Deutscher Bundestag Direkte Demokratie Umgang mit finanzwirksamen Abstimmungsgegenständen und Kontrolle der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 320/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 2 Direkte Demokratie Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 320/11 Abschluss der Arbeit: 26. Oktober 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Finanzwirksame Abstimmungsgegenstände in direktdemokratischen Verfahren 4 2.1. Deutschland 5 2.1.1. Standortbestimmung des Finanzvorbehalts 5 2.1.2. Bedeutung und Reichweite des Finanzvorbehaltes 6 2.1.3. Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte 8 2.1.4. Reformen in Bremen, Berlin und Hamburg 9 2.2. Ausländische Staaten 10 2.2.1. Schweiz 10 2.2.2. USA 12 3. Europarechtliche und völkerrechtliche Grenzen direktdemokratischer Instrumente 13 3.1. Vorrang des Unionsrechts 13 3.2. Stellung des Völkerrechts 13 3.3. Volksgesetzgebung 14 4. Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten 15 4.1. Bundesländer 15 4.1.1. Berlin 15 4.1.2. Schleswig-Holstein 16 4.1.3. Bayern 17 4.1.4. Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt 18 4.2. Schweiz 18 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 4 1. Einleitung Direkte Demokratie bezeichnet ein System, in dem das Staatsvolk unmittelbar über Sachfragen bzw. Gesetzesentwürfe abstimmt. Demgegenüber ist die repräsentative Demokratie dadurch gekennzeichnet , dass vom Volk gewählte Organe die gesetzgeberischen Entscheidungen treffen.1 Während in den Landesverfassungen plebiszitäre Elemente Niederschlag gefunden haben und auch in der Praxis Anwendung finden, ist auf Bundesebene die Volksgesetzgebung im Rahmen eines Volksentscheides lediglich in Art. 29 und 118a GG zur Neugliederung der Länder2 und in Art. 146 GG zur Schaffung einer neuen Verfassung vorgesehen.3 In Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist zwar von Wahlen und „Abstimmungen“ als mögliche Instrumente demokratischer Legitimation die Rede; in systematischer Hinsicht ergibt sich jedoch eine abschließende Kompetenzverteilung des Bundes und der Länder (Art. 76 ff. GG) im Bereich der Gesetzgebung, sodass für Volksentscheide kein weiterer Anwendungsbereich geschaffen wird.4 Dies könnte allenfalls durch eine Verfassungsänderung herbeigeführt werden, deren Zulässigkeit und Notwendigkeit im rechtswissenschaftlichen und politischen Diskurs steht.5 Dementsprechend widmet sich die folgende Untersuchung der Volksgesetzgebung in den Bundesländern sowie ausgewählter ausländischer Staaten. Dabei wird im ersten Teil (s. u. 2) untersucht , ob und ggf. in welchen Grenzen finanzwirksame Abstimmungsgegenstände Teil der Volksgesetzgebung in den Bundesländern und ausländischen Staaten sein können und wie dies gesetzlich ausgestaltet ist. In einem weiteren Schritt beschäftigt sich das Gutachten mit der Frage, welche europarechtlichen Grenzen der Volksgesetzgebung gesetzt sind (s. u. 3). Abschließend wird die Ausgestaltung des Menschen- und Minderheitenschutzes in direktdemokratischen Verfahren beleuchtet (s. 4). 2. Finanzwirksame Abstimmungsgegenstände in direktdemokratischen Verfahren Die Zulässigkeit finanzwirksamer Volksgesetzgebung ist ein viel diskutierter Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Literatur. Auch die Rechtsprechung hat sich hiermit mehrfach befasst. 1 Eingehend hierzu, Neumann, Peter, Sachunmittelbare Demokratie, 2006, S. 147 ff. 2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Juli 2010 (BGBl. I S. 944) geändert worden ist. 3 Hofmann, Bruno in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Hofmann, Hans/Hopfauf, Axel, Kommentar zum Grundgesetz, 12. Auflage 2011, Art. 20 Rn. 50. 4 Huster, Stefan/Rux, Johannes in: Epping, Volker/Hillgruber, Christian, Beck’scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, 11. Edition vom 1. Juli 2011, Art. 20 Rn. 74; siehe hierzu auch , Direkte Demokratie in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland – Funktionsweise und Vor- bzw. Nachteile der Gegenüberstellung, Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 346/10, September 2010. 5 Siehe zur gesamten Debatte um die Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene und deren Zulässigkeit nur Kühling, Jürgen, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr Demokratie wagen“?, JuS 2009, 777 ff. Zur politischen Aktualität siehe die Darstellung über bisherige Initiativen zur Verankerung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene (Punkt 6) in , Direkte Demokratie in Europa und der BRD (Fn. 4). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 5 2.1. Deutschland In allen 16 Bundesländern ist eine Volksgesetzgebung in der jeweiligen Verfassung vorgesehen.6 Dabei sind die Verfahren (zweistufig; dreistufig) und der Charakter (fakultativ; obligatorisch) unterschiedlich ausgestaltet.7 Allen gemein ist jedoch, dass Haushalts- und Finanzfragen aus dem Anwendungsbereich der Volksgesetzgebung herausgenommen werden und somit allein dem Landesparlament vorbehalten sind.8 Da sich aber letztlich fast alle staatlichen Entscheidungen auf den gegenwärtigen oder zukünftigen Haushalt auswirken kann es zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen. 2.1.1. Standortbestimmung des Finanzvorbehalts Das Volk kann auf unterschiedliche Weise an der Gesetzgebung beteiligt werden. Zum einen kann es an der Parlamentsgesetzgebung mitwirken. Dies wird durch ein Initiativrecht eines qualifizierten Teils der Landesbevölkerung erreicht mit dem Ziel, dass sich das Parlament mit dem Gegenstand beschäftigt und anschließend darüber entscheidet. Das Prinzip einer derartigen Volksinitiative ist in 12 Bundesländern verankert.9 In einigen Verfassungen ist bereits auf dieser Ebene der Finanzvorbehalt zu finden. Danach ist eine Volksinitiative unzulässig, wenn sie den Haushaltsvorbehalt berührt. In anderen Ländern bezieht sich der Finanzvorbehalt nicht auf die Volksinitiative sondern nur auf die Regelungen über die eigentliche Volksgesetzgebung (Volksbegehren ; Volksentscheid, s. u. 2.1.2). Eine weitere Mitwirkungsmöglichkeit des Volkes an der Gesetzgebung des Parlamentes ist das Referendum über ein Parlamentsgesetz. Dabei handelt es sich um die plebiszitäre Beendigung eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens.10 