Deutscher Bundestag Auslegung des § 21 Versammlungsgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 - 322/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 2 Auslegung des § 21 Versammlungsgesetz Verfasser/in: Aktenzeichen: WD3 – 3000 – 322/10 Abschluss der Arbeit: 02.08.2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Historische Auslegung 4 2.1 Entstehungsgeschichte der Norm 4 3. Begriff der Störung 6 3.1 Die grobe Störung im Sinne des § 21 VersG 6 3.2 Abgrenzung zur einfachen Störung 7 3.3 Vereinbarkeit mit Art. 103 II GG 8 3.4 Sitzblockaderechtsprechung 8 4. Kollidierende Versammlungen 9 4.1 Prioritätsprinzip 9 4.2 Lösung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 4 1. Einleitung Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 20081 ist das bisher zur Wahrung der Rechtseinheit im Sinne des Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz (GG) vom Bundesgesetzgeber ausgeübte Gesetzgebungsrecht im Bereich des Versammlungsrechts als Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung entfallen und in die Zuständigkeit der Länder verlagert worden. Das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG)2 ist damit nicht bedeutungslos geworden. Solange der Landesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch macht, gilt es als Bundesrecht nach Maßgabe des Art 125a GG fort. Landesrechtliche Regelungen existieren bislang in Bayern3, Sachsen4, Sachsen-Anhalt5 sowie Brandenburg6. In anderen Ländern befinden sich entsprechende Entwürfe im parlamentarischen Verfahren. Mit § 21 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge7 enthält das Versammlungsgesetz des Bundes eine zum Nebenstrafrecht zählende Vorschrift, die das Verursachen grober Störungen von Versammlungen und Aufzügen unter Strafe stellt. § 21 VersG lautet: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft .“ Im Folgenden soll untersucht werden, wie diese Vorschrift im Einzelnen auszulegen ist und welche Wechselwirkungen sich – vor allem in Hinblick auf Art. 8 GG - ergeben. 2. Historische Auslegung 2.1 Entstehungsgeschichte der Norm § 21 VersG versteht sich als Strafvorschrift im Abschnitt IV des Versammlungsgesetzes, welche als spezielles Gefährdungsdelikt konzipiert ist und in ihrer Entstehung auf die in § 107a StGB 1 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006, BGBl. I S. 2034. 2 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz – VersG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15.11.1978, BGBl. I 2006 S. 1789. 3 Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) vom 22. Juli 2008 (GVBl S. 421, BayRS 2180-4-I), geändert durch § 1 des Gesetzes vom 22. April 2010, GVBl S. 190. 4 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen (Sächsisches Versammlungsgesetz- SächsVersG) vom 20.1.2010, SächsGvBl. S. 2. 5 Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt über Versammlungen und Aufzüge (Landesversammlungsgesetz – VersammlG - LSA) vom 3. Dezember 2009, GVBl. S. 558. 6 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge an und auf Gräberstätten (Gräberstätten- Versammlungsgesetz) vom 26. Oktober 2006, GVBl S. 114. 7 Dem entspricht im Wortlaut das in der Neufassung des Art. 8 Abs. 2 Nr. 1 BayVersG (Fn 3) ausgesprochene Störungsverbot. Die anderen Bundesländer (Fn 4f.) übernehmen § 21 VersG als landesrechtliche Regelung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 5 a.F. enthaltene Strafvorschrift der Versammlungsnötigung zurückgeht.8 Ihre Einfügung in das Versammlungsgesetz erfolgte mit dem Erlass desselben im Jahre 1953. § 107 a StGB a.F.9 lautete: (1) „Wer nichtverbotene Versammlungen, Aufzüge oder Kundgebungen mit Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen verhindert oder sprengt, wird mit Gefängnis, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann, bestraft. (2) Wer in nichtverbotenen Versammlungen oder bei nichtverbotenen Aufzügen oder Kundgebungen Gewalttätigkeiten in der Absicht begeht, die Versammlung, den Aufzug oder die Kundgebung zu sprengen, wird mit Gefängnis und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft.