Deutscher Bundestag Die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern im Falle ihrer Unionsrechtswidrigkeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 320/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 2 Die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern im Falle ihrer Unionsrechtswidrigkeit Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 320/12 Abschluss der Arbeit: 21. Dezember 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Der rechtliche Hintergrund der Kammerpflichtmitgliedschaft 4 2.1. Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern 4 2.2. Pflichtmitgliedschaft in den Handwerkskammern 5 2.3. Verfassungsmäßigkeit der Kammerpflichtmitgliedschaft 5 2.3.1. Pflichtmitgliedschaft und Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 GG 5 2.3.2. Pflichtmitgliedschaft und Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG 6 2.3.3. Pflichtmitgliedschaft und allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG 6 2.3.3.1. Legitimer Zweck 6 2.3.3.2. Geeignetheit der Pflichtmitgliedschaft 7 2.3.3.3. Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft 7 2.3.3.4. Zumutbarkeit der Pflichtmitgliedschaft 8 3. Wirkung einer unionsrechtswidrigen Kammerpflichtmitgliedschaft 9 4. Verfassungsgemäßheit der Ungleichbehandlung von inländischen und EU-ausländischen Marktteilnehmern 10 4.1. Vereinbarkeit der Ungleichbehandlung mit Art. 2 Abs. 1 GG 11 4.1.1. Legitimer Zweck 12 4.1.2. Geeignetheit der Pflichtmitgliedschaft 13 4.1.3. Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft 13 4.1.4. Zumutbarkeit 14 4.2. Vereinbarkeit der Ungleichbehandlung mit Art. 3 Abs. 1 GG 15 4.2.1. Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG 15 4.2.2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung 16 5. Ergebnis 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen eine Unionsrechtswidrigkeit der Pflichtmitgliedschaft von EU-ausländischen Marktteilnehmern in den Industrie - und Handelskammern und den Handwerkskammern (im Folgenden: Kammern) auf die Beurteilung der Pflichtmitgliedschaft in Deutschland insgesamt hätte. 2. Der rechtliche Hintergrund der Kammerpflichtmitgliedschaft Gewerbetreibende sind grundsätzlich entweder Mitglieder der örtlichen Industrie- und Handelskammer oder, sofern sie die engeren Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 HWO erfüllen, d.h. selbständige Handwerker oder Inhaber handwerksähnlicher Betriebe sind, Mitglieder der örtlichen Handwerkskammer. Beide Kammern haben vor allem das Gesamtinteresse ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Die Differenzierung der Gewerbetreibenden zwischen den Kammern beruht auf der Erwägung, dass eine Organisation des handwerklichen Gewerbes in Handwerkskammern nach der Einschätzung des Gesetzgebers für deren Betreuung und Beratung fachlich besser geeignet erschien als eine Zuordnung in die Industrie- und Handelskammern.1 2.1. Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern Die Industrie- und Handelskammern dienen der Organisation der gewerblichen Wirtschaft in Selbstverwaltung. Ihnen ist gesetzlich die Aufgabe übertragen, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen. Rechtsgrundlage für die Pflichtmitgliedschaft in einer Industrie- und Handelskammer ist § 2 Abs. 1 IHKG.2 Danach gehören ihr alle zur Gewerbesteuer veranlagten natürlichen Personen, Handelsgesellschaften , andere Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts an, welche im Kammerbezirk eine Betriebsstätte unterhalten. Für die Kammermitgliedschaft nach § 2 Abs. 1 IHKG ist allein die objektive Gewerbesteuerpflicht gem. §§ 2, 3 GewStG maßgeblich (§ 3 Abs. 3 S. 3 IHKG), welcher jeder stehende und im Inland betriebene Gewerbebetrieb im allgemeinen handels- und gewerberechtlichen Sinne unterliegt (§ 2 Abs. 1 S. 1 GewStG).3 Indem § 2 Abs. 1 IHKG für die Frage der Kammerzugehörigkeit allein darauf abstellt, ob im Bezirk der Industrie- und Handelskammer eine gewerbliche Niederlassung oder eine Betriebsstätte unterhalten wird, werden auch ausländische Unternehmen, die eine Zweigniederlassung oder Betriebsstätte im Kammerbezirk unterhalten, der Kammerpflichtmitgliedschaft unterworfen . Die aus der Pflichtmitgliedschaft folgende Verpflichtung gegenüber der Industrie- und 1 BVerfGE 32, 54 [64f.] 2 Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (IHKG) vom 18.12.1956 (BGBl. I, 920), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 61 G v. 22.12.2011 (BGBl. I, 3044). 3 Vgl. zu den Voraussetzungen der Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer vgl. VGH München, GewArch 1981, 162. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 5 Handelskammer zur Zahlung eines Kammerbeitrags (§ 3 Abs. 2 IHKG) besteht aufgrund ihrer Pflichtmitgliedschaft auch für ausländische Unternehmer.4 2.2. Pflichtmitgliedschaft in den Handwerkskammern Der Handwerkskammer obliegt als Selbstverwaltungsorgan die Aufgabe, die Interessen als solches zu fördern. Rechtsgrundlage für die Pflichtmitgliedschaft in einer Handwerkskammer als Interessenvertretung der selbständigen Handwerker ist § 90 i.V.m § 1 Abs. 2 HWO5 Die in § 90 Abs. 2 bis 4 HWO aufgeführten Handwerksbetriebe sind ausnahmslos und zwingend zur Mitgliedschaft in der Handwerkskammer verpflichtet.6 Die durch die Errichtung und Tätigkeit der Handwerkskammer entstehenden Kosten werden, soweit sie nicht anderweitig gedeckt sind, von den selbständigen Handwerkern und den Inhabern handwerksähnlicher Betriebe nach einem von der Handwerkskammer mit Genehmigung der obersten Landesbehörde festgesetzten Beitragsmaßstab getragen (§ 113 Abs. 1 HWO). 2.3. Verfassungsmäßigkeit der Kammerpflichtmitgliedschaft Die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern eröffnet den Mitgliedern einerseits Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen der Selbstverwaltung und erweitert so den Rechtskreis der Mitglieder. Andererseits ist die an bestimmte Voraussetzungen gebundene Mitgliedschaft verbunden mit der grundsätzlichen Verpflichtung zur Mitgliedschaft und den damit verbundenen Mitgliedsbeiträgen . Die zwangsweise Zugehörigkeit beruht auf gesetzlichen Anordnungen und stellt einen Eingriff in die Freiheitssphäre der Betroffenen dar.7 Jedoch ist die Pflichtmitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband, der legitime öffentliche Aufgaben erfüllt, entsprechend der ständigen Rechtsprechung verfassungsrechtlich zulässig.8 Die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern verstoße danach weder gegen die Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) noch gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und genüge insbesondere dem verfassungsmäßigen Gebot der Verhältnismäßigkeit: 2.3.1. Pflichtmitgliedschaft und Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 GG Die Kammerpflichtmitgliedschaft bedeutet keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Gewerbetreibenden . Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG sichert das Recht des Einzelnen , aus privater Initiative mit anderen zu Vereinigungen zusammenzufinden, sie zu gründen, aber auch ihnen fernzubleiben und aus ihnen wieder auszutreten.9 Es schützt diese nicht vor der 4 VG Darmstadt, Urteil v. 8.5.2002, 3 E 2167/01 5 Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung, HWO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. September 1998 (BGBl. I S. 3074, ber. 2006 I S. 2095), zuletzt geändert durch durch Art. 2 G v. 5.12.2012 (BGBl. I, 2415). 6 Vgl. Detterbeck, Handwerksordnung, 2012, § 90, Rn. 2 ff. 7 BVerfG 6, 32 (37); BVerwG, NJW 1998, 3510. 8 St. Rspr, vgl. BVerfGE 10, 80 (102) – Erft-Verband; 10, 354 (361) – Bayerische Ärzteversorgung; 15, 235 (239) – IHK; 38, 281 – Arbeitnehmer-Kammern; BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 30, 40 ff. – IHK; für die Pflichtmitgliedschaft in der IHK vgl. auch BVerwGE 107, 169; 122, 344 ff. 9 BVerfGE 38, 281 (298); 50, 290 (353 f.); 85, 360 (370). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 6 Schaffung öffentlich-rechtlicher Vereinigungen bzw. einer gesetzlich angeordneten Zugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft wie die der Handwerkskammern oder der Industrieund Handelskammern.10 2.3.2. Pflichtmitgliedschaft und Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG Die Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer ist nicht Voraussetzung, sondern Folge der Ausübung einer niedergelassenen gewerblichen Tätigkeit und greift damit nicht die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ein. Die Pflichtmitgliedschaft knüpft lediglich an die Tatsache der Berufsausübung in Form einer inländischen gewerblichen bzw. handwerklichen Niederlassung bzw. Tätigkeit an, ohne die Freiheit der Berufswahl oder die Art und Weise der Berufsausübung zu regeln.11 2.3.3. Pflichtmitgliedschaft und allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG Die Kammerpflichtmitgliedschaft ist jedoch ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Gewerbetreibenden. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gewährleistet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und schützt auch davor, durch Pflichtmitgliedschaft von „unnötigen“ öffentlich-rechtlichen Körperschaften in Anspruch genommen zu werden.12 Die Freiheitssphäre des Einzelnen darf durch Pflichtmitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nur eingeschränkt werden, wenn das entsprechende Gesetz in formeller und materieller Hinsicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind.13 Das setzt voraus , dass die Errichtung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft und die Inanspruchnahme der Pflichtmitglieder zur Erfüllung legitimer öffentlicher Aufgaben erfolgt, hierzu geeignet und erforderlich ist und die Grenzen der Zumutbarkeit wahrt.14 Diese Voraussetzungen sind sowohl bei den Handwerkskammern als auch bei den Industrie- und Handelskammern gegeben. Die Entscheidung des Gesetzgebers, die Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsverwaltung mit Hilfe von Selbstverwaltungseinrichtungen zu organisieren ist im Lichte der Freiheitsgrundrechte geeignet, erforderlich und angemessen.15 2.3.3.1. Legitimer Zweck Die Inanspruchnahme der Gewerbetreibenden als Pflichtmitglieder dient dem legitimen Zweck, den Kammern die Wahrnehmung ihrer gesetzlich übertragenen Aufgaben zu ermöglichen. Bei den Aufgaben der Kammern handelt es sich um legitime öffentliche Aufgaben, deren Wahrnehmung durch eine Selbstverwaltungskörperschaft die Anordnung einer Zwangsmitgliedschaft der 10 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1BvR 1860/98, Rn. 39 ff.; vgl. zu der Diskussion in der Literatur um die Anwendbarkeit des Art. 9 Abs. 1 GG auch auf öffentlich-rechtliche Zwangsmitgliedschaften Scholz, in Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand: 35 EL 1999, Art. 9, Rn. 90; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar , 2010, Art. 9, Rn. 27 ff. 11 BVerfGE 15, 235 (239); BVerwGE 107, 169 (170 f.). 12 BVerfGE 10, 89 (102); 38, 281 (297 ff.). 13 BVerfGE 6, 32 (37 ff.); 38, 281 (298). 14 Diese Maßstäbe würden auch gelten, wenn es sich bei der Pflichtmitgliedschaft um einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG handeln würde, vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.1990, 1 BvR 1203/90; BVerwG, NJW 1997, 814 (815); BVerwG, NJW 1998, 3510. 15 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1BvR 1860/98, Rn. 39. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 7 Gewerbetreibenden rechtfertigt.16 Mit der Errichtung der Kammern verfolgt der Gesetzgeber die öffentliche Aufgabe der Wirtschaftsverwaltung und -förderung unter Einbeziehung der niedergelassenen Gewerbetreibenden. Die Kammern erfüllen die öffentliche Aufgabe der Festlegung des Gesamtinteresses der Vertretung der gewerblichen Wirtschaft und der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet. Das gesetzgeberische Anliegen ist das einer durch den Staat institutionalisierten, auf die Gesamtbelange der erfassten Wirtschaftszweige ausgerichteten und als Selbstverwaltungseinrichtung der Wirtschaft organisierten Interessenvertretung zur Wahrnehmung der ihnen zugewiesenen Aufgaben (§ 1 Abs. 1 IHKG, § 91 HWO). Die Kammern bündeln die Gesamtinteressen der zugehörigen Gewerbetreibenden und sorgen für einen gerechten Ausgleich der Interessen der einzelnen Gewerbezweige. Sie vertreten die jeweilige gewerbliche Wirtschaft gegenüber dem Staat und nehmen Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet wahr. Sie unterstützen staatliche Organe und Behörden durch Berichterstattung und Beratung in wirtschaftlichen Fragen und liefern ihnen verlässliche Grundlagen für ihre Entscheidungen auf diesen Gebieten.17 2.3.3.2. Geeignetheit der Pflichtmitgliedschaft Die Pflichtmitgliedschaft ist auch ein geeignetes Mittel für den Zweck der Wirtschaftsverwaltung und -förderung unter Einbeziehung der niedergelassenen Gewerbetreibenden.18 Insbesondere ist die dem gesetzgeberischen Anliegen zugrunde liegende Einschätzung, dass die Aufgaben der Kammern, namentlich die Wahrung und Förderung des Gesamtinteresses im Verhältnis zum Staat, von einer Selbstverwaltungseinrichtung wirkungsvoller als von einer staatlichen Behörde wahrgenommen werden kann, nicht zu beanstanden.19 Hierbei liegt es im Ermessen des Gesetzgebers , ein Gesamtinteresse der Mitglieder anzunehmen, obwohl die die Pflichtmitgliedschaft begründende Gewerbesteuerpflicht an unterschiedliche wirtschaftliche Betätigungen anknüpft. 