Deutscher Bundestag Die Bestellung eines Betreuers als Wahlrechtsausschlussgrund Zur Vereinbarkeit des Europawahlgesetzes mit der UN- Behindertenrechtskonvention Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 325/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 325/10 Seite 2 Die Bestellung eines Betreuers als Wahlrechtsausschlussgrund Zur Vereinbarkeit des Europawahlgesetzes mit der UN-Behindertenrechtskonvention Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 325/10 Abschluss der Arbeit: 27. Juli 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 325/10 Seite 3 1. Fragestellung Bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i. V. m. § 6a Abs. 1 Nr. 2 des Europawahlgesetzes (EuWG) diejenigen Deutschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, welchen zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten dauerhaft ein Betreuer bestellt ist. Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers sind in § 1896 Abs. 1 S. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geregelt: „Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“ Ein Teil der Menschen mit Behinderung wird damit vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dasselbe gilt im Übrigen nach § 13 Nr. 2 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) auch für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Demgegenüber verbietet das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), das von der Bundesrepublik am 30. März 2007 unterzeichnet wurde, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und garantiert ihnen in Art. 29 die Teilhabe am politischen Leben einschließlich des Wahlrechts. Mit dem Zustimmungsgesetz vom 21. Dezember 20081 ist die UN-Behindertenrechtskonvention Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Wahlrechtsausschlussgrund des § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG mit den Vorschriften der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar ist oder ob es sich hierbei um einen Widerspruch innerhalb der Rechtsordnung handelt, der vom Gesetzgeber aufzulösen wäre. 2. Der Wahlrechtsausschlussgrund des § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG Durch das Betreuungsgesetz vom 12. September 19902 wurden ab 1. Januar 1992 die frühere Entmündigung und die daran anknüpfende Vormundschaft über Volljährige sowie die Gebrechlichkeitspflegschaft mit dem Ziel abgeschafft, die Rechtsstellung von psychisch Kranken und Behinderten mittels des neugeschaffenen Rechtsinstituts der Betreuung zu verbessern.3 Der hergebrachte Wahlrechtsausschluss von Volljährigen, die entmündigt waren oder unter Gebrechlichkeitspflegschaft standen,4 wurde gleichwohl nicht vollständig aufgegeben.5 Vielmehr 1 BGBl. II S. 1419. 2 BGBl. I 1990, S. 2002. 3 BT-Drs. 11/4528 vom 11.5.1989, S. 1; Müller, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, § 1896 Rn. 1. 4 Vgl. hierzu Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 13 Rn. 12; BVerfGE 36, 139 (141 f.) hat den § 13 Nr. 2 BWahlG a.F. mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) für vereinbar erklärt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 325/10 Seite 4 hat der Gesetzgeber die Neufassung des Europawahlgesetzes vom 8. März 19946 an die neue Rechtlage angepasst. Nach § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG ist ein Deutscher vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn „zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst“. Damit knüpft die Vorschrift an die Bestellung eines Betreuers durch das Betreuungsgericht nach § 1896 Abs. 1 BGB i. V. m. § 271 ff. des Familienverfahrensgesetzes (FamFG) an. Voraussetzung hierfür ist zunächst die Betreuungsbedürftigkeit7 des betroffenen Menschen mit Behinderung. Darüber hinaus macht § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG den Ausschluss des Wahlrechts aber von zwei weiteren Bedingungen abhängig: Erstens darf das Gericht die Betreuung nicht nur für bestimmte Lebensbereiche , sondern muss sie für alle Angelegenheiten angeordnet haben („Totalbetreuung“8). Damit besteht letztlich für das Betreuungsgericht die Möglichkeit, durch bewusste Ausklammerung einzelner Angelegenheiten das Wahlrecht des Betroffenen zu erhalten.9 Unbeachtlich ist bei der Anordnung einer „Totalbetreuung“ nur, ob auch das Gericht nach § 1896 Abs. 4 BGB auch die Kontrolle des Fernmelde- und Postverkehrs und nach § 1905 BGB die Einwilligung in einen ärztlichen Sterilisationseingriff dem Betreuer übertragen hat. Und zweitens muss es sich bei der Bestellung des Betreuers um eine endgültige Entscheidung des Gerichts handeln, welche nicht im Wege der einstweiligen Anordnung nach §§ 300 ff. FamFG ergehen kann. 3. Die Teilhabe am politischen Leben nach Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt nach ihrem Art. 1 für „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Nach Art. 29 verpflichten sich die Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass diese Menschen „gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter 5 Vgl. hierzu BT-Drs. 11/4528 vom 11.5.1989, S. 188. 6 BGBl. I S. 423. 