Auch hier ist der Finanzvorbehalt jedoch unterschiedlich geregelt: in einigen Ländern (vor allem bei obligatorischen Verfassungsreferenden ) bezieht sich der Haushaltsvorbehalt nicht auf das Referendum.11 In anderen Ländern (vor 6 Art. 60 Abs. 6 BW-Verf; Art. 73 Bay Verf; Art. 70 Abs. 2 und Art. 87 Abs. 2 S. 2 Brem Verf; Art. 76 Abs. 2 Brand Verf; Art. 61 Abs. 1 und Art. 62 Abs. 2 Berl Verf; Art. 50 Abs. S. 2 Hamb Verf; Art. 124 Abs. 1 S. 3 Hess Verf; Art. 59 Abs. 3 und Art. 60 Abs 2 MV-Verf;Art. 48 Abs. 1 S. 3 Nds Verf; Art. 68 Abs. 1 S. 4 NRW-Verf; Art. 108a Abs. 1 S. 2 und Art. 109 Abs. 3 S. 3 und Art. 114 S. 3 RhPf Verf; Art 99 Abs. 1 S. 3 Saarl Verf; Art. 73 Abs. 1 Sächs Verf; Art. 81 Abs. 1 S. 3 SAnh Verf; Art. 41 Abs. 2 SchlH-Verf; Art. 68 Abs. 2 und Art. 82 Abs. 2 Thür Verf. 7 Siehe zur differenzierten Ausgestaltung der Verfahren sowie zur Unterscheidung in zweistufige und dreistufige Verfahrensmodelle , Direkte Demokratie in Europa und der BRD (Fn. 4), S. 10 ff. 8 Krafczyk, Jürgen, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, 2005, S. 17; Klatt, Matthias, Die Zulässigkeit des finanzwirksamen Plebiszits, Der Staat, 2011 (3), S. 4. 9 Siehe zur unterschiedlichen Ausgestaltung und Bedeutung der Initiative bei , Direkte Demokratie in Europa und der BRD (Fn. 4). 10 Zur Unterscheidung in obligatorische und fakultative Referenden und deren Ausgestaltung siehe (Fn. 4). 11 Zur Problematik in Bayern wegen kollidierender Verfassungsnormen siehe Krafczyk (Fn. 8), S. 31 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 6 allem beim fakultativen [Verfassungs-]Referendum) erstreckt sich das Finanztabu auf jegliche Form der Volksgesetzgebung und somit auch auf das Referendum.12 Volksgesetzgebung im eigentlichen Sinne – ohne die Mitwirkung des Parlamentes – besteht aus zwei Elementen: zum einen aus der Volksinitiative bzw. dem Volksbegehren, wodurch eine Vorlage in den Gesetzgebungsprozess eingeführt wird und zum anderen aus dem die Gesetzgebung abschließenden Element des Volksentscheides. Da auch dieser Verfahrensablauf in den Ländern unterschiedlich geregelt ist, der Finanzvorbehalt auf verschiedenen Ebenen zu finden. In den Ländern, in denen das Volksgesetzgebungsverfahren dreistufig ausgestaltet ist und die Volksinitiative obligatorischer Bestandteil ist, steht bereits diese erste Stufe unter dem Finanzvorbehalt . In den Ländern mit einem Zweistufenmodell bezieht sich der Haushaltsvorbehalt überwiegend auf die Ebene des Volksbegehrens; in den übrigen Ländern mit zweistufigem Verfahren erstreckt sich der Wortlaut lediglich auf den Volksentscheid bzw. die Volksabstimmung. Bei dieser Variante stellt sich die Frage, ob denklogisch auch das Volksbegehren von dem Finanzvorbehalt erfasst wird, oder ob die Möglichkeit eines sog. „imperfekten Volksbegehrens“13 geschaffen werden soll, welches nur nicht zu einem Volksentscheid führen kann. Diese Problematik ist bereits seit der Weimarer Reichsverfassung und den damaligen Landesverfassungen – welche zum Teil denselben unklaren Wortlaut enthielten – umstritten.14 Die jedoch schon damals herrschende Meinung, dass auf Grund der Einheitlichkeit der Volksgesetzgebung auch bereits das Volksbegehren vom Finanztabu des Volksentscheides erfasst wird, hat sich in der Literatur und Rechtsprechung durchgesetzt und lehnt insoweit ein imperfektes Volksbegehren ab.15 2.1.2. Bedeutung und Reichweite des Finanzvorbehaltes Die meisten Haushaltsvorbehalte sind zweigliedrig ausgestaltet: zum einen enthalten sie einen generalklauselartigen Begriff wie „Landeshaushaltsgesetz“, „Haushaltsgesetz“, Staatshaushalt“ oder „Finanzfragen“, welcher der Auslegung und Interpretation von Rechtsprechung und Literatur bedarf. Weiterhin sind spezielle Ausschlusstatbestände enthalten, welche zunächst untersucht werden sollen. In nahezu allen Ländern16 sind Abgaben, Steuern und Gebühren aus der Volksgesetzgebung ausgeschlossen . Weiterhin sind in allen Landesverfassungen die Besoldung, die Dienst- und die Versorgungsbezüge aus dem Bereich der Volksgesetzgebung herausgenommen. Diese Ausnahmen 12 Siehe hierzu Krafczyk, (Fn. 8), S. 33 f. 13 Krafczyk, (Fn. 8), S. 47. 14 Siehe hierzu ausführlich Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung (Fn. 8), S. 47 ff. 15 Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung (Fn. 8), S. 50. 16 Die einzige Ausnahme ist Bayern, Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung (Fn. 8), S. 55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 7 sollen die Leistungsfähigkeit des Staates garantieren und einen Missbrauch der direktdemokratischen Elemente aus übertriebener Sparsamkeit der Bevölkerung verhindern.17 Vereinzelt sind in den Landesverfassungen noch weitere spezielle Ausschlusstatbestände zu finden . So sind in Berlin und Hamburg die Tarife der öffentlichen Unternehmen sowie in Berlin, Brandenburg und Thüringen Personalentscheidungen von der Volksgesetzgebung ausgenommen. Da diese speziellen Ausschlussklauseln in der Regel klar gefasst sind und keine Abgrenzungsschwierigkeiten bereiten, existiert diesbezüglich weder umfassende Literatur noch Judikatur. Im Gegensatz dazu erscheint die Auslegung und Interpretation der „allgemeinen“ Haushaltsvorbehalte jedoch sehr problematisch.18 Dies hängt vor allem mit der Schwierigkeit der Grenzziehung zusammen, ab welcher Intensität ein Gesetz finanzwirksam ist und die Schwelle überschreitet , da nahezu jedes Gesetz zumindest mittelbar oder zukünftig den Staatshaushalt berührt. Hintergrund der Diskussion ist das grundsätzliche Verhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie. Je nachdem, wie das Verhältnis der repräsentativen Demokratie zur Volksgesetzgebung grundsätzlich festgelegt wird, sind die finanzwirksamen Plebiszite in die eine oder andere Richtung zu interpretieren. Insofern reichen die Ansichten von einem apodiktischen Vorrang der Parlamentsgesetzgebung über ein gleichberechtigtes Zusammenspiel der direkten und indirekten Demokratie bis hin zur strikten Rückkopplung parlamentarischer Entscheidungen an das Volk durch das Instrument der Volksgesetzgebung.19 Allerdings besteht weitegehend Einigkeit bezogen auf die Extrembereiche. Einerseits bleibt die Implementierung eines Haushaltsvorbehaltes als solcher unbeanstandet. Denn