2.3.3.3. Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft Wegen des Gemeinwohlauftrages und der Wirtschaftsveraltungsaufgaben der Kammern ist die Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden bzw. ein alle Branchen und Betriebsgrößen umfassender Mitgliederbestand zur sachgerechten und umfassend Erfüllung der Kammeraufgaben erforderlich . Gerade durch die Vertretung der gesamten Wirtschaft kommt beispielsweise den Kammergutachten eine spezifische, branchenübergreifende Autorität zu, weil sie die Auffassungen aller kaufmännischer Kreise berücksichtige und ausgleiche. Ohne eine Pflichtmitgliedschaft fehlte ihr hingegen der Einblick in die Verhältnisse aller Branchen und es wären ihre umfassende Sachkunde und Objektivität institutionell nicht mehr gesichert.20 Eine Vereinigung ohne Pflichtmitgliedschaft stellt kein gleich geeignetes Mittel dar, um das Gesamtinteresse der Angehörigen der gewerblichen Wirtschaft gegenüberstaatlichen oder kommu- 16 BVerfGE 13, 97 (107 f.); 15, 235 (239); 38, 281 (299 ff.); BVerfG v. 7.12.2001, Rn. 30, 40 ff.; BVerwG, NJW 1977, 1893; BVerwG, NJW 1978, 389; BVerwG, NJW 1999, S. 2292. 17 BVerfGE 15, 235 (239). 18 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 30, 40 ff. 19 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, 39. 20 BVerfGE 15, 235 (239); 38, 281 (299 ff.); BVerfG v. 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 8 nalen Entscheidungsträgern zu vertreten. Nur die Pflichtmitgliedschaft sichert eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft und Pressionen freie sowie umfassende Ermittlung, Abwägung und Bündelung der maßgeblichen Interessen, die wiederum erst eine objektive und vertrauenswürdige Wahrnehmung des Gesamtinteresses ermöglicht.21 Auf freier Mitgliedschaft beruhende Vereinigungen können das Gesamtinteresse aller Angehörigen der gewerblichen Wirtschaft nicht in gleichem Maße vertreten.22 Zudem sind rein private Verbände mangels Gemeinwohlbindung nicht zu einer entsprechenden Aufgabenerfüllung in der Lage. Bliebe die Wahrnehmung der den Kammern zugewiesenen Aufgaben Interessenvereinigungen überlassen, die auf freiwilliger Basis gebildet sind, könnte dies zu einem Übergewicht der Großbetriebe und damit zu einem Verlust an Objektivität bei der Aufgabenerfüllung führen.23 2.3.3.4. Zumutbarkeit der Pflichtmitgliedschaft Nach ständiger Rechtsprechung bedeutet die Pflichtmitgliedschaft keine erhebliche, die Grenze des Zumutbaren überschreitende Beeinträchtigung der unternehmerischen Handlungsfreiheit der Kammermitglieder. Wählt der Gesetzgeber bei der Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben die Form einer Selbstverwaltungskörperschaft auf verbandsförmiger Grundlage, so ist die zwangsweise Zusammenfassung aller Gewerbetreibenden dieser Institution dadurch gerechtfertigt, dass die Erfüllung von Wirtschaftsverwaltungsaufgaben durch die Kammern sachnäher und wegen der Beteiligung der Betroffenen durch selbstgewählte Organe auch freiheitssichernder ist als durch staatliche Behörden.24 Die Pflichtmitgliedschaft ermöglicht die Nutzung der Kammerleistung sowie die Mitwirkung in der Kammer bei der Bündelung der unterschiedlichen Interessen und Wirtschaftszweige zu einem „Gesamtbelang“ und damit die Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen.25 Zudem sind die den Kammern zugewiesenen Aufgaben solche, die der Staat ebenso in unmittelbarer Zuständigkeit erledigen könnte. Daher ist es gerechtfertigt, dass sich der Einzelne dem Wirken des Selbstverwaltungsverbandes ebenso wenig entziehen kann, wie er sich den Einwirkungen durch die unmittelbaren Verwaltungstätigkeiten des Staates entziehen könnte. Die Pflichtmitgliedschaft ist auch mit Blick auf die mit ihr einhergehende Beitragspflicht der Kammermitglieder zumutbar. Die Befugnis des Staates, zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben öffentlich -rechtliche Körperschaften zu bilden, schließt die Befugnis ein, dies mit einer Beitragspflicht zu verbinden, die der Abgeltung der durch die Mitgliedschaft entstehenden Vorteile dient.26 Beiträge sind Gegenleistungen für Vorteile, die das Mitglied aus der Kammerzugehörigkeit oder einer besonderen Tätigkeit der Kammer zieht oder ziehen kann. Die Beitragspflicht besteht unabhängig davon, dass sich die Kammertätigkeit in einem unmittelbar messbaren Vorteil bei dem einzelnen Kammermitglied niederschlägt. Auch der potenzielle Vorteil rechtfertigt eine Beitragsveranlagung, solange diese Veranlagung die Grenzen des abgaberechtlichen Äquivalenzprinzips und des Gleichheitssatzes wahrt. 21 BVerfGE 15, 235 [243]; BVerwG, NJW 1998, 3510. 22 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 46. 23 Vgl. BVerwG, NJW 1999, S. 2292 (2293). 24 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 42. 25 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 39 ff. 26 BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1 BvR 1860/98, Rn. 39 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 9 Das Äquivalenzprinzip erfordert, dass zwischen der Höhe des Beitrags und dem Nutzen des Mitglieds ein Zusammenhang besteht. Die von den Kammerpflichtmitgliedern erhobenen Beiträge entsprechen einer Gegenleistung für den Vorteil, den das Mitglied aus seiner Kammerzugehörigkeit zieht.27 Dieser Vorteil besteht bereits allgemein darin, dass die Kammern ihre gesetzliche Aufgabe erfüllen bzw. innerhalb des vom Gesetzgeber gezogenen Rahmens agieren, das Gesamtinteresse der Gewerbetreibenden in der Öffentlichkeit sowie gegenüber anderen politischen und gesellschaftlichen Interessengruppen vertreten und die wirtschaftlichen Belange ihrer Kammermitglieder wahrnehmen und fördern.28 Schließlich verstößt die Beitragspflicht auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Danach ist niemand im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, ohne dass zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass eine ungleiche Behandlung gerechtfertigt wäre.29 Für die Erhebung vorteilsbezogener Mitgliedsbeiträge