dagegen vom Vorliegen eines Mischsystems aus, vgl. Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Juni 2007, Aktenzeichen 1/06, Rn. 43 ff. (bei juris). - 4 - Unter Punkt 5. des Antrags, der am 24. Juli 2007 beschlossen wurde, heißt es: „Wahlkreisreform Der Landtag spricht sich für eine Wahlkreisreform aus, die vorrangig eine Angleichung der Wahlkreisgrößen zum Ziele haben muss. Dabei soll grundsätzlich eine maximale Abweichung von plus/minus 10 bis 15 v. H. nicht über-/unterschritten werden. Ferner ist eine Systemumstellung bei der Zweitausteilung vorzusehen (Mandatszuteilung nach prozentualen Stimmanteilen, bemessen nach der Zahl der Wahlberechtigten). Nach Vorlage der einschlägigen Berechnungen durch das Innenministerium setzt der Landtag eine Arbeitsgruppe aus Abgeordneten ein, die einen Vorschlag für das Parlament erarbeitet.“3 Nach Auskunft des Innenministeriums von Baden-Württemberg liegen bislang keine detaillierten Pläne vor4; auch eine verfassungsrechtliche Prüfung des Reformvorschlags hat dort noch nicht stattgefunden5. Insoweit kann hier nur untersucht werden, ob gegen die Einbeziehung der Wahlbeteiligung generelle verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. 2. Eingriff in die Gleichheit der Wahl Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung ist im Wesentlichen der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. 2.1. Rechte der Wähler Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt im Hinblick auf die Gleichheit der Wahl bei einem Verhältniswahlsystem, dass nicht nur der gleiche Zählwert , sondern grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet sein muss.6 Der gleiche Zählwert ist gegeben, wenn jede Stimme gleich viel zählt, unabhängig von der Person. Der gleiche Erfolgswert ist gegeben, wenn jede Stimme die gleiche rechtliche Möglichkeit hat, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen. 7 Gemäß § 2 Absatz 1 Satz 1 LWG werden die 120 Abgeordnetensitze des Landtages bei der so genannten Erstauszählung der Stimmen zunächst 3 LT-Drs. 14/1550, S. 3, (Hervorhebungen durch die Verfasser). 4 Vgl. entsprechende Forderungen nach Modellrechnungen, LT-Plenarprotokoll 14/30 der Sitzung vom 26. Juli 2007, S. 1937. 5 Telefonische Auskunft vom 13. September 2007. 6 BVerfGE 1, 208 (244 ff.). 7 BVerfGE 95, 335 (362). - 5 - „[…] auf die Parteien im Verhältnis ihrer Gesamtstimmenzahlen im Land nach der parteiübergreifend absteigenden Reihenfolge der Höchstzahlen verteilt, die sich durch Teilung der auf die jeweiligen Parteien entfallenen gültigen Stimmen durch ungerade Zahlen in aufsteigender Reihenfolge, beginnend mit der Zahl eins, ergibt“. Die geplante Neuregelung kommt erst bei der so genannten Zweitausteilung zum Tragen . Bei der Zweitausteilung geht es darum, dem von der Landesverfassung vorgeschriebenen „Persönlichkeitselement“ der Wahl gerecht zu werden: Hierfür werden die nach der Erstausteilung den Parteien zugefallenen Sitze mit den Personen besetzt, die sich in den einzelnen Wahlkreisen zur Wahl gestellt haben. Das mit der Verhältniswahl angestrebte Ziel, ein Parlament zu bilden, das ein „getreues Spiegelbild der parteipolitischen Gruppierung der Wählerschaft “8 bildet, „in dem jede politische Richtung in der Stärke vertreten ist, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen entspricht“9, ist durch die Erstausteilung also schon hinreichend verwirklicht. Unter dieser Maßgabe hat zunächst jede Stimme den gleichen Erfolgswert, was die Besetzung des Landtages mit den Mitgliedern der einzelnen, sich zur Wahl stellenden Parteien angeht, auch wenn unter Einbeziehung der