unmittelbar finanzwirksame Gesetzesvorhaben sind nicht geeignet, durch direkte Demokratie eine Veränderung zu erfahren. Für Haushaltsfragen sind zumeist sehr komplexe Entscheidungen erforderlich, welche nicht mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden können. Weiterhin handelt es sich bei dem Staatshaushalt um ein Gesamtgefüge aus Einnahmen und Ausgaben, das durch aus dem Zusammenhang gerissene Einzelbestimmungen empfindlich gestört werden kann. Haushaltsrechtliche Fragen werden in vielen Fällen außerdem durch kaum veränderbare Werte wie Personalkosten und vertragliche Bindungen vorbestimmt. Es entspricht ebenfalls der allgemeinen Ansicht20 in Rechtsprechung und Literatur, dass Volksgesetzgebung (gleich auf welcher Ebene) nicht schon wegen „schlichter Finanzwirksamkeit“, d.h. Kostenträchtigkeit als solcher unzulässig ist. Wäre dies der Fall, würde eine Volksgesetzgebung faktisch ausgeschlossen und somit die direkte Demokratie in verfassungswidriger Weise eingeschränkt. Die Verfassunggeber 17 Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung (Fn. 8), S. 62. 18 Eingehend zur Frage der Finanzvorbehalte, Neumann (Fn. 1), S. 396 ff. 19 Klatt, Die Zulässigkeit des finanzwirksamen Plebiszits (Fn. 8), S. 5. 20 Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung (Fn. 8), S. 175. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 8 der Länder haben eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass das plebiszitäre Element mehr oder minder stark ausgeprägt sein soll, weshalb eine überspitzt extensive Auslegung ausscheiden dürfte.21 2.1.3. Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte Die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte ist weitgehend einheitlich, was die Bildung von Abgrenzungskriterien anbetrifft und folgt einer weiten Auslegung. Eine Finanzwirksamkeit wird danach nicht lediglich bei Abstimmungsgegenständen angenommen, die formell das Haushaltsgesetz und den Haushaltsplan berühren; vielmehr wird der Haushaltsvorbehalt materiell ausgelegt, sodass dieser bereits bei „wesentlicher Beeinträchtigung“ des Budgetrechts des Parlamentes berührt wird.22 Die Entscheidung darüber, wann ein Abstimmungsgegenstand die Finanzhoheit des Parlamentes wesentlich zu beeinträchtigen geeignet ist, bedarf einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall. Hierzu hat die Rechtsprechung folgende Kriterien entwickelt: – Verursachung gewichtiger staatliche Einnahmen und Ausgaben;23 – Vergleich der Kosten des Abstimmungsgegenstandes im Verhältnis zum Gesamthaushalt des Landes;24 – Art und Dauer der vom Volksbegehren ausgehenden Belastungen;25 – die Haushaltslage des Landes als solche, v.a. die konkreten Planungen zum Haushaltsausgleich sowie die Gefahr nicht zu schließender Deckungslücken;26 – empfindliche Störung der Haushaltsplanung und daraus entstehender Zwang zur Neuordnung des Gesamtgefüges.27 Argumentativ stützt sich die Rechtsprechung zum einen darauf, dass der Wortlaut der jeweiligen Regelungen einer extensiven Auslegung jedenfalls nicht entgegen stehe. Dies gelte sogar für die Verfassungsklauseln, welche nicht einen weiten Begriff wie „finanzwirksame Gesetze“ oder „Finanzfragen “ beinhalten, sondern direkt auf den Haushalt durch Begriffe wie Haushaltsgesetz oder Haushaltsplan abstellte.28 Außerdem würden die Argumente, die für ein striktes Finanztabu sprechen , auch eine extensive Auslegung desjenigen rechtfertigen, um die Funktionsfähigkeit des Staates zu gewährleisten. Allein der SächsVerfGH sprach sich für eine enge Auslegung des Haus- 21 Klatt (Fn. 8), S. 6. 22 Klatt (Fn. 8), S. 7. 23 Krafczyk (Fn. 8), S. 178 m.w.N. 24 Vgl. ThürVerfGH, LKV 2002, S. 83 ff. 25 Vgl. BayVerfGH, NVwZ-RR 2008, S. 719 ff. 26 Vgl. BVerfG, NVwZ 2002, S. 67 ff. 27 Krafczyk (Fn. 8), S. 178 m.w.N. 28 Vergleiche zu der Frage der Zulässigkeit der extensiven Auslegung bei den enger gefassten Tatbeständen umfassend Krafczyk, (Fn. 8), S. 69 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 9 haltsvorbehaltes aus. Erst wenn es dem Parlament unmöglich sei, einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, sei die Grenze zum Finanztabu überschritten.29 Hervorzuheben ist ferner die Rechtsprechung zur durch Volksgesetzgebung angestrebten Verfassungsänderung , die eine Einschränkung des Haushaltsvorbehaltes herbeiführen soll.30 Der BremStGH sah in der angestrebten Begrenzung des Anwendungsbereiches des Haushaltsvorbehaltes einen Verstoß gegen die Pflicht des Landes zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes nach Art. 109 Abs. 2 GG.31 Der BayVerfGH lehnte die Verfassungsänderung zur Einschränkung des Finanzvorbehaltes als unzulässig ab und führte zur Begründung an, das Budgetrecht des Parlamentes sei grundlegender Bestandteil der Bayerischen Verfassung und somit von der Ewigkeitsgarantie erfasst.32 Mit derselben Argumentation arbeitete der ThürVerfGH.33 Aus der Rechtsprechung folgt daher nicht nur die Zulässigkeit des Finanzvorbehaltes als solchem sondern sogar seine verfassungsrechtliche Gebotenheit. In der rechtswissenschaftlichen Literatur stehen sich im Gegensatz zur relativ einheitlichen Rechtsprechung zwei große Meinungsblöcke gegenüber: die Befürworter der engen und die Befürworter der weiten Auslegung. Allerdings erstrecken sich auch hier die Argumente im Wesentlichen auf das Gesagte.34 2.1.4. Reformen in Bremen, Berlin und Hamburg Die Reformen der Volksgesetzgebung in Bremen, Berlin und Hamburg können als Reaktion auf die extensive Auslegung des Haushaltsvorbehaltes durch die Rechtsprechung gewertet werden. In Bremen35 wurde der Finanzvorbehalt auf den laufenden Haushalt eingeschränkt. Volksentscheide , die sich auf künftige Haushaltspläne beziehen, werden ausdrücklich auch dann für zulässig erklärt, wenn diese finanzwirksam sind.36 Obwohl diese Formulierung ein Schritt hin zur Ausweitung der Volksgesetzgebung ist, wird dennoch das von der Rechtsprechung entwickelte Wesentlichkeitskriterium eingeführt („soweit diese die Struktur eines künftigen Haushaltes nicht wesentlich verändern“). Daher dürfte die Reform in Bremen wohl keine großen Änderungen bezogen auf finanzwirksame Abstimmungsgegenstände herbeiführen.37 29 SächsVerfGH, NVwZ 2003, S. 472 ff. 30 In den Jahren 2000 und 2001 in Bayern, Bremen und Thüringen. 