Deutscher Bundestag Das Petitionswesen in der Volksrepublik China Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 333/12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 2 Das Petitionswesen in der Volksrepublik China Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 333/12 Abschluss der Arbeit: 17. Januar 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 3 1. Einleitung Der Sachstand gibt einen kurzen Überblick über das heutige Petitionswesen in der Volksrepublik China. Da sich in der deutsch- und englischsprachigen sozialwissenschaftlichen, politologischen und juristischen Literatur nur wenige Informationen hierüber finden, basiert er vornehmlich auf den Aufsätzen der deutschen Sinologin Bettina Gransow1 und des Politologen Yongshun Cai2 aus Hong Kong, auf Medienbeiträgen und einem vom Auswärtigen Amt angefertigten Sachstand (ANLAGE).3 2. Historie Das Petitionswesen in China stammt aus der Kaiserzeit und entwickelte sich im 19. Jahrhundert in derartiger Weise, dass die hierfür vorgesehenen kaiserlichen Institutionen überfordert waren.4 An diese Tradition anknüpfend hat das kommunistische China nach 1949 das Thema der Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern auf seine Tagesordnung gesetzt und beim Allgemeinen Verwaltungsrat (dem Vorläufer des Staatsrates) eine Arbeitsgruppe hierfür eingerichtet.5 1951 wurden auf Anordnung des Verwaltungsrates Petitionsbüros auf allen Stufen der lokalen und zentralen Verwaltung eingerichtet.6 Hiermit wurde die Grundlage für ein landesweites Petitionswesen geschaffen, das den Bürgern die Möglichkeit geben sollte, ihre Beschwerden von Instanz zu Instanz bis hin zu der zentralen Regierung in Peking zu richten.7 3. Bedeutung und Kompetenzen Das Petitionsrecht ist in der Chinesischen Verfassung in ihrer Fassung vom 14. März 2004 geregelt . Art. 41 Chinesische Verfassung lautet: „Die Bürger der Volksrepublik China haben das Recht, gegenüber jeglichem Staatsorgan oder Staatsfunktionär Kritik und Vorschläge zu äußern; sie haben das Recht, sich wegen Rechtsüberschreitung oder Pflichtvernachlässigung durch Staatsorgane oder Staatsfunktionäre mit einer Anrufung, Anklage oder Anzeige an das entsprechende Staatsorgan zu wenden; es dürfen jedoch keine falschen Anschuldigungen und Diffamierungen durch Erfindung oder Entstellung von Tatbeständen erhoben werden. 1 Gransow, Bettina, „Das Petitionswesen in China – ein Instrument sozialer Gerechtigkeit?“, Landeszentrale für politische Bildung, „Der Bürger im Staat“- Heft 3/4-2008, 236. 2 Cai, Yongshun, „Managed Participation in China“, Political Science Quarterly, Volume 119, Number 3, 2004, 431. 3 Der Sachstand des Auswärtigen Amtes ist im Wesentlichen mit den hier zitierten Quellen inhaltsgleich. 4 Ballweg, Silke, „Die Hoffnung stirbt zuletzt – Chinas Petitionäre und das Warten auf Gerechtigkeit“, Deutschland Radio, 5. März 2012, im Internet abrufbar unter http://www.dradio.de/dlf/hintergrundpolitik/1694349/; Gransow (Fn. 1). 236. 5 Gransow (Fn. 1), 237; Cai (Fn. 2), 431. 6 Gransow (Fn. 1), 237; Cai (Fn. 2), 431. 7 Gransow (Fn. 1), 237. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 4 Die entsprechenden Staatsorgane müssen die Anrufungen, Anklagen oder Anzeigen von Seiten der Bürger auf der Grundlage von Untersuchungen der Tatsachen verantwortungsvoll behandeln. Niemand darf eine solche Anrufung, Anklage oder Anzeige unterdrücken oder dafür Vergeltung üben. Personen, die infolge der Verletzung ihrer Bürgerrechte durch Staatsorgane oder Staatsfunktionäre Verluste erleiden, haben das Recht auf Schadensersatz gemäß den gesetzlichen Bestimmungen.