durch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft bedeutet dies, dass wesentlich der Verschiedenheit der Mitglieder Rechung getragen werden muss. Die Beiträge müssen im Verhältnis des Beitragspflichtigen zueinander grundsätzlich vorteilsgerecht bemessen sein.30 Insoweit ist die mit der Pflichtmitgliedschaft einhergehende Belastung mit dem Kammerbeitrag zumutbar, da bereits die Veranlagung für den Grundbetrag aufgrund von nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gestaffelten Pauschalbeträgen erfolgt und zu einer zusätzlichen Umlage nur diejenigen Kammerangehörigen herangezogen werden, die einen entsprechenden Gewerbeertrag bzw. Gewinn aus dem Gewerbebetrieb aufweisen können.31 3. Wirkung einer unionsrechtswidrigen Kammerpflichtmitgliedschaft An sich gelten die Bestimmungen über die Kammerpflichtmitgliedschaft unterschiedslos zwischen EU-ausländischen und inländischen Marktteilnehmern. Ein Gewerbetreibender in einem EU-Mitgliedstaat handelt dann grenzüberschreitend, wenn er seine gewerbliche Tätigkeit nicht nur in seinem Heimatstaat ausübt. In diesen grenzüberschreitenden Fallkonstellationen werden die EU-ausländischen Marktteilnehmer von den Gewährleistungen der europäischen Grundfreiheiten erfasst. Diese sollen gewährleisten, dass die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Grenzen in einem solchen Maße durchlässig sind, dass sie keine Hindernisse für die grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit darstellen.32 Verstößt eine nationale Regelung gegen Grundfreiheiten , so ist sie wegen des Vorrangs des Unionsrechts33 auf den grenzüberschreitenden Sachver- 27 BVerwG, NVwZ 1990, 1167; BVerwG, NJW 1998, S. 3510 (3512). 28 Vgl. BVerfGE 32, 54 (64 ff.); 38, 281 (297 f); BVerwG NVwZ 1990, 1167; VG Darmstadt, NVwZ 2002, S. 1398; OVG Koblenz, NVwZ-RR 1998, 305; VG Arnsberg, NVwZ-RR 1998, S. 557 (558); OVG Lüneburg, GewArch 1997, 153 (154); OVG Lüneburg, GewArch 1996, 413. 29 BVerfGE 55, 72 (88); 58, 369 (373 f.); 60, 123 (133 f.); 64, 229 (239); 65, 104 (112 f.); 66, 234 (242); 67, 231 (236); 70, 230 (239 f.); 71, 146 (154 f.); 71, 39 (53). 30 BVerwG v. 26.6.1990, 1 C 45/87; BayVGH v. 26.8.2005, 22 ZB 03.2600; OVG Rheinland-Pfalz v. 20.9.2010, 6 A 10282/10, Rn. 44. 31 Zu § 3 Abs. 3 IHKG i.V.m § 19 II der Beitragsordnung vgl. VG Darmstadt, Urteil v. 7.11.2006 – 9 E 793/05, BeckRS 2007, 20895. 32 Zum Gewährleistungsgehalt der europäischen Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote vgl. , Ausarbeitung vom 19.12.2012, 3000 – 171/12, WD 11 – Europa. 33 EuGH, Rs. 6/74 (Costa/ENEL); EuGH, Rs. 106/77 (Simmenthal II); EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 10 halt nicht anwendbar.34 Sie bleibt aber gleichwohl in Geltung und auf rein inländische Sachverhalte anwendbar. Solange sich der inländische Marktteilnehmer nur in der seiner inländischen Rechtsordnung bewegt und seinem Handeln jegliches grenzüberschreitende Element fehlt,35 eröffnet es nicht den Anwendungsbereich des Unionsrechts und er kann sich nicht gleich einem EU-ausländischen Marktteilnehmer auf Rechte berufen, die diesem ein beschränkungs- und diskriminierungsfreies grenzüberschreitendes Handeln ermöglichen sollen. Daher hätte ein – von der Rechtsprechung einhellig verneinter36 – Verstoß der Kammerpflichtmitgliedschaft gegen primäres oder sekundäres Unionsrecht potenziell zur Folge, dass die Mitgliedschaftspflicht für EUausländische Marktteilnehmer, nicht aber für die inländischen Marktteilnehmer entfällt. Dies hätte zur Folge, dass die von einem Hoheitsträger geschaffene Regelung für sich genommen undifferenziert für alle potenziellen Adressaten wirkt, sich aber ein Teil des Adressatenkreises dem Hoheitsträger gegenüber nicht auf unmittelbar anwendbares europäisches Recht berufen kann und damit infolge der partiellen Überlagerung der undifferenzierten Norm durch europäisches Recht letztlich doch innerhalb des Adressatenkreises differenziert wird. Diese Situation der Gebundenheit der Inländer an das strengere nationale Recht bei gleichzeitigem Dispens der EU-Ausländer von denselben Rechtsvorschriften führt zu einer Ungleichbehandlung (sogenannte Inländerdiskriminierung). Diese ist grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar, da die EU-Grundfreiheiten die Sicherung des Binnenmarktes und nicht das Verbot jeglicher Diskriminierung eigener Staatsbürger bezwecken.37 Die Problematik der Inländerdiskriminierung resultiert nicht aus einer autonomen unionsrechtswidrigen Entscheidung des nationalen Rechts, sondern ist Folge des Vorrangs des Unionsrechts. Daher obliegt es der Beurteilung der Mitgliedstaaten, festzustellen, ob eine Inländerdiskriminierung vorliegt und welche Konsequenzen sich daraus für das nationale Recht ergeben. 4. Verfassungsgemäßheit der Ungleichbehandlung von inländischen und EU-ausländischen Marktteilnehmern Der Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EU-ausländische Marktteilnehmer bedeutet eine Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Verbandswesens im jeweiligen Bereich und macht eine gesetzgeberische Prüfung erforderlich, ob 34 Der EuGH spricht insoweit von dem „Anwendungsbereich des Unionsrechts“, vgl. EuGH, Rs. 22/70, (AETR); Rn. 30; EuGH, Rs C-112/91 (Werner); EuGH, Rs. C-465/00 (Österreichischer Rundfunk u. a.), Rn. 73 ff. 35 Bislang wird durch den EuGH die Möglichkeit einer Berufung von Inländern auf die Grundfreiheiten in Fällen ohne grenzüberschreitenden Bezug (d.h. eigentlich rein nach dem nationalen Recht zu beurteilende Fälle) nur in eng begrenzten Ausnahmefällen anerkannt. Zu der Frage, ob auch die Inländerdiskriminierung vom Unionsrecht erfasst wird vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 30.9.2010 in der Rs. C-34/09 (Zambrano), Rn. 123 ff. sowie aus der Literatur Nicolaysen, Inländerdiskriminierung im Warenverkehr, EuR 1991, S. 203 (204 f.); Schilling, Gleichheitssatz und Inländerdiskriminierung, JZ 1994, S. 8 (10). 36 Vgl. hierzu VG Darmstadt, Urteil v. 7.11.2006 – 9 E 793/05, BeckRS 2007, 20895,; VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 27.11.2012 – AU 2 K 10.519, BeckRs 2012, 60456 sowie die dort unter Rn. 27 aufgeführte Rechtsprechung. 