31 BremStGH, NVwZ-RR 2001, S. 1 ff; Klatt (Fn. 8), S. 9. 32 BayVerfGH, NVwZ-RR 2000, 401 ff. 33 ThürVerfGH (Fn. 24). 34 Siehe hierzu ausführliche Darstellung zum Meinungsspektrum und zu den Argumenten der Literatur Klatt (Fn. 8), S. 12 ff. 35 Änderung durch das Gesetz zur Neuregelung des Volksentscheides vom 1. September 2009, Brem. GBL 2009, 311. 36 Art. 70 Abs. 2 S. 2 BremVerf. 37 Klatt (Fn. 8), S. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 10 In Berlin fand bereits im Jahr 2006 eine Reform statt.38 In Art. 62 BerlVerf heißt es nun: „Volksbegehren zum Landeshaushaltsgesetz […] sind unzulässig“. Im Gegensatz zu der Reform in Bremen wurde eine Änderung des Status quo sowohl vom Berliner Abgeordnetenhaus beabsichtigt als auch vom BerlVerfGH umgesetzt. In der Gesetzesbegründung des Art. 62 Abs. 2 BerlVerf heißt es, das Wort „Landeshaushalt“ werde in das Wort „Landeshaushaltsgesetz“ geändert, damit nun auch Volksabstimmungen zulässig sein können, welche Einnahmen und Ausgaben auslösen, da andernfalls weite Regelungsbereiche aus der direkten Demokratie ausgeschlossen wären und die Volksgesetzgebung gerade nicht weiter unter einen pauschalen Finanzvorbehalt gestellt werden soll.39 Dementsprechend änderte der BerlVerfGH seine Rechtsprechung und gab unter Beachtung der geänderten Verfassungslage das Wesentlichkeitskriterium auf.40 Ähnlich ist die Gesetzeslage in Hamburg seit der Reform im Jahr 2008.41 Der Begriff „Haushaltsangelegenheiten “ wurde durch den Begriff „ Haushaltspläne“ ersetzt. Dies könnte ebenfalls ein weitaus engeres Verständnis des Haushaltsvorbehaltes nach sich ziehen. Ob diese Reformen (v.a. in Berlin und Hamburg) verfassungsrechtlich zulässig sind oder gegen Art. 28 Abs. 1 S.1, 109 Abs. 2 GG oder die Ewigkeitsklausel verstoßen, wird seither in der rechtswissenschaftlichen Literatur diskutiert.42 2.2. Ausländische Staaten Von den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es lediglich in sechs Staaten kein Referendum auf nationaler Ebene. Dabei sind die direktdemokratischen Verfahren unterschiedlich ausgestaltet und haben verschiedene Anwendungsbereiche.43 Auch in anderen ausländischen Staaten gibt es Volksentscheide als Mittel der Gesetzgebung. Bezogen auf finanzwirksame Abstimmungsgegenstände , sind die Beispiele Schweiz und USA hervorzuheben, da sich die dortigen Systeme grundlegend von den Regelungen in den Bundesländern unterscheiden. 2.2.1. Schweiz Die Schweiz gilt vielfach als Musterbeispiel für direkte Demokratie.44 Volksgesetzgebung ist auf allen Ebenen des Staates (national, kantonal und kommunal) gelebte Praxis.45 Charakteristisch für 38 Durch das achte Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 25. Juni 2006, BerlGVOBl. vom 3. Juni 2006, S. 446 f. 39 Vgl. die Begründung zum Antrag vom 26. April 2006, Drs. 15/5038, S. 6. 40 BerlVerfGH, NVwZ-RR 2010, S. 169 ff. 41 Durch verfassungsänderndes Gesetz vom 16. Dezember 2008, HmbGVBl. vom 23. Dezember 2008, S. 431. 42 Siehe hierzu ausführlich und m.w.N. Klatt (Fn. 8), S. 35-43. 43 Siehe hierzu ausführlich , Direkte Demokratie in Europa und der BRD (Fn. 4); Hölscheidt/ Menzenbach, Referenden in Deutschland und Europa, DÖV 2009, S. 777 ff. 44 Marxer, Wilfried „Wir sind das Volk“: Direkte Demokratie – Verfahren, Verbreitung, Wirkung, Beiträge Lichtenstein -Institut Nr. 24/2004. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 11 die direkte Demokratie in der Schweiz ist die Tatsache, dass die (gleichberechtigte) Existenz der Volksgesetzgebung neben repräsentativen Elementen vollkommen unumstritten ist.46 Bereits seit der Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 ist das obligatorische Verfassungsreferendum vorgesehen. Im Lauf der Zeit wurden direktdemokratische Verfahren immer weiter ausgebaut.47 Ein Finanzreferendum ist auf der Bundesebene nicht vorgesehen. 1956 wurde die Einführung eines solchen durch eine Volksabstimmung abgelehnt. 1996 wurde die Idee im Rahmen der Totalrevision der Verfassung erneut aufgegriffen, jedoch letztendlich nicht übernommen.48 Es besteht jedoch die Möglichkeit eines finanzwirksamen obligatorischen Verfassungsreferendum, wenn verfassungsrechtliche Detailbestimmungen zur Steuer geändert werden. Auf der Ebene der Kantone ist ein Haushaltsvorbehalt oder Finanztabu, völlig unbekannt.49 Ein Referendum über Finanzfragen kann indirekt als Teil eines Gesetzesreferendums erfolgen, wenn durch das Gesetz selbst die Finanzierung des Gegenstandes mit geregelt wird. Darüber hinaus gibt es das direkte Finanzreferendum. Hierbei handelt es sich um ein Instrument zur Kontrolle der Finanzbeschlüsse des Parlamentes durch das Volk, sobald ein gewisses Budget überschritten wird.50 Solche Beschlüsse werden ausschließlich wegen ihrer Finanzwirksamkeit einem Referendum unterstellt. Dabei wird die Grenze für eine direktdemokratische Bestätigung der Finanzbeschlüsse danach festgesetzt, ob die betreffende Ausgabe einmalig (höher) oder wiederkehrend ist (niedriger).51 Diese Art des Finanzreferendums ist in den Kantonen unterschiedlich ausgestaltet; in einigen Kantonen handelt es sich um ein obligatorisches Referendum, in anderen Kantonen ist das Volk lediglich fakultativ hinzuzuziehen. Etwa die Hälfte der Kantone kombiniert das fakultative und obligatorische Finanzreferendum, je nach dem welches Wertlimit erreicht wird.52 45 Eder, Christina, Direkte Demokratie auf subnationaler Ebene – Eine vergleichende Analyse der unmittelbaren Volksrechte in den deutschen Bundesländern, den Schweizer Kantonen und den US-Bundesstaaten, 2010. 46 Tschentscher, Axel, Direkte Demokratie in der Schweiz, Länderbericht 2008/2009 in: Feld, Lars/Huber, Peter M./ Jung, Otmar/Welzel, Christian/Wittreck, Fabian, Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, S. 205-241, S. 218, S. 206. 47 Tschentscher (Fn. 46). 48 Tschentscher (Fn. 46), S. 207. 49 Eder (Fn. 45), S. 119. 50 Tschentscher (Fn. 46), S. 211. 51 Tschentscher (Fn. 46), S. 211. 52 Tschentscher (Fn. 46), S. 211. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 12 2.2.2. USA In den USA sind direktdemokratische Verfahren lediglich in den Gliedstaaten zu finden; auf Bundesebene werden Sachentscheidungen ausschließlich vom Parlament getroffen.53 Auf der Ebene der Gliedstaaten haben direktdemokratische Verfahren jedoch eine große Bedeutung, da die einzelnen Staaten umfangreiche – auch etatträchtige – Gesetzgebungskompetenzen haben. Hinsichtlich finanzwirksamer Abstimmungsgegenstände sind die Regelungen in den Bundesstaaten unterschiedlich ausgestaltet. Zum Teil existieren obligatorische Referenden für Staatsanleihen (Bond Referendum).54 Ein Haushaltsvorbehalt, wie er in den deutschen Bundesländern vorgesehen ist, existiert nicht. Gesetze, welche den Haushalt betreffen (sogar Detailfragen zum Umfang und zur Höhe verschiedener Steuern), können einem Referendum unterzogen werden.55 Als Beispiel lässt sich der Bundesstaat Kalifornien anführen, in dem die Möglichkeiten direkter Demokratie sehr vielfältig ausgestaltet sind und intensiv genutzt werden. Grundsätzlich gibt es im kalifornischen Recht drei Arten direktdemokratischer Instrumente. Zunächst können nach „Proposition 7: The Initiative and Referendum Amendment“56 Gesetzesinitiativen durch das Volk eingebracht werden. Dabei kann es sich um Vorschläge zur Ergänzung der Verfassung oder zur Änderung einfacher Gesetze handeln, wobei erstere ein höheres Quorum erfordern. Ist das Quorum erreicht, stimmt das Volk über den Gesetzesvorschlag ab.57 Wenn die Abstimmung mit einer Mehrheit für das Gesetz ausgeht, so ist dies sowohl für die Legislative als auch für den Gouverneur verbindlich. Ferner gibt es obligatorische und fakultative Referenden. Bevor ein verfassungsänderndes Gesetz, das bereits vom Staatsgouverneur von Kalifornien unterzeichnet wurde, oder ein Gesetz, das Anleihen betrifft, in Kraft treten kann, findet ein obligatorisches Referendum statt.58 Hierbei müssen mehr als 50 % der kalifornischen Bürger für das Gesetz stimmen . Schließlich können bereits von der Legislative eingeführte Gesetze durch ein Quorum von 5 % der Wahlbeteiligung der letzten Gouverneurswahl mit einem „referendum veto“ wieder abgeschafft werden. 33 % der Ausgaben des Staates Kalifornien in den Jahren 2009 bis 2010 gehen auf Entscheidungen in Volksabstimmungen zurück.59 Ungefähr die Hälfte aller erfolgreichen Gesetzesinitiativen hatte 53 Heußner, Hermann K., Direkte Demokratie in den US-Gliedstaaten im Jahr 2008 in: Feld, Lars P./Huber, Peter M./ Jung, Otmar/Welzel, Christian/Wittreck, Fabian, Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, Nomos 2010, S. 165-205, S. 165. 54 Heußner (Fn. 53), S. 168. 55 Heußner (Fn. 53), S. 175. 56 Abrufbar unter: http://ballotpedia.org/wiki/index.php/California_Proposition_7,_the_Initiative_%26_Referendum_Amendment_(Oct ober_1911). 57 Matsusaka, John G., A Case Study on Direct Democracy, in: The Book of The States 2010, S. 337 ff., S. 137. 58 Matsusaka (Fn. 57), S. 340. 59 Matsusaka (Fn. 57), S. 337. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 13 erheblichen Einfluss auf die Ausgaben des Staates oder seine Steuerregelungen.60 Die „Proposition 98“ für Bildung aus dem Jahre 1988 hat den Staat beispielsweise eine Summe von 34,66 Milliarden Dollar gekostet. 3. Europarechtliche und völkerrechtliche Grenzen direktdemokratischer Instrumente 3.1. Vorrang des Unionsrechts Grundsätzlich dürfen nationale Rechtsakte der Legislative, Judikative und Exekutive nicht gegen europarechtliche Regelungen verstoßen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um Primäroder Sekundärrecht handelt. Zusätzlich zu dieser Pflicht besteht ein Zwang, Richtlinien und auch Verordnungen der EU ordnungsgemäß umzusetzen bzw. das nationale Recht entsprechend anzupassen. Andernfalls können verschiedene Sanktionsmechanismen ausgelöst werden. Die gerichtliche Kontrolle zur Durchsetzung des Unionsrechts kann durch die gemeinschaftlichen Gerichte oder durch die nationalen Gerichte erfolgen. Der Europäischen Gerichtshof (EuGH) übt die Kontrolle über das Verhalten der Mitgliedstaaten, d.h. all seiner Organe, bei Klagen der Kommission und anderer Mitgliedsstaaten aus.61 Ein wichtiger Anwendungsbereich ist das Vertragsverletzungsverfahren , welches die Kommission bei Unionsrechtsverstößen durch einen Mitgliedstaat einleiten kann. Bei festgestellten Verstößen gibt es Sanktionsmechanismen, welche den verletzenden Mitgliedstaat treffen können, bspw. ein Zwangsgeld.62 3.2. Stellung des Völkerrechts Die innerstaatlichen Rechtswirkungen, die völkerrechtliche Regelungen nach sich ziehen, obliegen in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber. Er ist bei der Einräumung einer bestimmten Stellung der völkerrechtlichen Regelung im nationalen Normengefüge grundsätzlich frei.63 Etwas anderes kann gelten, wenn die Völkerrechtsnorm selbst eine bestimmte Stellung festlegt. Ist dies nicht der Fall, bleibt den nationalen Gesetzgebern ein großer Spielraum bezogen auf die Platzierung und Anwendung. Sollte es zu einer Kollision innerstaatlichen Rechts zu einer Völkerrechtsnorm kommen, ist für die Vorrangfrage die Stellung der völkerrechtlichen Norm entscheidend.64 Dies unterscheidet das Völkerrecht wesentlich vom Unionsrecht, welches eine klare Vorrangstellung einnimmt. In Deutschland steht Völkervertragsrecht (Art. 59 GG) auf dem Rang eines einfachen Bundesgeset- 60 Matsusaka (Fn. 57), S. 338. 61 Magiera, Siegfried in: Schulze, Reiner/Zuleeg, Manfred/Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Auflage 2010, § 13 Rn. 50. 62 Magiera (Fn. 61), § 13 Rn. 61. 63 Nettesheim, Martin in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.), Kommentar zum GG, 62. Lieferung 2011, Art. 59 Rn. 181. 64 Nettesheim (Fn. 63), Art. 59 Rn. 183. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 14 zes. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Völkergewohnheitsrecht, Art. 25 GG) stehen dagegen zwischen Bundesrecht und Verfassung.65 Im Völkergewohnheitsrecht gibt es zwingende Normen, von welchen nicht abgewichen werden darf (ius cogens). Verstoßen nationale Rechtsakte gegen Völkervertragsrecht, gilt nach herrschender Ansicht die Regel „lex posterior derogat legi priori“, d.h. ein späteres Gesetz verdrängt die früheren Gesetze.66 Dies folgt aus der Tatsache, dass Völkervertragsrecht den Rang eines Bundesgesetzes einnimmt. Auf Grund des völkerrechtsfreundlichen Verhaltens, ist jedoch die völkerrechtliche Regelung in die Auslegung einzubeziehen bzw. bei Spezialmaterien die Regelung „lex specialis derogat lex generalis“ zugunsten der Völkerrechtsnorm anzuwenden, wenn der parlamentarische Gesetzgeber keine ausdrücklich gegenteiligen Bestimmungen erlassen hat.67 Ist dies nicht möglich, verdrängt das neue Gesetz die vorherige Regelung. Ob hierdurch gegen einen völkerrechtlichen Vertrag verstoßen wird, berührt die innerstaatliche Wirksamkeit zunächst nicht. Will ein nationaler Rechtsakt von Völkergewohnheitsrecht abweichen , ist dies auch grundsätzlich möglich. Im Konfliktfall tritt jedoch der nationale Rechtsakt hinter der allgemeinen Regel des Völkerrechts zurück, da diese über Bundesrecht auf dem Rang von Unterverfassungsrecht steht.68 3.3. Volksgesetzgebung Fraglich ist, ob und ggf. wie es sich auswirken kann, wenn ein Gesetz nicht durch den parlamentarischen Gesetzgeber zustande gekommen ist, sondern in einem direktdemokratischen Verfahren. Kommt Bundes- oder Landesrecht durch Volksgesetzgebung zustande, ist dies europarechtlich zunächst irrelevant. Die EU hat keine Kompetenz zur Beschränkung oder Regelung direktdemokratischer Verfahren in den Mitgliedstaaten. Verfahrensrechtlich sind somit keine Grenzen direktdemokratischer Abstimmungsgegenstände im Anwendungsbereich des Europarechts denkbar. Eine materielle Grenze zieht das Europarecht jedoch dort, wo Gesetze – seien sie durch den parlamentarischen oder den Volksgesetzgeber entstanden – gegen primäres oder sekundäres Unionsrecht verstoßen. Wird in einem direktdemokratischen Verfahren ein Gesetz erlassen, welches gegen europäisches Primär- oder Sekundärrecht verstößt, ist es nicht anzuwenden, weil das europäische Recht Anwendungsvorrang genießt. Kommt ein Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nicht nach, etwa weil dies durch ein Referendum abgelehnt wird, liegt hierin ebenfalls ein Verstoß gegen das Unionsrecht, 65 Herdegen, Matthias in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.), Kommentar zum GG, 62. Lieferung 2011, Art. 25 GG Rn. 42. 66 Nettesheim (Fn. 63), Art. 59 Rn. 186. 67 Nettesheim (Fn. 63), Art. 59 Rn. 187. 68 Herdegen (Fn. 65), Art. 25 Rn. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 15 der zu Sanktionen führen kann. Ebenso verhält es sich mit der richtlinienwidrigen Änderung eines nationalen Gesetzes. Es besteht also kein Unterschied zwischen parlamentarischer und direktdemokratischer Gesetzgebung hinsichtlich möglicher Verstöße gegen europäisches Recht. Auch hinsichtlich etwaiger Verstöße gegen völkerrechtliche Regelungen bestehen dieselben Grenzen für parlamentarische und direktdemokratische Gesetzgebung. Diese sind jedoch schwieriger durchzusetzen. Hauptkonsequenz von Völkerrechtsverletzungen sind der Verlust außenpolitischer Reputation und die Schwächung der eigenen diplomatischen Beziehungen.69 Sollte es sich jedoch um einen Konfliktfall mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) handeln, besteht die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Abschließend lässt sich festhalten, dass für Gesetze, die durch direktdemokratische Verfahren zustande gekommen sind, dieselben europa- und völkerrechtlichen Grenzen gelten wie für parlamentarische Gesetze. Es kommt also nur auf den Inhalt eines Gesetzes an, nicht darauf, wie es zustande gekommen ist. 4. Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten Die Berücksichtigung von Menschen- und Minderheitenrechten im Rahmen direktdemokratischer Verfahren ist auf verschiedenen Ebenen denkbar. Welche Modelle hierzu existieren, wird nachfolgend beispielhaft für die deutschen Bundesländer sowie für die Schweiz auf Bundes- und kantonaler Ebene dargestellt. 4.1. Bundesländer Grundsätzlich ist es denkbar, Menschen- und Minderheitenschutz auf verschiedenen Ebenen direktdemokratischer Verfahren zu implementieren. Zum einen könnte eine Vorabkontrolle stattfinden , d.h. Volksinitiativen oder Volksbegehren würden bei vermuteten Verstößen bereits nicht zugelassen. Weiterhin ist eine Kontrolle im Nachhinein durch die zuständigen Gerichte denkbar, angelehnt an das Verfahren bei parlamentarischen Gesetzen. 4.1.1. Berlin Zunächst soll die Rechtslage in Berlin untersucht werden. Hier findet eine Vorabkontrolle der materiellen Zulässigkeit einer Volksinitiative und des Volksbegehrens nicht (mehr) statt. Im Mit- 69 Reich, Johannes, Direkte Demokratie und völkerrechtliche Verpflichtung im Konflikt – Funktionellrechtlich differenzierte Herstellung praktischer Konkordanz zwischen der Beachtung des Völkerrechts und konfligierenden Volksinitiativen im Schweizerischen Bundesverfassungsrecht, ZaöRV 2008, S. 979 ff, S. 1013 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 16 telpunkt steht dabei § 17 Abs. 1, Abs. 5 Berliner Abstimmungsgesetz (BerlAbstG).70 Danach prüft der für Inneres zuständige Senat den Antrag auf „die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Artikels 62 Abs. 1, 2 und 6 der Verfassung von Berlin und der §§ 10 bis 16“ des BerlAbstG. Die Voraussetzungen , auf die § 17 Abs. 1 BerlAbstG Bezug nimmt, sind formeller Art (Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin; Entscheidungszuständigkeit des Senates; richtiger Antrag etc.) mit Ausnahme der Regelung in Art. 62 Abs. 2 BerlVerf, § 16 Abs. 1 BerlAbstG, die den materiellen Haushaltsvorbehalt beinhaltet. Fraglich ist, ob eine materielle Prüfung verfassungsrechtlicher Art durch den Senator für Inneres vorgenommen werden darf, oder ob es sich um eine abschließende Aufzählung der Prüfungsgegenstände handelt. Diese Frage wurde vom BerlVerfGH in dem Verfahren 63/08 durch Urteil vom 6. Oktober 2009 geklärt. Das Volksbegehren zur Offenlegung sämtlicher Verträge im Kernbereich der Berliner Wasserwirtschaft hatte der Berliner Senat nach § 17 Abs. 5 S. 1 BerlAbstG für unzulässig erklärt mit der Begründung, das Volksbegehren verstoße gegen die Grundrechte der Investoren der Berliner Wasser Betriebe und gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Der BerlVerfGH urteilte, dass eine Auslegung des § 17 Abs. 1, Abs. 5 BerlAbsG nicht ergebe, dass der Senat zu einer umfassenden Vorabkontrolle berechtigt sei. Die Prüfungsgegenstände seien eindeutig abschließend aufgezählt, sodass eine materielle Prüfung allenfalls in Betracht käme, wenn durch das Volksbegehren in „eklatanter Weise tragende verfassungsrechtliche Prinzipien und Wertentscheidungen“71 verletzt würden. Zu dieser Auslegung gelangte der BerlVerfGH insbesondere unter Bezugnahme auf die alte Fassung der Norm (§ 17 Abs. 3 Nr. 2 a.F. BerlAbstG), die eine umfassende Prüfung des Volksbegehrens mit höherrangigem Recht vorsah. Im Ergebnis unterliegen daher durch Volksentscheid entstehende Gesetze in Berlin ebenso wie Parlamentsgesetze nur einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle auf Verstöße gegen höherrangiges Recht. Menschen- und Minderheitenrechte werden nicht in besonderer Weise geschützt. 