Wahlbeteiligung in die Zweitausteilung etwas an dem System der persönlichen Zusammensetzung des Landtages geändert wird. Verfassungsrechtliche Probleme könnten sich aber daraus ergeben, dass bei der Zweitausteilung unter Einbeziehung der Wahlbeteiligung die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt würde. Es handelt sich bei diesem zweiten Schritt der Auszählung um einen Vorgang, den der Staatsgerichtshof von Baden-Württemberg der Mehrheitswahl zuordnet .10 Hier ist zunächst zu beachten, dass es bei Mehrheitswahlen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nur auf den gleichen Zählwert der Stimmen ankommt, nicht auch auf den gleichen Erfolgswert.11 Das Ziel ist es hier gerade nicht, ein getreues Abbild der gesellschaftlichen Kräfte in der Zusammensetzung des Parlaments entstehen zu lassen, bei dem jede einzelne Stimme den gleichen Einfluss hatte. Vielmehr ist es von vornherein Voraussetzung des Mehrheitswahlsystems, dass die Stimmen, die auf unterlegene Bewerber entfallen, keine Berücksichtigung finden. Es wird in einem solchen System also als zulässig anzusehen sein, dass manche Stimmen weniger, bis hin zu gar keinem Gewicht haben, weil sich andere Wähler im gleichen Wahlkreis anders entschieden haben. Das Bundesverfassungsgericht führt in diesem Zusammenhang aus, dass „die in der demokratischen Grundordnung verankerte unbe- 8 Staatsgerichtshof (Fn. 2), Urteil vom 14. Juni 2007, Aktenze ichen 1/06, Rn. 46. 9 Staatsgerichtshof (Fn. 2), Urteil vom 14. Juni 2007, Aktenzeichen 1/06, Rn. 46. 10 Staatsgerichtshof (Fn. 2), Urteil vom 14. Juni 2007, Aktenzeichen 1/06, Rn. 43 ff. 11 BVerfGE 47, 253 (277). - 6 - dingte Gleichheit aller Staatsbürger bei der Teilnahme an der Staatswillensbildung […] nicht ein Wahlsystem [verlangt], das möglichst jeder Stimme im Ergebnis Einfluss auf die Sitzverteilung gibt“12. Vielmehr könne den grundgesetzlichen Vorgaben auch ein Wahlsystem entsprechen, das „nur denjenigen Stimmen einen Erfolg ermöglicht, die zu der Mehrheit beigetragen haben“13. Erforderlich sei in diesem Verfahren jedoch die sogenannte Erfolgschancengleichheit, die das Bundesverfassungsgericht als gegeben ansieht, „wenn die Wahlkreise annähernd gleich groß sind, jede Wählerstimme gleich gezählt und dabei den jeweiligen Kandidaten gutgeschrieben wird“14. Die Erfolgschancengleichheit bezieht sich damit hauptsächlich auf Umstände , die der Gesetzgeber im Vorhinein festlegen kann, ohne dass der Wähler – insbesondere durch sein Wahlverha lten – Einfluss nehmen könnte. Ein unterschiedlicher Zuschnitt der Wahlkreise hinsichtlich ihrer Größe beeinflusst die Chancen der Wähler mit ihrer Stimme Einfluss zu nehmen , weil in einem größeren Wahlkreis mehr Stimmen für den gleichen Erfolg, nämlich die Wahl eines bestimmten Kandidaten in das Parlament, erforderlich sind, als in einem kleineren Wahlkreis. Die Stimme des Einzelnen hat in einem größeren Wahlkreis deshalb eine geringere Erfolgschance. Anders dürfte sich dies darstellen, wenn der Gesetzgeber zur Bestimmung des Wahlergebnisses an Kriterien anknüpft, die er nicht im Voraus festlegen kann. Dies ist bei der Einbeziehung der Wahlbeteiligung in das Verfahren der Zuteilung der Landtagsmandate an einzelne Kandidaten der Fall, denn Kriterium für die Vergabe der Mandate ist das Verhalten des Wählers. Dieses legt der Gesetzgeber mit der Einbeziehung der Wahlbeteiligung nicht auf eine Art und Weise fest, wonach die Erfolgschancen der Wähler beeinträchtigt wären. Dies dürfte auch gelten, wenn sich gewisse statistische Voraussagen über die Wahlbeteiligung in einen bestimmten Wahlkreis treffen lassen, da