“ Während nach Maßgabe des § 107 a StGB a.F. im Ergebnis nur das Sprengen, also das Zwingen der Versammlungsteilnehmer zum Verlassen der Versammlung und das Verhindern einer Versammlung dergestalt, dass diese nicht wie geplant durchgeführt werden kann,10 strafbewehrt waren, sanktioniert § 21 VersG auch das Verursachen grober Störungen. Bei der Neuformulierung der Vorschrift wurde von Abs. 2 des § 107 StGB a.F. ausgegangen, da sich die bisherige Aufteilung in zwei einander ähnliche Absätze nicht bewährt hatte. Auch die bisherige Unterscheidung in Erfolgs- und Versuchsdelikt wurde mit der Schaffung des § 21 VersG fallengelassen.11 Der Wortlaut der Vorschrift, welche in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung aus dem Jahr 1950 noch als § 22 geführt wurde, sah ursprünglich als einzige Sanktion eine Gefängnisstrafe vor. In der Fassung des § 21 VersG aus dem Jahr 1953 konnte daneben auch auf Geldstrafe erkannt werden. 2.2. Gesetzgeberische Zielsetzung Aus der Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über öffentliche Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsordnungsgesetz) aus dem Jahr 1950 ergibt sich: „(…) Die Bundesregierung hält es (…) für geboten, der drohenden Verrohung der politischen Sitten mit gesetzlichen Mitteln entgegenzutreten. Die politische Situation soll indessen keinesfalls durch Polizeizwang eingeengt werden. Die Bundesregierung beschränkt sich (…) in ihrer Vorlage darauf, die Spielregeln, die das Verhalten der Versammlungsteilnehmer und die Handhabung der Versammlungsleitung bestimmen sollen, gesetzlich festzulegen.“12 Weitergehende Erkenntnisse ergeben sich weder aus der Gesetzesbegründung noch aus späteren Plenardebatten. 8 Füßlein, Versammlungsgesetz, Erläuterungsbuch, Aufl. 1954, S. 82. 9 Fassung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 23.5.1923, RGBl. 1923 I S. 296, aufgehoben mit Erlass des Versammlungsgesetz vom 24.Juli 1953, BGBl. I S. 684 10 Schönke, Strafgesetzbuch, Kommentar, 6. Aufl. 1952, § 107a StGB, S. 345. 11 Füßlein (Fn. 8), S. 82. 12 BT-Drs. 1/1102 vom 26.6.1950, S. 11f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 6 Der Entstehungsgeschichte des § 21 VersG lässt sich nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber allein das interne Stören einer Versammlung zu sanktionieren beabsichtigte. Zwar könnte man erwägen , eine solche Auslegung auf den Wortlaut der Vorgängervorschrift § 107 a StGB a.F. zu stützen, die von „in“ nicht verbotenen Versammlungen spricht. Eine solche Auslegung dürfte aber im Hinblick auf die Stellung der Norm im fünften Abschnitt des Strafgesetzbuches, der sich auf Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte bezieht und damit als Reaktion auf die Verletzungen des Rechts auf Versammlungsfreiheit während der Weimarer Republik bzw. der NS-Zeit13 zu werten ist, nicht zu folgen sein. Weitere Anhaltspunkte , die hierfür sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Es ist in der Konsequenz davon auszugehen , dass der Gesetzgeber sowohl interne als auch externe Störungen ahnden wollte. 3. Begriff der Störung Zentrale Vorschrift für die Bestimmung des Begriffs der Störung ist § 2 Abs. 2 VersG. Danach hat jedermann bei öffentlichen Versammlungen oder Aufzügen Störungen zu unterlassen, die bezwecken , die ordnungsgemäße Durchführung zu verhindern. Schutzgut der Norm ist die Ordnung der Versammlung als solche, nicht die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Allgemeinen.14 Der Gesetzgeber hat es unterlassen, durch eine Legaldefinition festzulegen, was unter einer Störung im Sinne des § 2 Abs. 2 VersG zu verstehen ist, so dass sich die Feststellung aus dem jeweiligen Charakter der Versammlung und unter Berücksichtigung der Einschätzung der Exekutivorgane zu richten hat.15 Ein Verstoß gegen § 2 Abs. 2 VersG als solcher ist aufgrund des Charakters der Norm als Ordnungsvorschrift nicht