37 St. Rspr, vgl. EuGH, verb. Rs. 35/82 und 36/82 (Morson), Rn. 15 f.; EuGH, Rs. 180/83 (Moser), Rn. 15; EuGH, Rs. 98/86 (Mathot), Rn. 8 f.; EuGH, Rs. C-350/07 (Kattner), Rn. 71 ff.; EuGH, Rs. C-58/98 (Corsten), Rn. 30 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 11 die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche Zwangskooperation am Maßstab des Grundgesetzes noch bestehen.38 Von der Frage der Pflichtmitgliedschaft an sich sind hierbei solche Regelungen abzugrenzen, die ein Gewerbetreibender zuvor erfüllen muss, um sein Gewerbe ausüben zu dürfen und so überhaupt Mitglied einer Kammer werden zu können. Dies betrifft beispielsweise die Fälle der Eintragung in die Handwerksrolle, welche mit dem „Meisterzwang“ unmittelbar an ein Kriterium der Berufswahl bzw. Berufsausübung anknüpft.39 In anderen Fällen der Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Marktteilnehmern knüpft die Rechtsprechung an eine (fehlende) Rechtfertigung der insbesondere drittschützenden Beschränkung der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG in Wettbewerbssituationen an.40 Die Kammerpflichtmitgliedschaft greift jedoch als bloße Nebenfolge der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit nicht in die Freiheit der Berufswahl oder Berufsausübung ein,41 sodass die Rechtsprechung zur so genannten „Inländerdiskriminierung“ nicht als Maßstab für die Bewertung einer auf inländische Gewerbetreibende beschränkten Kammerpflichtmitgliedschaft geeignet ist. Die Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit der Pflichtmitgliedschaft für EU-ausländische Gewerbetreibende erfordert jedoch mit Blick auf die Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Gewerbetreibenden (Art. 2 Abs. 1 GG) die Bewertung, ob auch unter veränderten rechtlichen Bedingungen der Normzweck der Pflichtmitgliedschaft noch erreicht werden kann oder ob eine ursprünglich rechtmäßige Regelung aufgrund des sich verändernden Kreises der zur Mitgliedschaft verpflichteten Kammermitglieder verfassungsrechtlich untragbar geworden ist. Sofern die Pflichtmitgliedschaft weiterhin durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist, schließt sich die Frage an, ob diese ungleiche Belastung der Marktteilnehmer (Interessenartikulation ohne Pflichtpartizipation für EU-Ausländer, Interessenartikulation mit Pflichtpartizipation und Beitragspflicht für Inländer) vor dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Bestand haben kann. 4.1. Vereinbarkeit der Ungleichbehandlung mit Art. 2 Abs. 1 GG Die Einrichtung der Kammern und die Inanspruchnahme von Pflichtmitglieder müsste auch bei einer Beschränkung der Pflichtmitgliedschaft auf den Kreis der inländischen Gewerbetreibenden 38 Dieser Prüfungspflicht ist der Deutsche Bundestag bislang in verfassungskonformer Weise nachgekommen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1BvR 1860/98, Rn. 38 ff.; VGH München, Beschluss vom 30.7.2012, 22 ZB 11.1462, Rn. 25 mit Verweis auf die BT-Drs. 14/9175, S. 3, 8 ff.; 15/3265, S. 2, 4 f.; 16/6357; 16/12883. 39 Der selbständige Betrieb eines Handwerks ist regelmäßig nur den in die Handwerksrolle Eingetragenen gestattet. In diese wird grundsätzlich nur eingetragen, wer die Meisterprüfung bestanden hat (§ 1 Abs. 1 i.V.m § 7 HWO). Dies beruht auf dem Regelungsziel der Erhaltung des Leistungsstandes und der Leistungsfähigkeit des Handwerks und Sicherung der Ausbildung von qualifiziertem Nachwuchs für die gesamte gewerbliche Wirtschaft. Gegenüber dieser strengen „Marktzugangsvoraussetzung“ nach deutschem Recht benötigen Handwerker aus dem EU-Ausland für eine selbständige Tätigkeit in Deutschland lediglich eine mehrjährige Berufserfahrung mit herausgehobener beruflicher Verantwortung . Dies führte zu der Frage, ob die bislang notwendige Meisterprüfung angesichts der veränderten rechtlichen und wirtschaftlichen Situation zur Sicherung der Qualität der in Deutschland angebotenen Handwerkerleistungen wegen der Konkurrenz aus dem EU-Ausland, die hiervon nicht betroffen sei, noch geeignet sein könnte; vgl. BVerfGE 13, 97 (107); BVerfG: Beschluss vom 5.12.2005 - 1 BvR 1730/02 (Meisterzwang), in: BeckRS 2005, 31259. 40 Für inländerdiskriminierende Ungleichbehandlungen und deren Rechtfertigung vgl. BVerwGE 123, 82 (Reinheitsgebot ); BVerfG, 28. 3. 2006 - 1 BvR 1054/01 (Wettmonopol), NJW 2006, 1261; OVG Saarlouis: Beschluss vom 22.01.2007 - 3 W 14/06 (Apothekenbetriebserlaubnis), in: BeckRS 2007, 20636. 41 BVerfGE 15, 235 (239); BVerwGE 107, 169 (170 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 12 zur Erfüllung eines legitimen Zwecks erfolgen, für die Zweckerreichung geeignet und erforderlich sein sowie die Grenzen der Zumutbarkeit wahren.42 4.1.1. Legitimer Zweck Auch bei einem Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EU-ausländische Gewerbetreibende müssten die bestehenden Regelungen in dem IHKG und der HWO über die Kammerpflichtmitgliedschaft einen legitimen Zweck verfolgen, damit die bestehenden Regelungen in unveränderter Form weiterhin verfassungsgemäß sind. Um dies zu verneinen müsste der Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EU-Ausländer auf die unveränderte gesetzgeberische Entscheidung die Wirkung entfalten, dass der ursprünglich verfassungsgemäße unter veränderten Bedingungen in einen offensichtlich gemeinwohlwidrigen Zweck umschlägt.43 Auch wenn nicht alle örtlichen Wirtschaftsteilnehmer zur Teilnahme an der Selbstverwaltung verpflichtet werden können, bleibt der Zweck legitim, Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsverwaltung durch öffentlich-rechtliche, auf die Gesamtbelange der erfassten Wirtschaftszweige ausgerichtete und als Selbstverwaltungseinrichtung der Wirtschaft organisierte Interessenvertretungen zu organisieren.44 Konsequenz der den Kammern übertragenen hoheitlichen Tätigkeiten sowie ihrer Aufgabe, das Gesamtinteresse der Wirtschaft im Kammerbezirk wahrzunehmen, ist die Kammerpflichtmitgliedschaft.45 Wesentlicher Zweck der Kammern bleibt die Gesamtbewertung der Interessen der wirtschaftlich Tätigen durch Berücksichtigung und Abwägung von Einzelinteressen . Dieser Regelungszweck der Bündelung des Gesamtinteresses wird nicht bereits dadurch offensichtlich gemeinwohlwidrig, dass nicht alle Gewerbetreibenden auch tatsächlich Mitglieder ihrer jeweiligen Kammer sind. Die Aufgabenkreis der Industrie- und Handelskammern ist beschränkt auf die Wahrnehmung des Gesamtinteresses „der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes“ (§ 1 Abs. 1 IHKG). Der Aufgabenkreis der Handwerkskammern stellt allgemeiner darauf ab, dass zur Vertretung der Interessen des Handwerks Handwerkskammern errichtet werden, zu der die Inhaber eines Betriebs eines Handwerks und eines handwerkähnlichen Gewerbes des Handwerkskammerbezirks gehören (§ 90 Abs. 1 und 2 HWO). In beiden Fällen ist die Pflichtmitgliedschaft nicht konstitutiv für die Gesamtinteressenwahrnehmung, sondern hat die dienende Funktion, die Verfolgung des legitimen und gemeinwohlgebundenen Zwecks der Gesamtinteressenvertretung sicherzustellen. Diese Gesamtinteressenvertretung bleibt auch bei einem Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EUausländische Marktteilnehmer ein legitimer Zweck. Auch in dem Fall obliegt den Kammern im Rahmen ihrer öffentlich-rechtlichen Gemeinwohlbindung über die reine Mitgliederinteressenvertretung hinaus die Aufgabe, die jeweiligen gewerblichen Interessen im Kammerbezirk möglichst umfassend zu berücksichtigen und auszugleichen. Auch wenn sie nicht mehr zur Mitgliedschaft verpflichtet sind, bleibt es den EU-ausländischen Marktteilnehmern unbenommen, freiwillig der jeweiligen Kammer anzugehören, um sich in der Selbstverwaltung einzubringen und an der Artikulation eines Gesamtinteresses mitzuwirken. 