diese nur das Wahlverhalten der Vergangenheit beschreiben, nicht aber definitive Vorhersagen für das künftige Wählerverhalten möglich machen. Die abstrakte Chance , mit seiner Stimme den konkreten Kandidaten in das Parlament zu wählen, hat ein Wähler in einem Wahlkreis mit einer in der Vergangenheit geringen Wahlbeteiligung genauso wie jemand in einem Wahlkreis mit einer in der Vergangenhe it hohen Wahlbeteiligung , solange beide Wahlkreise zumindest annähernd gleich groß sind. Der Wähler hängt – wie im Mehrheitswahlsystem immer – nur von der Entscheidung der anderen Wahlbeteiligten ab. Deshalb handelt es sich bei der Einbeziehung der Wahlbeteiligung grundsätzlich auch um ein systemgemäßes und sachliches Kriterium – nämlich die Betrachtung des Verhaltens der Wahlberechtigten: 12 BVerfGE 95, 335 (370). 13 BVerfGE 95, 335 (370). 14 BVerfGE 95, 335 (370). - 7 - „Die künftige Berechnung des prozentualen Anteils – und zwar nicht des prozentualen Anteils an den gültigen Stimmen, sondern des prozentualen Anteils bezogen auf die Wahlberechtigten – berücksichtigt […], dass die Wahlbeteiligung sehr wohl eine Rolle spielt, und zwar nicht die Wahlbeteiligung pro Wahlkreis, sondern die Wahlbeteiligung pro Kandidatin und Kandidat. Es profitieren bei denen, die nicht direkt gewählt sind, innerhalb der eigenen Partei die Kandidatin und der Kandidat, die es schaffen, die relativ meisten Wählerinnen und Wähler zu den Wahlurnen zu bringen.“15 Geht man somit davon aus, dass es bei der Zweitausteilung nur auf den gleichen Zählwert der Stimmen und die Erfolgschancengleichheit ankommt, dürfte die Einbeziehung der Wahlbeteiligung grundsätzlich verfassungsgemäß sein. Die weitere Einschä tzung hängt von der konkreten Ausgestaltung ab. 2.2. Rechte der Parteien Denkbar ist weiter, dass Rechte der Parteien auf Gleichheit der Wettbewerbschancen in Frage gestellt werden. Dieses Recht ist nicht als Recht der Partei aus Art. 3 GG abzuleiten , sondern „versteht sich als Bestandteil der demokratischen Grundordnung von selbst“16. Es ist jedoch davon auszugehen, dass bei einem fehlenden Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Wahl auch das Recht der politischen Parteien auf Gleichbehandlung nicht verletzt sein dürfte.17 3. Eingriff in die Freiheit der Wahl Die Einbeziehung der Nichtwähler in die Bestimmung der personellen Zusammensetzung des Landtages könnte jedoch gegen die Freiheit der Wahl verstoßen, wie sie von Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bzw. Art. 26 Abs. 4 VerfBW ausdrücklich garantiert wird. Freie Wahlen liegen vor, wenn der Wahlberechtigte seinen wirklichen Willen unve rfälscht zum Ausdruck bringen, vor allem sein Wahlrecht ohne unzulässige Beeinflussung von außen ausüben kann. Durch die Einbeziehung der Nichtwähler in die Bestimmung der personellen Zusammensetzung des Landtages wäre es faktisch nicht mehr möglich, sich der Verantwortung für das Ergebnis einer Wahl gänzlich zu entziehen. Ob eine solche Entscheidung des Wählers vom subjektiven Recht auf Wahlfreiheit überhaupt umfasst wird, ist fraglich; 15 So die Auffassung einer Landtagsabgeordneten, vgl. LT -Plenarprotokoll 14/30 der Sitzung vom 26. Juli 2007, S. 1939. 16 So ausdrücklich schon BVerfGE 1, 208 (242). 17 Siehe zum umgekehrten Fall BVerfGE 1, 208 (242). - 8 - es wird Schrifttum bis dato nur im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Wahlpflicht diskutiert.18 Dagegen spricht jedenfalls, dass der Nachweis einer solchen bewussten Entscheidung im geltenden System schwer zu führen wäre. 18 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, § 10 II 8 S. 322 f.