strafbewehrt, da dort das Störungsverbot nur legislatorisch ausgesprochen wird. Diese richtet sich als Verbotsnorm unmittelbar an den Normadressaten. Sie enthält schon nach dem Wortlaut keine Eingriffsgrundlage für ein behördliches Einschreiten.16 Erst aus der Zusammenschau des § 2 Abs. 2 VersG mit § 21 VersG, der das Verursachen grober Störungen in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern, zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, als Straftat wertet und mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe sanktioniert, ergibt sich eine Strafbarkeit des Normadressaten. 3.1 Die grobe Störung im Sinne des § 21 VersG Unter einer groben Störung im Sinne des § 21 VersG werden Einwirkungen auf den ordnungsgemäßen Ablauf einer Versammlung oder eines Aufzuges verstanden, die als besonders schwere Beeinträchtigung des Veranstaltungs- oder Leitungsrechts empfunden werden und eine Unter brechung, Behinderung, Auflösung oder Aufhebung der Versammlung bezwecken oder zur Folge 13 Art. 123 WRV enthielt eine weit gefasste Verfassungsgarantie, die durch Notverordnung vom 28.2.1933 außer Kraft gesetzt wurde. In der nationalsozialistischen Literatur blieb das Schutzgut der Garantie, die freie Versammlung, unterdrückt: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 5 Aufl. 2009, Art. 8, Rn. 3. 14 Brenneisen/Wilksen, Versammlungsrecht, Das hoheitliche Eingriffshandeln im Versammlungsgeschehen , 4. Aufl. 2007, S. 137. 15 Brenneisen/Wilksen (Fn. 14), S. 138. 16 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar zum Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 15. Aufl. 2008, § 21 Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 7 haben können.17 Es genügt nicht, wenn nur einzelne Teilnehmer gestört werden, die Durchführung der Versammlung muss insgesamt ungewiss sein. Ob das der Fall ist, hängt auch vom Zweck der Versammlung und der Art ihrer geplanten Durchführung ab. Dient die Versammlung in erster Linie der Information, die durch das Abspielen eines Films vermittelt werden und in dessen Anschluss erst eine Aussprache erfolgen soll, so stört beispielsweise grob, wer während der Filmvorführung durch lautstarken Protest, Auffordern zu Diskussion oder Zwischenrufe verhindert . Dient die Versammlung in erster Linie der Meinungskundgebung durch Rede und Diskussion , so stört nicht grob, wer nur an der Versammlung teilnimmt und sich kritisch oder ablehnend mit ihrem Thema auseinandersetzt, etwa durch Zwischenrufe oder Missfallenskundgebungen . Ein solches Verhalten ist grundrechtlich geschützt. Grob stört, wer darüber hinausgeht und durch sein Verhalten das Teilnahmerecht friedlicher Teilnehmer besonders schwer beein trächtigt18. Hierzu wurden in der Vergangenheit etwa das Werfen von Stink- und Rauchbomben, lautstarkes Betätigen von Lärmsirenen, fortgesetztes Betätigen von Trillerpfeifen und ähnliche Verhaltensweisen gezählt.19 Das Austeilen von Flugblättern, Entrollen eines Transparents, Schwenken einer Fahne oder Aufstellen von Plakaten genügt für sich allein ebenso wenig wie das Beleidigen des Redners oder der Versammlungsteilnehmern . Es stellt zwar zumeist eine Störung dar, bedarf aber darüber hinaus noch einer Gefährdung des Fortgangs der Versammlung, etwa durch das Entstehen von Tumulten.20 3.2 Abgrenzung zur einfachen Störung Der Begriff der „einfachen“ Störung ist als solcher weder ausdrücklich in den Versammlungsgesetzen des Bundes noch der Länder erwähnt. Zum Teil wird versucht, die Begrifflichkeiten abzugrenzen. Einfache Störungen seien als Durchführungs -, grobe Störungen hingegen regelmäßig als Verhinderungsstörungen anzusehen, wobei die Verhinderungsstörung auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Durchführung der Versammlung abziele, die Durchführungsstörung dagegen nur tatsächliche Durchführung beeinträchtige. Eine solche Abgrenzung könne nur anhand der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Versammlungscharakters sowie der durch die Aktion verfolgten Ziele vorgenommen werden .21 Dieser Ansatz birgt andererseits die Problematik, im Einzelfall auf die schwierige Bildung und Heranziehung von Fallgruppen zurückgreifen zu müssen, die einer klaren Abgrenzung der Begrifflichkeiten letztlich nicht förderlich ist. Eine weitergehende und in seinen Umrissen präzisere Möglichkeit zur Abgrenzung von einfacher und grober Störung existiert nach derzeitigen Kenntnisstand nicht. 