4.1.2. Schleswig-Holstein Stellvertretend für eine beschränkte Vorabkontrolle bezogen auf die Einhaltung grundlegender Werte kann das Systems Schleswig-Holsteins genannt werden. Die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Volksinitiative wird nach § 8 Abs. 2 Volksabstimmungsgesetz Schleswig-Holstein (S-HVAbstG)72 vom Landtag getroffen. Nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 S-HVAbstG ist dabei auch Art. 41 Abs. 1 und 2 S-HVerf zu prüfen, der neben formellen Zuständigkeitsvoraussetzungen auch die materielle Tatbestandsvoraussetzung enthält, dass die Volksinitiative „den Grundsätzen des de- 70 Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vom 11. Juni 1997 (GVBl. S. 304), geändert durch Gesetz vom 20. Februar 2008 (GVBl. S. 22). 71 Hellriegel, Mathias/Schmitt, Thomas, LKV 2009, S. 515. 72 Gesetz über Initiativen aus dem Volk, Volksbegehren und Volksentscheid (Volksabstimmungsgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. April 2004 (GVOBl. Schl.-H. S. 108), geändert durch § 53 Abs. 2 des Gesetzes vom 10. Januar 2008 (GVOBl. Schl.-H. S. 25). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 17 mokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen“ darf. Hierin wird ein Verweis auf die Grundsätze des Art. 20 Abs. 1 GG gesehen.73 Das Demokratieprinzip ist mit einer Reihe von grundsätzlichen Werten verbunden, die folglich einer Vorabkontrolle von Volksinitiativen in Schleswig-Holstein zugänglich sind. So wird etwa aus dem Demokratieprinzip eine strikte Bindung aller Gewalten an die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet.74 Da die Mehrzahl der Menschenrechte Ausfluss der Menschenwürde sind, kann zumindest bei eklatanten Verstößen die Volksinitiative gestoppt werden. Das Sozialstaatsprinzip verankert den Grundsatz des sozialen Ausgleichs zugunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen75, sodass zumindest hierüber bestimmte Minderheiten erfasst werden können. Hält der Landtag die Volksinitiative für verfassungswidrig , können die Initiatoren nach § 9 Abs. 1 S-HVAbstG binnen eines Monats das Landesverfassungsgericht anrufen. 4.1.3. Bayern Eine stark ausgeprägte Vorabprüfung besteht in Bayern. Nach § 64 Abs. 1 S. 1 Landeswahlgesetz (BayLWG)76 ist das Staatsministerium des Inneren für Zulässigkeitsprüfung des Volksbegehrens zuständig. Nach § 64 Satz 2 BayLWG bezieht sich diese Prüfung auch auf unzulässige Verfassungsänderungen (Art. 75 Abs. 1 S. 2 BayVerf) oder eine verfassungswidrige Einschränkung der Grundrechte (Art. 98 BayVerf). Eine unzulässige Verfassungsänderung nach Art. 75 Abs. 1 S. 2 BayVerf liegt vor, wenn den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprochen wird. Hierzu zählt u.a. der Grundsatz der Menschenwürde (Art. 100 BayVerf).77 Weiterhin verweist § 64 Abs. 1 S. 1 BayLWG auf Art. 98 BayVerf, der die verfassungswidrige Einschränkung von Grundrechten verbietet. Dieser Artikel ist das Einfallstor zur Grundrechtsprüfung des Volksbegehrens . Da die bayerische Verfassung in den Art. 99 bis 123 Grund- (Menschen-) und auch Minderheitenrechte (z.B. Art. 118 a BayVerf – Menschen mit Behinderungen) regelt, ist die materiellrechtliche Prüfung des Volksbegehrens in großem Umfang möglich. Im Unterschied zu der (ähnlichen) Konzeption in Schleswig-Holstein, muss jedoch das Staatsministerium des Innern bei einem unzulässigen Volksbegehren nach § 64 Abs. 1 S. 1 BayLWG das Verfassungsgericht anrufen. 73 Friedersen, Gerald-Harald, Praxiskommentar zum VAbstG S-H, Stand November 2006, Einleitung 3.3. 74 Huster, Stefan/Rux, Johannes in Epping, Volker/Hillgruber, Christian (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar zum Grundgesetz, Stand vom 1. Juli 2011 (11. Edition), Art. 20 Rn. 49 f. 75 Huster/Rux (Fn. 74), Art. 20 Rn. 195. 76 Gesetz über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (Landeswahlgesetz - LWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Juli 2002 (GVBl S. 277; ber. S. 620, BayRS 111-1-I), zuletzt geändert durch § 1 des Gesetzes vom 26. Juli 2006 (GVBl S. 367). 77 Paptistella, Gertrud, Praxiskommentar der Kommunalverwaltung Bayern Verfassung, Stand August 2008, S. 105. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 18 4.1.4. Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt Die stärkste Ausprägung besteht in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt. Hier findet durch eine Vorabkontrolle nicht nur eine Prüfung der „Grundrechte“ wie in der bayerischen Regelung statt; das Volksbegehren darf „dem Grundgesetz, sonstigem Bundesrecht und der Landesverfassung nicht widersprechen“ (§ 11 Sachsen-anhaltinisches Volksabstimmungsgesetz78, Art. 81 SAVerf; § 27 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 3 baden-württembergisches Abstimmungsgesetz79). Durch eine solche Regelung wird das gesamte nationale sowie das Völkerrechts in die Vorabkontrolle einbezogen . 4.2. Schweiz Die Schweiz hat im November 2009 mit ihrer erfolgreichen Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ die Notwendigkeit von Schutzmechanismen zugunsten von Minderheiten sowie eines Systems zur Gewährleistung der Menschenrechte im Rahmen von Volksabstimmungen aufgezeigt . In der Schweiz kann grundsätzlich jedes in einer Verfassungsnorm formulierbare Anliegen Gegenstand einer Volksinitiative sein. Dabei hat die Bundesversammlung nach Art. 99 ParlG80 keinerlei Einfluss auf den Inhalt der Initiative. Sie hat gem. Art. 139 Abs. 5 BV81 lediglich ein Recht zur inhaltlichen Stellungnahme zu jeder Volksinitiative, wobei sie eine Empfehlung zur Annahme oder zur Ablehnung aussprechen muss. Die Bundesversammlung kann eine Volksabstimmung , die auf einer Volksinitiative beruht, nur verhindern, indem sie diese für ungültig erklärt. Eine nachträgliche richterliche Kontrolle der Entscheidung der Bundesversammlung über die Gültigkeit findet allerdings nicht statt.82 Auch nach Annahme der Volksinitiative steht kein Rechtsweg zur Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit offen.83 Mögliche Ungültigkeitsgründe sind im Bundesgesetz über die politischen Rechte abschließend aufgezählt. Art. 75 Abs. 1 des BPR84 bestimmt, dass eine Volksinitiative für ganz oder teilweise ungültig zu erklären ist, wenn sie (1) die Einheit der Materie, (2) die Einheit der Form oder (3) zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt. Einfallstor für den Schutz von Menschen- 78 Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Volksabstimmungsgesetz - VAbstG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Oktober 2005 (GVBl. LSA 2005, 657). 