“8 Vorrangig soll das Petitionsrecht also dazu dienen, die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber dem staatlichen Apparat zu schützen.9 So richten sich vor allem Opfer von Justizwillkür oder rechtswidriger Behandlung durch Verwaltungsbeamte mit ihren Beschwerden an höhere Stellen in der Hoffnung, eine gerechte Behandlung zu erfahren. Das Petitionswesen dient andererseits auch der Erhaltung der öffentlichen Ordnung, indem der Staat über Themen, die zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung führen, informiert wird.10 Zudem wird die zentrale Regierung in Peking auch auf Missstände in der Provinz und das Fehlverhalten von lokalen Beamten aufmerksam und kann Maßnahmen ergreifen.11 In der Realität ist das Petitionswesen sowohl in der Vergangenheit als auch heute wohl eher ein Mittel zur Staatsführung, als ein rechtliches Instrument.12 Die Petitionsbüros sind bei diversen Staatsorganen eingerichtet.13 So ist das Staatliche Petitionsbüro laut offiziellen chinesischen Angaben eine dem Generalbüro des Staatsrates untergeordnete Abteilung und hat folglich wie ähnliche Einrichtungen auf zentraler Ebene keine klar umgrenzte Zuständigkeit.14 Diese Büros sind vielmehr Stellen letzter Hoffnung von Petenten, die sich aus allen Ecken des Landes nach Peking auf die Reise machen, um ihre Probleme der zentralen Regierung vorzutragen.15 Eine unabhängige Justiz, so wie sie in Europa vor allem auch als Folge der Gegensätze zwischen der Zentral- und Lokalgewalt entstanden ist, konnte sich in China aus diversen Gründen nicht herauskristallisieren, sodass eine starke Verflechtung von Judikative und Exekutive bis in die heutige Zeit besteht.16 In diesem Kontext dient das auf allen Instanzen des Staatsapparates eingerichtete Petitionswesen als eine Art Ersatz für das nicht oder nur unbefriedigend funktionierende Justizwesen. Das Petitionswesen genießt im Vergleich zur Justiz auch ein größeres Vertrauen in 8 Verfassung der VR China vom 4.12.1982, zuletzt geändert am 14.03.2004, http://www.verfassungen.net/rc/verf82-i.htm [letzter Abruf am 16.01.2012]. 9 Gransow (Fn. 1), 237; Sachstand des Auswärtigen Amtes. 10 Cai (Fn. 2), S. 435; Gransow (Fn. 1), 237. 11 Gransow (Fn. 1), 237, 239. 12 Gransow (Fn. 1), 236. 13 Cai (Fn. 2), 431f. 14 State Bureau for Letters and Visits, im Internet abrufbar unter http://english.gov.cn/2005- 10/02/content_74182.htm [letzter Abruf am 16.01.2013; Vgl. Gransow (Fn. 1), 239. 15 Ballweg (Fn. 4); Gransow (Fn. 1), 236. 16 Gransow (Fn. 1), 237. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 5 der Bevölkerung, die sich von einem oft nur unter schwierigsten Bedingungen durchgeführten Weg nach Peking sehr viel erhofft.17 Um die Belastung, die auf den staatlichen Organe durch die immense Zahl an Petitionen ruht, zu verringern, wurde in chinesischen wissenschaftlichen Kreisen der Vorschlag unterbreitet, die Bedeutung von Petitionen zugunsten einer deutlichen Stärkung des Justizorgane zu schwächen.18 Von den Vertretern dieser Meinung wurde neben den genannten Argumenten auch vorgetragen, dass der deklarierte Zweck des Petitionswesens, die öffentliche Ordnung zu schützen nicht nur nicht erfüllt werde, sondern durch den Riesenflut von Petitionen aus der Provinz nach Peking und dem damit verbundenen „Petitionstourismus“ sogar gefährdet sei.19 Diese Ansichten wurden von staatlicher Seite aber nicht geteilt. Im Mai 2005 trat eine neue Petitionsverordnung in Kraft, die sogar eine Stärkung des Petitionswesens vorsah. Durch klarere Zuständigkeiten der einzelnen Petitionsbüros sollen die Beschwerden effektiver bearbeitet und durch die Erweiterung der Kompetenzen auf lokaler Ebene die immense Belastung der Büros in Peking verringert werden.20 Zu den Zuständigkeiten der Petitionsbüros gehört die Entgegennahme der Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern und die Weiterleitung an die für die Lösung der Probleme befugten Stellen. Die Untersuchung und die Verhandlungen bei für wesentlich erachteten Petitionen sowie die Erstellung von Statistiken, die für eine politische Beratung der Staatsorgane benutzt werden können, zählen ebenso zu den Aufgaben.21 Auch wenn in diesem neuen Rechtsakt Informationsrechte der Petenten gegenüber den Petitionsbüros und die Einschränkungen der Verfahrensdauer vorgesehen sind, bleibt auch weiterhin angesichts der oben genannten Aspekte der eher auf das Kollektiv- als auf das Individualinteresse bezogene Zweck des chinesischen Petitionssystems unverändert.22 4. Entwicklungen auf tatsächlicher Ebene Petitionen haben sich in China mittlerweile zu einem komplexen sozialen Phänomen entwickelt. Das Petitionswesen bildet eine Schnittstelle zwischen Bevölkerung einerseits und dem Staatsund Parteiapparat andererseits. Es