17 Ott/Wächtler/Heinhold, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz), 7. Aufl. 2010, § 21 Rn. 5; Füßlein (Fn. 8), S. 85. 18 Köhler/Dürig-Friedl, Demonstrations- und Versammlungsrecht, Versammlungsgesetz mit Auszügen aus Grundgesetz, StGB, StPO und OWiG. Polizei- und Ordnungsgesetze und Bannmeilengesetze der Länder, 4. Aufl. 2001, § 11 Rn. 2. 19 Brenneisen/Wilksen (Fn. 14), S. 143. 20 Altenhein, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1. Aufl. 2007, § 21 VersG Rn. 20. 21 Brenneisen/Wilksen (Fn. 14), S. 145. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 8 3.3 Vereinbarkeit mit Art. 103 II GG Maßgeblich muss und kann nur der vom Gesetzgeber als Tatbestandsmerkmal festgelegte Begriff der groben Störung sein. In Konkretisierung und Verschärfung des allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes verpflichtet Art. 103 Abs. 2 GG den parlamentarischen Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Dabei schließt Auslegungsbedürftigkeit die Bestimmtheit nicht aus, unbestimmte Rechtsbegriffe verstoßen nicht gegen Abs. 2 der Norm.22 Der Begriff der „groben Störung“ bedarf damit der Ausfüllung und Konkretisierung. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür bietet bereits der Wortlaut der Norm, die „grobe Störungen“ und damit mehrmaliges aktives Tun unter Strafe stellt. Da es sich bei der Vorschrift des § 21 VersG um eine zum Nebenstrafrecht gehörende Strafbestimmung handelt, wird in der Literatur in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, für die Auslegung diejenigen Grundsätze anzuwenden, wie sie durch die strafgesetzliche Rechtsprechung und Rechtslehre entwickelt wurden. Zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der groben Störung bedürfe es demnach einer Einwirkung, die von der Intensität und Gefährlichkeit her der Androhung bzw. Begehung von Gewalttätigkeiten entsprechen müsse, um den Interessen des Normadressaten im Hinblick auf die in der Rechtsfolge angedrohten Sanktionen angemessen Rechnung tragen zu können. Insofern bietet die Anlehnung an den Begriff der Gewalttätigkeit eine Orientierungsmöglichkeit , um ein Ausufern der Strafbarkeit zu vermeiden.23 Damit dürfte unter Berücksichtigung der anerkannten Auslegungsmethoden, insbesondere dem allgemeinen Sprachgebrauch, ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG wohl nicht zu bejahen sein. 3.4 Sitzblockaderechtsprechung Der Begriff der Gewalttätigkeit entspricht demjenigen des § 125 StGB und ist enger als der des § 240 StGB. Gewalttätigkeit im Sinne des § 21 VersG verlangt ein aggressives, gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen oder gegen fremde Sachen gerichtetes aktives Tun. Keine Gewalttätigkeit im Sinne des §21 VersG liegt vor, wenn Personen in der Absicht, eine Versammlung zu verhindern, lange vor deren Beginn den Versammlungsort besetzen.24 In diesem Kontext ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 1995 zu sogenannten Sitzblockaden zu sehen, in der das Gericht das Verhältnis zwischen Art. 8 GG einerseits und § 240 StGB andererseits skizziert und feststellt, dass das bloß passive Sitzen ohne weitere Übergriffe oder Widerstandshandlungen nicht ohne Verstoß gegen als „Gewalt“ qualifiziert werden kann.25 Auch wenn sich der Begriff der Gewalt im Sinn des Nötigungstatbestandes im Lauf der Zeit entwickelt und durch die abnehmende Bedeutung der Entfaltung körperlicher Kraft auf Seiten des Täters und die wachsende Bedeutung der bei dem Opfer eintretenden Zwangswirkung gekennzeichnet ist, kann das Merkmal der Gewaltanwendung nicht in den Fällen bejaht werden, in de- 22 Sachs (Fn. 13), Art. 8, Rn 64; BVerfGE 82, 236 (263). 