42 Vgl. oben 2.3.3. sowie BVerfG, Beschl. v. 24.10.1990, 1 BvR 1203/90; BVerwG, NJW 1997, 814 (815); BVerwG, NJW 1998, 3510; BVerfG, Beschluss vom 7.12.2001, 1BvR 1860/98. 43 Vgl. zu dem Begriff des legitimen Zwecks BVerfGE 3, 19 (24  f.); 7, 377 (400, 409 f.); 77, 84 (106 f.). 44 Vgl. BVerfGE 15, 235 (239 f.). 45 Vgl. BT-Drs. 13/10297, Nr. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 13 Die Zweckbestimmung der Kammern würde erst dann in einen verfassungswidrigen Zustand umschlagen, wenn sich die weit überwiegende Mehrheit der örtlichen Gewerbetreibenden aus EU-ausländischen zusammensetzte und die gewerbliche Selbstverwaltung dennoch nur der Interessen der mitgliedschaftspflichtigen Gewerbetreibenden diente und damit nicht mehr auf die gemeinwohlbezogene Vertretung der erfassten Wirtschaftszweige ausgerichtet wäre. 4.1.2. Geeignetheit der Pflichtmitgliedschaft Die Kammerpflichtmitgliedschaft ist auch bei einem Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EUausländische Gewerbetreibende nicht schlechthin ungeeignet, den Regelungszeck zu erreichen. Zwar ließe sich vertreten, dass mit einem Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EU-Ausländer der Normzweck der Bündelung der Interessen aller Gewerbetreibenden im Kammerbezirk nicht tatsächlich sichergestellt werden könne. Die Geeignetheit der Regelung könnte dadurch in Frage gestellt sein, dass die Durchsetzung des Regelungszwecks angesichts der durch das Unionsrecht geschlagenen Breschen per se nicht mehr erreichbar ist.46 Jedoch statuiert beispielsweise § 2 Abs. 1 IHKG keinen umfassenden Vertretungsanspruch für alle örtlichen Gewerbetreibenden, sondern beschränkt die „Wahrnehmung des Gesamtinteresses“ auf den Kreis der „zugehörigen Gewerbetreibenden“. Dementsprechend sicherte eine fortbestehende Pflichtmitgliedschaft zumindest der inländischen Gewerbetreibenden jedenfalls die Wahrnehmung des Gesamtinteresses der kammerzugehörigen Gewerbetreibenden institutionell ab und ist insoweit geeignet, das Ziel einer möglichst umfassenden Bündelung der gewerblichen Interessen in einer Selbstverwaltungskörperschaft zu erreichen.47 Sofern der Regelungsauftrag der Kammern nicht dadurch faktisch entleert wird, dass der Großteil der Gewerbetreibenden im Kammerbezirk als EU-Ausländer nicht mehr der Pflichtmitgliedschaft unterlägen und damit eine Bündelung der Interessen der örtlichen Gewerbetreibenden insgesamt nicht zu erreichen wäre, bleibt die Pflichtmitgliedschaft jedenfalls der inländischen ortsansässigen Gewerbetreibenden ein geeignetes Mittel in den Grenzen des unionsrechtlich Zulässigen. Ebenso wie es dem Gesetzgeber obliegt, sich für eine pflichtmitgliedschaftliche Interessenvertretung und Selbstverwaltung zu entscheiden, steht es auch in seinem Ermessen, Wege zu finden, die bei einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit der Pflichtmitgliedschaft für EU-Ausländer sicherstellen, dass eine tatsächliche Wahrnehmung des Gesamtinteresses erfolgt. Alleine der Umstand, dass die Vertretung des Gesamtinteresses mangels Pflichtmitgliedschaft nicht mit Sicherheit gewährleistet ist, lässt die Geeignetheit der Pflichtmitgliedschaft nicht entfallen. 4.1.3. Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft Die Pflichtmitgliedschaft bleibt auch bei Wegfall der Pflichtigkeit EU-ausländischer Gewerbetreibender erforderlich, um zumindest die Gesamtheit der im Kammerbezirk ansässigen inländischen Gewerbetreibenden in der jeweiligen Kammer zusammenzufassen. Eine Vereinigung ohne Pflichtmitgliedschaft stellt kein gleich geeignetes Mittel dar, um das Gesamtinteresse der inländischen gewerblichen Wirtschaft gegenüber staatlichen oder kommunalen Entscheidungsträgern zu vertreten, da nur eine Pflichtmitgliedschaft eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft freie sowie umfassende Ermittlung, Abwägung und Bündelung der Interessen ermöglicht, die erst eine objek- 46 Diefenbach, GewArch 2001, 353 (355); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. A. 2005, § 7 Rdnr. 20. 47 Vgl. BVerfGE 15, 235 (239); 38, 281 (299 ff.); zum Maßstab der Geeignetheit vgl. BVerfGE 30, 292 (316); 80, 1, (24 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 14 tive und vertrauenswürdige Wahrnehmung jedenfalls eines vor dem Hintergrund des Unionsrechts umfassenden Gesamtinteresses ermöglicht.48 Insbesondere führt der Wegfall der Pflichtigkeit EU-ausländischer Gewerbetreibender bei fortbestehender gesetzgeberischer Entscheidung nicht dazu, dass der verfolgte Zweck nunmehr durch einen freiwilligen Zusammenschluss als ein die Grundrechtsträger weniger stark belastendes Mittel erreicht werden könnte. Bei einer vollständig auf freiwilligem Zusammenschluss beruhenden Organisation ist nicht sichergestellt, dass sie aufgrund des zu erwartenden Desinteresses eines Teils der Gewerbetreibenden die gewerbliche Wirtschaft insgesamt bzw. weitestgehend (im Rahmen des unionsrechtlich Zulässigen) repräsentieren noch ein gewerbliches Gesamtinteresse formulieren oder die derzeit übertragenen Aufgaben in gleichem Maße wie die Kammern gemeinwohlverpflichtet wahrnehmen.49 4.1.4. Zumutbarkeit Eine auf inländische Gewerbetreibende beschränkte Kammerpflichtmitgliedschaft bedeutet keine erhebliche, die Grenze des Zumutbaren überschreitende Beeinträchtigung dieser Mitglieder. Der Eingriff in ihre unternehmerische Handlungsfreiheit steht nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck. Gegen eine Zumutbarkeit könnte sprechen, dass zwar grundsätzlich alle Gewerbetreibenden von der Selbstverwaltung profitieren sollen, diese jedoch