79 Gesetz über Volksabstimmung und Volksbegehren (Volksabstimmungsgesetz - VAbstG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Februar 1984 (GBl. 1984, 177). 80 Bundesgesetz über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) vom 13. Dezember 2002 (Stand am 1. Mai 2011), abrufbar unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/1/171.10.de.pdf. 81 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 1. Januar 2011), abrufbar unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/101/a139.html. 82 Biaggini, Giovanni, Die schweizerische direkte Demokratie und das Völkerrecht, ZÖR 2010, S. 325 ff, S. 329. 83 Nolte, Jakob, Kann der Souverän rechtswidrig handeln?, DÖV 2010, S. 806 ff. S. 813. 84 Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 17. Dezember 1976 (Stand am 1. Februar 2010), abrufbar unter: http://www.admin.ch/ch/d/sr/161_1/a75.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 19 rechten im allgemeinen und von Minderheiten im Besonderen kann hier nur das zwingende Völkerrecht sein. Fraglich ist demnach, was hierunter zu verstehen ist. Der Begriff zwingendes Völkerrecht „ius cogens“ stammt aus dem Völkerrecht selbst und ist dort nicht eindeutig bestimmt. Darunter sollen Regelungen zu fassen sein, die – unabhängig von vertraglichen Vereinbarungen – von der internationalen Staatengemeinschaft gewohnheitsrechtlich anerkannt und in jedem Fall zwingend sind. In jedem Fall gehört ein Kern an Regeln dazu, der das Verbot des Angriffskrieges sowie zentrale Menschenrechtsgarantien wie das Verbot von Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung und Völkermord umfasst.85 Vertreten wird auch ein darüber hinaus gehendes Verständnis , welches auch unkündbare völkerrechtliche Verpflichtungen zum zwingenden Völkerrecht zählt.86 Allerdings orientiert sich die Schweiz in der Praxis an der engeren Auslegung. Daher führt die Unvereinbarkeit einer Volksinitiative mit verfassungsmäßig garantierten Individualrechten oder mit sonstigen tragenden Grundwerten der Verfassungsordnung nicht zu einer Ungültigkeit.87 Eine Volksinitiative, die gegen einfaches (also nicht zwingendes) Völkerrecht oder gegen grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung verstößt, wird trotzdem zur Volksabstimmung zugelassen. Im Ergebnis stehen und fallen damit der Minderheitenschutz sowie die Gewährleistung der Menschenrechte mit dem Abstimmungsverhalten der Schweizer Stimmberechtigten , denen die Verantwortung für die Weiterentwicklung der Schweizer Verfassung vollständig überlassen ist.88 Dies hat in der Vergangenheit bereits mehrfach zu befremdlichen Ergebnissen geführt. Die Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ verstößt gegen Art. 9 und 14 EMRK. Ferner steht sie im Widerspruch zu international garantierten Menschenrechten89 und zahlreichen grundlegenden Verfassungsbestimmungen, wie Art. 8, 15, 26 und 5 BV.90 Trotz intensiver Diskussion und Kritik auf internationaler Ebene wurde ein entsprechendes Bauverbot nach Zustimmung durch 57,5% der Beteiligten in Art. 72 Abs. 3 Bundesverfassung kodifiziert.91 Weitere Beispiele sind die Initiative „Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch“, die schließlich von ihren Initiatoren zurückgezogen wurde, bevor es zu einer Abstimmung kam92 sowie die Volksinitiative „Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter “. Letztere wurde in der Volksabstimmung 2004 angenommen und ist nunmehr in Art. 123 a 85 Nolte (Fn. 83), S. 810. 86 Nolte (Fn. 83), S. 811 m.w.N. 87 Biaggini (Fn. 82), S. 329. 88 Nolte (Fn. 83), S. 811. 89 Insb. gegen Art. 2 und 18 des Internationalen Paktes vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische rechte, abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/360794/publicationFile/3613/IntZivilpakt.pdf; s. hierzu auch , Minarettverbot in der Schweiz, Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 444/09, S. 13 ff. 90 Biaggini (Fn. 82), S. 333. 91 Biaggini (Fn. 82), S. 327. 92 Tschentscher, Axel/Blonski, Dominika in Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, Direkte Demokratie in der Schweiz – Länderbericht 2009/2010, S. 169 ff., S. 173f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 320/11 Seite 20 BV normiert, obwohl sie in Widerspruch zu der in Art. 5 Abs. 4 EMRK kodifizierten Garantie auf gerichtliche Überprüfung des Freiheitsentzugs steht. In den Kantonen gelten allerdings andere Regeln für direktdemokratische Instrumente. Der Normenhierarchie nach stehen kantonale Initiativen stets unter dem Bundesrecht, sodass sie nicht gegen dieses verstoßen dürfen. Daher prüft z.B. in Zürich nach Art. 28 Abs. 1 b und Abs. 3 KV-ZH93 der Kantonsrat mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit die Vereinbarkeit einer Volksinitiative mit der Bundesverfassung, um über ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit zu befinden. Zusätzlich haben alle Stimmberechtigten des Gemeinwesens ein Recht auf gerichtliche Kontrolle der Gültigkeit einer Volksinitiative, bevor der Gegenstand zur Abstimmung zugelassen wird.94 In manchen Kantonen ist allerdings keine vorrangige Überprüfung aller Volksinitiativen auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht hin vorgesehen. Hier ist der Rechtsweg dann erst nach der Annahme der Initiative zu Abstimmung eröffnet.95 93 Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005, abrufbar unter: http://www.admin.ch/ch/d/ff/2005/5243.pdf. 94 Tschentscher/Blonski (Fn. 92), S. 188. 95 Tschentscher/Blonski (Fn. 92), S. 188.