verläuft oft nach ungeschriebenen Regeln, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben.23 Bemerkenswert ist vor allem, dass oftmals Petitionen nicht nur von einzelnen Personen, sondern kollektiv eingereicht werden.24 Im Rahmen solcher Aktionen ist es Leuten mit ähnlicher Beschwer möglich, sich für die Erreichung ihres gemeinsamen Zwecks einzusetzen . Beispiele waren in näherer Vergangenheit sowohl die auf dem Lande, als auch in Städ- 17 Gransow (Fn. 1), 238; Potter, Pitman B., „The Chinese Legal System – Globalization and local legal culture“, London und New York, 2001, S. 25f. 18 Gransow (Fn. 1), 238. 19 Gransow (Fn. 1), 238. 20 Gransow (Fn. 1), 238f. 21 Gransow (Fn. 1), 239; Sachstand des Auswärtigen Amtes. 22 Gransow (Fn. 1), 239. 23 Gransow (Fn. 1), 239. 24 Gransow (Fn. 1), 239f.; Sachstand des Auswärtigen Amtes. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 6 ten zwangsweise durchgeführten Umsiedlungen von Hausbewohnern und die zu geringen Entschädigungszahlungen .25 Solche Gruppenpetitionen bringen unterschiedliche Menschen für Jahre zusammen und bündeln ihre Ressourcen, was sich angesichts des ungewissen Ausganges solcher Aktionen als ein großer Vorteil gegenüber Einzelpetitionen erweist.26 Sie entwickeln aber oft auch eine eigene Dynamik. So ändert sich sehr oft der Gegenstand solcher Gruppenpetitionen, weil im Zuge ihrer Aktion den Petenten durch die verschiedenen staatlichen Stellen Hürden auf dem Weg gelegt werden, gegen die sie sich nunmehr wenden.27 Solche Hürden gibt es oftmals und sie werden durch die Eigenarten des chinesischen Petitionswesen geradezu hervorgerufen. Eine Petition zielt nämlich ihrer Natur nach auf das Aufdecken des Fehlverhaltens von Beamten gegenüber ihnen höher gestellten Staatsorganen. Liegt es im Interesse der Staatsorgane, solche Informationen von den Bürgerinnen und Bürger zu erhalten, so kann für die lokalen Beamten eine sie bloßstellende Petition von gewichtigem Nachteil sein.28 Berichten zufolge unternehmen deswegen Mitglieder der betroffenen Lokalverwaltungen alles, um Menschen aus ihrer Region von der Einreichung von Petitionen an höherer Stelle und somit von Reisen nach Peking abzuhalten. In Extremfällen, wo den Lokalbeamten eine Entlassung oder andere negative Konsequenzen drohen, sollen diese sogar die Petenten in Peking einfangen und zwangsweise zurück in ihre Region bringen. Dort sollen die unbequemen Beschwerdeführer dann diversen menschenunwürdigen Behandlungen von körperlicher Gewalt bis hin zu monatelanger Zwangsarbeit zum Opfer fallen.29 Auch die statistischen Daten werfen kein sehr gutes Licht auf das chinesische Petitionswesen. Die chinesische Akademie der Sozialwissenschaften hat im Jahre 2004 dieses System untersucht und hierfür die Betroffenen befragt.30 Die Teilnehmenden gaben an, sich im Schnitt an sechs Institutionen mit ihrem Anliegen gewandt zu haben, wobei zu den meist aufgesuchten Stellen auch das Staatliche Petitionsbüro in Peking zählte. Die Untersuchung verdeutlichte auch die großen Hoffnungen, welche die Bevölkerung an dieses Systems knüpft. So waren die in Peking frisch Angereisten am Anfang zu 94,6 Prozent davon überzeugt, dass sie dort einen guten Empfang durch die Behörden erfahren werden. Nach einer Woche Hauptstadtaufenthalt sank die Zahl der Optimisten aber schon auf 39,3 Prozent. 25 Cai (Fn. 2), S. 435; Gransow (Fn. 1), 240. 26 Vgl. Cai (Fn. 2), 451. 27 Gransow (Fn. 1), 241. 28 Gransow (Fn. 1), 241; Sachstand des Auswärtigen Amtes. 29 Cai (Fn. 2), 447; Ballweg (Fn. 4); Kupfer, Kristin, „Die revoltierenden Bittsteller von Peking“, Zeit Online, 24. Mai 2009, im Internet abrufbar unter http://www.zeit.de/online/2009/21/china-pekingpetitionen /komplettansicht; Sachstand des Auswärtigen Amtes. 30 Gransow (Fn. 1), 238. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 333/12 Seite 7 Diese Enttäuschung der Petenten ist meistens auch begründet. So ergab eine Untersuchung des obersten Gerichtes von China, dass zwar eine überwältigende Mehrheit der Petitionen berechtigt sind (rund 80 Prozent), aber nur zwei Prozent der Beschwerdeführer von den zuständigen Stelle Recht bekommen31. ( ) ( ) 31 Ballweg (Fn. 4).