7 Vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen Müller, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, § 1896 Rn. 9 ff. 8 Vgl. Zimmermann, in: Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 20, 13. Aufl. 2000, § 1896 Rn. 45. 9 Vgl. hierzu kritisch Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 13 Rn. 12; zur Unzulässigkeit einer Umgehung durch Einzelaufzählung sämtlicher Aufgabenkreise vgl. Zimmermann, in: Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 20, 13. Aufl. 2000, § 1896 Rn. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 325/10 Seite 5 oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden“. Der Wahlrechtsausschlussgrund des § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG macht dies Menschen mit Behinderung, die unter gerichtlich angeordneter „Totalbetreuung“ stehen, unmöglich . Zu berücksichtigten ist aber, dass die UN-Behindertenrechtskonvention speziell für Menschen mit Behinderungen allein diejenigen Rechte bestätigen soll, die bereits in Art. 25 des Internationalen Paktes vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt)10 festgeschrieben sind. Danach hat jeder Bürger das Recht, ohne Diskriminierung und ohne unangemessene Einschränkungen an Wahlen teilzunehmen. Die UN-Behindertenrechtskonvention soll keine weitergehenden Rechte als der UN-Zivilpakt begründen, sondern sicherstellen , dass Menschen mit Behinderungen die dort genannten Rechte in Anspruch nehmen können , wobei eben auch die dort vorgesehenen angemessenen Einschränkungen hinzunehmen sind.11 4. Die Vereinbarkeit der beiden Regelungen Der Text der UN-Behindertenrechtskonvention lässt den Vertragsstaaten bei genauerer Betrachtung durchaus einen gesetzgeberischen Spielraum, um solche angemessenen Einschränkungen des Wahlrechts zu regeln. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) sind die Vertragsstaaten lediglich verpflichtet , alle „geeigneten“12 gesetzgeberischen Maßnahmen zur Änderung bestehender Gesetze zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen. Die Aufhebung des Wahlrechtsausschlussgrundes des § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG wäre in Hinblick auf den Charakter des Wahlrechts jedoch keine „geeignete“ Maßnahme. Denn beim Wahlrecht handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht, das nur Personen ausüben sollen, die ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung der Wahl und die Fähigkeit zu bewusster und reflektierter Wahlentscheidung besitzen.13 Keineswegs ausgeschlossen ist zwar, dass Menschen, die gar nicht oder nur für bestimmte Angelegenheiten unter Betreuung stehen, die für das Wahlrecht eigentlich notwendige Einsichtsfähigkeit nicht besitzen und trotzdem wählen dürfen. Ein eindeutiger Beleg für die gänzlich fehlende Einsichtsfähigkeit ist jedoch die gerichtliche Bestellung eines Betreuers nach § 1896 BGB für sämtliche Angelegenheiten ,14 welche auch bei Menschen mit Behinderung eine Ausnahme darstellt. 10 BGBl. II 1973, S. 1533. 11 Vgl. BT-Drs. 16/10808 vom 8.11.2008, S. 64. 12 Nach der englischen Version der Konvention „all appropriate measures, including legislation“, nach der französischen Version „toutes mesures appropriées, y compris des mesures législatives“. 13 Vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 13 Rn. 10; Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz , Loseblatt, Stand: März 2007, Art. 38 Rn. 93. 14 In diesem Sinne vgl. BT-Drs. 11/4528 vom 11.5.1989, S. 189. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 325/10 Seite 6 In § 1896 Abs. 2 BGB ist festgeschrieben, dass das Gericht den Betreuer nur für diejenigen Aufgabenkreise bestellen darf, in welchen eine Betreuung erforderlich ist. Dieser Erforderlichkeitsgrundsatz dient dem Schutz des Betroffenen und lässt – bei strikter Beachtung – eine „Totalbetreuung “ nur ausnahmsweise zu.15 Im Gegensatz zum früheren Vormundschaftsrecht wird dem Betroffenen das Wahlrecht also tendenziell eher erhalten bleiben.16 Bei Menschen mit einer körperlichen Behinderung kommt ein Wahlrechtsausschluss praktisch nur in äußerst seltenen Fällen in Betracht, in denen der Betroffene seinen Willen in keiner Weise mehr kundtun kann.17 Im Ergebnis gibt es also keinen Widerspruch zwischen § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG und Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention. Ist durch die gerichtliche Bestellung eines Betreuers für sämtliche Angelegenheiten eines Menschen mit Behinderung dessen fehlende Einsichtsfähigkeit belegt, stellt der Wahlrechtsausschluss keine verbotene Diskriminierung dar. Es handelt sich um eine zulässige Einschränkung der Teilhabe am politischen Leben. Anzumerken ist abschließend, dass der Wahlrechtsausschluss in § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG aus denselben Gründen nicht gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstößt. 15 Vgl. Müller, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, § 1896 Rn. 20 f. 16 Vgl. Frommer/Engelbrecht, Europa-Wahlrecht, Loseblatt, Stand: Mai 2009, 11.06a Rn. 4. 17 Vgl. BT-Drs. 11/4528 vom 11.5.1989, S. 189; Frommer/Engelbrecht, Europa-Wahlrecht, Loseblatt, Stand: Mai 2009, 11.06a Rn. 4.