23 Köhler/Dürig-Friedl (Fn. 18), § 21 Rn. 3. 24 Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16) § 21 Rn. 8. 25 BVerfGE 92, 1 (2). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 9 nen diese lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung rein psychischer Natur sind.26 4. Kollidierende Versammlungen Für den Fall, dass sich mehrere – ordnungsgemäß angemeldete - Versammlungen zeitlich und örtlich überschneiden, ergibt sich das Problem der Berücksichtigung gegenläufigen Interessen betroffener Grundrechtsträger im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. 4.1 Prioritätsprinzip In einem solchen Fall käme zunächst in Betracht, diesen Konflikt nach dem Prioritätsprinzip zu lösen, wonach die zuerst angekündigte Versammlung die zulässige, die zweite hingegen als die störende anzusehen ist. Teilweise wird dieser Grundsatz auch als Erstanmelderprinzip oder Erstanmelderprivileg bezeichnet.27 Auf den ersten Blick trägt dieser Ansatz dem das Versammlungsrecht prägenden Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber den Inhalten von Versammlungszwecken Rechnung, auch wird auf diese Art und Weise vordergründig verhindert, dass die zuerst angemeldete Versammlung nicht alleine deshalb zurück zu treten hat, weil für den vorgesehenen Zeitpunkt und Ort ebenfalls eine weitere Versammlung, sei es auch mit dem Ziel der Verhinderung dieser Veranstaltung, angemeldet wurde. Gegen die Heranziehung des Prioritätsprinzip spricht, dass dieses nicht im Versammlungsgesetz geregelt ist. Auch können wichtige Gründe, etwa die besondere Bedeutung des Ortes und des Zeitpunktes der konkurrierenden Veranstaltung, vorliegen, die eine Abweichung von der zeitlichen Reihenfolge der Anmeldung rechtfertigen. Die Heranziehung des Prioritätsprinzips erscheint auch in dem Fall, in dem mit der zuerst angemeldeten Versammlung einzig und allein die Absicht verfolgt wird, andere Versammlungen an eben diesem Ort bzw. Zeitpunkt zu verhindern , als nicht sachgerecht.28 4.2 Lösung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz Nach dem in der Rechtsprechung29 anerkannten Vorrang der praktischen Konkordanz vor dem Prioritätsprinzip bedarf es im Kollisionsfall einer Abwägung seitens der Versammlungsbehörde bzw. der Gerichte, die den gegenläufigen Interessen der betroffenen Grundrechtsträger in größtmöglichen Umfang Rechnung trägt. Es ist im Ergebnis eine möglichst breite Entfaltung beider Versammlungen zu gewährleisten, da sich die Teilnehmer beider Gruppierungen jeweils auf den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG berufen können. Insofern ist nicht zu beanstanden, wenn eine Gruppierung ihre ablehnende Haltung gegen die zuerst angemeldete Versammlung aufzeigen will und zu diesem Zweck ihrerseits eine Versammlung anmeldet und durchführt. 26 BVerfGE 92, 1 (18). 27 Pewestorf/Söllner/Tölle, Polizei- und Ordnungsrecht, Berliner Kommentar, 1. Aufl. 2009, S. 911. 28 BVerfG vom 6.5.2005, 1 BvR 961/05; NJW 2005, 3060 (3060). 29 OVG Koblenz, Beschluss vom 21.11.2003, NVwZ-RR 2004, 848; VGH Mannheim, Beschl. vom 30.4.2002, VBlBW 2002, 383 (385); VG Karlsruhe, Urt. vom 29.5.2001, 12 K 1228/01. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 322/10 Seite 10 Der auch in einem solchen Fall anwendbare § 21 VersG ist dahingehend auszulegen, dass die Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG umfänglich berücksichtigt werden. Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG kommt jedenfalls dann in Betracht, „wenn die Tatsachenermittlung und –würdigung den Bürger in einem Maße der Gefahr der Bestrafung aussetzt, dass dieser von der Wahrnehmung seiner Grundrechte eher Abstand nehmen wird“.30 Solange dies gewährleistet ist, ist § 21 VersG als Strafvorschrift des Versammlungsgesetzes nicht zu beanstanden und mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar.31 30 BVerGE 82, 236 (263). 31 Sachs (Fn 15), Art. 8, Rn 64.