nur von einer Teilmenge der Gewerbetreibenden getragen wird. Aus der Befreiung EU-ausländischer Gewerbetreibender bei gleichzeitig fortbestehender Beitragspflicht der Inländer könnte eine unzumutbare Wettbewerbsverzerrung zulasten der inländischen Gewerbetreibenden erfolgen.50 Zudem könnte auch die Beitragspflichtigkeit im Lichte des beitragsrechtlichen Äquivalenzgrundsatzes unzumutbar sein. Verfolgt die Kammer weiterhin das tatsächliche Gesamtinteresse der örtlichen Gewerbetreibenden, so könnte dies bedeuten, dass der Vorteil aus der Kammerzugehörigkeit durch die notwendige Berücksichtigung von Interessen von Nichtmitgliedern nicht äquivalent der Leistung der Mitglieder entspricht und die Pflichtmitglieder insgesamt unverhältnismäßig von dem unionsrechtlich beschränkten Anwendungsbereich der Kammerpflichtmitgliedschaft betroffen sind. Diesen Bedenken lässt sich entgegenhalten, dass Beiträge Gegenleistungen für Vorteile sind, die das Mitglied aus der Kammerzugehörigkeit oder einer besonderen Tätigkeit der Kammer zieht oder ziehen kann. Im Sinne des Äquivalenzgrundsatzs stehen der Pflichtmitgliedschaft und dem Kammerbeitragspflicht die Chance zur Mitwirkung in den Kammern und zur Nutzung der Kammerleistungen gegenüber. Für die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes ist ausreichend, dass die Kammern ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen, das Gesamtinteresse der Gewerbetreibenden vertreten und die wirtschaftlichen Belange ihrer Kammermitglieder wahrnehmen und fördern.51 Der gesetzliche Auftrag der Kammern zur Vertretung der Gesamtinteressen der gewerblich Tätigen schließt nicht aus, dass die Kammern neben den Interessen ihrer Mitglieder auch die von Marktteilnehmern wahrnehmen bzw. berücksichtigen, die zwar nicht Kammermitglieder sind, aber in 48 BVerfGE 15, 235 (243). 49 Vgl. BVerfGE 15, 235 (242 f.). 50 Vgl. BVerwG, 24. 2. 2005 - 3 C 5.04, BVerwGE 123, 82. 51 Vgl. oben 2.3.3.4.sowie BVerfGE 32, 54 (64 ff.); 38, 281 (297 f); BVerwG NVwZ 1990, 1167; VG Darmstadt, NVwZ 2002, S. 1398; OVG Koblenz, NVwZ-RR 1998, 305; VG Arnsberg, NVwZ-RR 1998, S. 557 (558); OVG Lüneburg, GewArch 1997, 153 (154); OVG Lüneburg, GewArch 1996, 413. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 15 einem Bereich tätig sind, der sachlich in den Aufgabenbereich der Selbstverwaltung fällt. Zudem lässt sich vertreten, dass inländischen Gewerbetreibenden gegenüber EU-ausländischen Konkurrenten durch ihre dauerhafte Ortsansässigkeit in besonderem Maße von den Kammertätigkeiten profitieren. Während der im EU-Ausland ansässige Marktteilnehmer in Deutschland potenziell nur zeitlich begrenzt tätig wird, übt der inländische Marktteilnehmer in der Regel eine Dauertätigkeit aus. Gerade für diese gilt dann ein erhöhtes bzw. fortbestehendes Bedürfnis für die Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen bei der „Vertretung der gewerblichen Wirtschaft“ und „Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet“. Die fortbestehende Pflichtmitgliedschaft für inländische Gewerbetreibende erscheint auch insofern zumutbar, als die Pflichtmitgliedschaft Voraussetzung für eine Gesamtinteressenvertretung ist und dabei auch dadurch eine freiheitssichernde und legitimatorische Funktion besitzt, dass sie die unmittelbare Staatsverwaltung vermeidet und stattdessen auf die Mitwirkung der Betroffenen setzt. Mit dem Wegfall der Mitglieds- und damit auch der Beitragspflicht für EU-Ausländer verändern sich potenziell auch die von den weiterhin mitglieds- und beitragspflichtigen Inländern zu zahlenden Beiträge. Vor dem Hintergrund des beitragsrechtlichen Gleichheitsgebotes ist die fortbestehende Beitragspflicht zumutbar, solange sie der Verschiedenheit der Mitglieder Rechnung trägt und die Beiträge im Verhältnis des Beitragspflichtigen zueinander grundsätzlich vorteilsgerecht bemessen sind.52 4.2. Vereinbarkeit der Ungleichbehandlung mit Art. 3 Abs. 1 GG Die Ungleichbehandlung von inländischen und EU-ausländischen Gewerbetreibenden könnte gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Das wäre der Fall, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.53 4.2.1. Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG EU-ausländische und inländische Gewerbetreibende unterhalten potenziell im gleichen Maße gewerbesteuerpflichtige Betriebsstätten beziehungsweise Handwerksbetriebe im jeweiligen Kammerbezirk. Damit bilden sie bezüglich ihrer jeweiligen Tätigkeit eine einheitliche Gruppe der örtlichen Gewerbetreibenden. Der Wegfall der Kammerpflichtmitgliedschaft für ortsansässige EU-ausländische Gewerbetreibende hat zur Folge, dass gleichfalls ortsansässige inländische Gewerbetreibende durch die für sie fortbestehende Mitgliedschaftspflicht in größerem Maße verpflichtet sind als EU-ausländische. Insbesondere mit der fortbestehenden Beitragspflicht bestünde eine Ungleichbehandlung im örtlichen Wettbewerb. Eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG setzt jedoch ein gleichheitswidriges Handeln ein- und denselben Normgebers voraus, da der Gleichheitssatz auf den jeweiligen Kom- 52 BVerwG v. 26.6.1990, 1 C 45/87; BayVGH v. 26.8.2005, 22 ZB 03.2600; OVG Rheinland-Pfalz v. 20.9.2010, 6 A 10282/10, Rn. 44. 53 BVerfGE 55, 72 (88); 58, 369 (373 f.); 60, 123 (133 f.); 64, 229 (239); 65, 104 (112 f.); 66, 234 (242); 67, 231 (236); 70, 230 (239 f.); 71, 146 (154 f.); 71, 39 (53). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 16 petenzbereich des Normgebers beschränkt ist.54 Die allgemeine Kammermitgliedschaftspflicht der örtlichen Gewerbetreibenden beruht auf einer Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, während die „Entpflichtung“ der EU-Ausländer aus den Gewährleistungen der europäischen Grundfreiheiten folgt. Damit beruht die Ungleichbehandlung auf zwei unterschiedlichen Rechtskreisen, die in ihrer Interaktion weder zu Kongruenz verpflichtet noch dem Gleichheitssatz unterworfen sind.55 Die nationale Rechtsordnung muss Unionsrecht erst dann effektiv und gleichheitsgerecht auch in rein nationalen Sachverhalten umsetzen, wenn sich der Regelungsgegenstand im Anwendungsbereich des Unionsrechts bewegt, beispielsweise durch umsetzungsbedürftiges Sekundärrecht oder unmittelbar geltendes Primärrecht.56 Ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet, weil es an einem grenzüberschreitenden Bezug fehlt oder keine Vollharmonisierung vorliegt, so können die Mitgliedstaaten ihre eigenen Staatsangehörigen in gleichen Sachverhalte verschieden behandeln.57 Teilweise wird vertreten, dass für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten nicht zwingend ein tatsächlicher grenzüberschreitender Bezug erforderlich, sondern dessen bloße Möglichkeit ausreichend sei und sich daher auch Inländer auf Grundfreiheiten berufen könnten.58 Anders als in Fragen des grenzüberschreitenden Wettbewerbs, geht es bei einer Pflichtmitgliedschaft in Kammern um eine lokale gemeinsame Interessenvertretung und die Organisation des örtlichen Gewerbes in Selbstverwaltung. Mit der Kammerpflichtmitgliedschaft wird kein europäisches Recht ausgeführt oder umgesetzt, welches rechtlich sowohl durch nationales als auch durch europäisches Recht bedingt ist.59 4.2.2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Die Ungleichbehandlung von inländischen und EU-ausländischen Gewerbetreibenden ließe sich auch durch die der Differenzierung zugrundeliegende sachliche Gründe rechtfertigen. Ein solcher folgt aus dem differierenden rechtlichen Rahmen der Teilnahme am Markt, welche die vom Unionsrecht erfassten Sachverhalte und die dem nationalen Recht verbliebenen Bereiche sachlich unterscheiden: Die grundfreiheitliche Befreiung von einer Kammermitgliedschaft für EU- Ausländer dient der Förderung der grenzüberschreitenden Wirtschaftsintegration und der Beseitigung von Hindernissen. Dieser Gesichtspunkt entfällt bei Inländern, die sich bereits in ihrem Heimatmarkt bewegen. Im Fall der rein innerstaatlichen Sachverhalte müssen von vornherein nur die Anforderungen einer Rechtsordnung erfüllt werden.60 Eine nationale Maßnahme, die 54 Vgl. BVerfGE 16, 6 (24); BVerfG, 21.12.1966 - 1 BvR 33/64, BVerfGE 21, 54 (68); 37, 314 (323); 52, 42 (57 f.); BVerw- GE 96, 293 (301); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, § 7 Rn. 20. 55 Vgl. Krohn, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 2004, Bd. 1, C IV Rn. 220. 56 Für eine Anwendung des Gleichheitssatzes mit Blick auf die Determinierung des nationalen Rechts durch Unionsrecht vgl. österreichischer Verfassungsgerichtshof (VerfGH), 7.10.1997 - V 76/97, V 92/97, VfSlg. 14.963 (1997); VerfGH, 17.6.1997 - B 592/96, VfSlg. 14.863 (1997) = EuGRZ 1997, 362; VerfGH, 9.12.1999 - G 42/99 u. G 135/99, in: EuZW 2001, 219. 57 EuGH, verbs. Rs. C-64/96 u. C-65/96, Slg. 1997, I-3171, Rn. 16, 23 (Uecker u. Jacquet). 58 So beispielsweise für den Bereich des Vergaberechts, in dem bereits die potenzielle Betroffenheit von Wettbewerbern den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet und wonach kein innerstaatlicher Sachverhalt im Vergaberecht bestehen könnte, EuGH, Rs. C-231/03 (Coname), Rn. 15 ff.; vgl. auch die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 30.9.2010 in der Rs. C-34/09 (Zambrano), Rn. 123 ff. 59 Für die Annahme eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz durch die „doppelte Bedingtheit“ des nationalen Recht vgl. österreichischer Verfassungsgerichtshofe, 9.12.1999 - G 42/99 u. G 135/99, in: EuZW 2001, 219 (222). 60 Diefenbach, GewArch 2001, 353 (357); Gundel, DVBl. 2007, S. 269 (272). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/12 Seite 17 unionsrechtlich als unverhältnismäßiger Eingriff in eine Grundfreiheit eingestuft wurde, kann angesichts der unterschiedlichen Eingriffsintensität danach verfassungsrechtlich ohne Wertungswiderspruch als gerechtfertigte Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit angesehen werden. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes begründet daher auch keinen Anspruch der inländischen Gewerbetreibenden, mit EU-ausländischen gleichgestellt zu werden. Dies würde bedeuten, dass das Unionsrechts außerhalb seines Anwendungsbereichs harmonisierend auf rein nationale Sachverhalte wirken würde. Ein solcher „Anpassungsdruck“ der nationalen Rechtsordnung bedeutete einen Verlust nationaler Gestaltungsautonomie in Bereichen, in denen das Unionsrecht keine Geltung beansprucht. Die Bundesrepublik hat zwar dem Integrationsprogramm der Unionsverträge zugestimmt und ist damit „mitverantwortlich“ für dessen effektive Umsetzung.61 Soweit nicht dem Unionsrecht unterfallende Sachverhalte vom nationalen Recht einer abweichenden Regelung zugeführt werden, kann dies die Grenzen des Unionsrechts nicht verschieben.62 5. Ergebnis Sollte sich die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern als unionsrechtswidrig erweisen, so könnte dies zur Folge haben, dass EU-ausländische Gewerbetreibende, die im jeweiligen Kammerbezirk ansässig sind bzw. ihr Gewerbe betreiben, nicht mehr der Pflichtmitgliedschaft in diesen Kammern unterliegen, während inländische Gewerbetreibende weiterhin mitgliedschaftspflichtig wären. Der Wegfall der Kammerpflichtmitgliedschaft für EU-ausländische Gewerbetreibende bedeutetet eine rechtserhebliche rechtliche Veränderung , aus der eine Prüfungspflicht des Gesetzgebers für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der auf inländische Gewerbetreibende beschränkten Pflichtmitgliedschaft folgt. Die Pflichtmitgliedschaft für inländische und Gewerbetreibende in ihrer derzeitigen Ausgestaltung in den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern wäre auch bei einem Wegfall der Pflichtmitgliedschaft für EU-ausländische Gewerbetreibende verfassungskonform. Die fortbestehende Pflichtigkeit verstieße nicht gegen Art. 2 Abs. 1 GG. Der legitime Zweck der Gesamtvertretung der Interessen der örtlichen Gewerbetreibenden, welcher der Organisation der gewerblichen Wirtschaft in öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltung zugrunde liegt, entfiele nicht. Die Ungleichbehandlung zwischen inländischen und EU-ausländischen Gewerbetreibenden verstieße auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Es bestünde bereits keine Ungleichbehandlung durch ein- und denselben Normgeber. Die Ungleichbehandlung wäre auch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. ( ) 61 Weis, NJW 1983, 2721 (2725); Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1997, S. 168 f., 180; Kokott, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 1 (16). 62 Vgl. EuGH, Rs. 175/78 (Saunders), Rn. 11; EuGH, Rs. 355/85 (Cognet), Rn. 11); EuGH, Rs. 98/86 (Mathot), Rn. 9; EuGH, Rs. 407/85 (3 Glocken), Rn. 25; EuGH, Rs. 20/87 (Gauchard), Rn. 10 ff.; EuGH, verb. Rs. C-29/94 u. a. (Aubertin), Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. C-60/91, (Morais), Rn. 7; EuGH, Rs. C-17/94 (Gervais) Rn. 23 ff.; EuGH, Rs. C-134/95 (USSL No 47 di Biella), Rn. 19 ff.; EuGH, verb. Rs. C-64/96 u. 65/96 (Uecker u. Jacquet), Rn. 16.