Kinderrechte in die Verfassung - Ergänzung zur Ausarbeitung WF III G - 264/04 - - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 3 - 317/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Kinderrechte in die Verfassung - Ergänzung zur Ausarbeitung WF III G - 264/04 - Ausarbeitung WD 3 - 317/06 Abschluss der Arbeit: 07.09.2006 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - In den letzten Jahren gab es Änderungen in den Landesverfassungen hinsichtlich spezieller Kinderrechte in den Bundesländern Bayern, Bremen und Nordrhein- Westfalen. Das letzte gesetzgeberische Verfahren zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz erfolgte in der 14. Wahlperiode auf Antrag der Fraktion der PDS und endete erfolglos. Die Übernahme der speziellen Kinderrechte, die in Artikel 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten sind, in das Grundgesetz würde im Hinblick auf private Dritte eine zusätzliche Wirkung entfalten. Im Verhältnis zu den Eltern und zum Staat würde eine Übernahme wegen des nach dem Grundgesetz bereits bestehenden Schutzes der Kinder sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraussichtlich eher geringe praktische Auswirkungen zeigen. Eine Änderung des Art. 6 Abs. 2 GG, wie sie von der Konferenz der Jugendministerinnen und Jugendminister, Jugendsenatorinnen und Jugendsenatoren am 12. Juni 1992 in Potsdam vorgeschlagen wurde, hätte voraussichtlich kaum praktische Auswirkungen , da im Wesentlichen nur der bereits nach dem Grundgesetz bestehende Schutz der Kinder sowie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt würden. Bisher waren es weniger Einzelpersonen, sondern vielmehr Parteien und verschiedene Gremien, Verbände und gesellschaftspolitisch aktive Gruppen und Vereinigungen, die sich für oder gegen die Aufnahme spezieller Grundrechtsbestimmungen für Kinder eingesetzt haben. Engagierte Persönlichkeiten sind zumeist im Rahmen dieser Aktivitäten in Erscheinung getreten. Die Argumentation der Befürworter zielt dabei im Kern auf einen verbesserten Schutz der Kinder ab. Die Gegner der Aufnahme von speziellen Kinderrechten in die Verfassung weisen insbesondere auf den bereits bestehenden allgemeinen Schutz der Kinder durch das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, der ausreichend sei. Inhalt 1. Einleitung 4 2. Kinderrechte in den Verfassungen der Bundesländer 4 3. Stand der gesetzgeberischen Initiativen seit der 14. Wahlperiode 10 4. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung in zwei Fallgestaltungen 10 4.1. Aktuelle Bedeutung der Kinderrechte in der Verfassung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 10 4.2. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung nach dem Vorbild des Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta 12 4.2.1. Schutz- und Fürsorgeanspruch nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta 13 4.2.2. Meinungsäußerungs- und Berücksichtigungsrechte nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 und 3 Grundrechtecharta 14 4.2.3. Erwägungspflicht in Art. 24 Abs. 2 Grundrechtecharta 14 4.2.4. Anspruch auf persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen nach Art. 24 Abs. 3 Grundrechtecharta 15 4.3. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung gemäß des Vorschlags der Jugendministerkonferenz vom 12. Juni 1992 16 4.3.1. Satz 1 des Vorschlags der Jugendministerkonferenz 16 4.3.2. Satz 4 des Vorschlags der Jugendministerkonferenz 16 5. Zur politischen und gesellschaftlichen Diskussion einer Verfassungsänderung zugunsten der Kinderrechte in den letzten Jahren 17 5.1. Wer hat sich bereits für oder gegen eine Verfassungsänderung zugunsten der Kinderrechte eingesetzt? 17 5.2. Wie verlaufen die Argumentationslinien? 19 - 4 - 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung enthält eine Ergänzung zur Ausarbeitung „WF III G - 264/04 – Kinderrechte in die Verfassung“. Neben der Aktualisierung der verfassungsrechtlichen Lage in den Bundesländern wird eine Erweiterung vorgenommen, die sich mit der Aufnahme bestimmter Regelungen in das Grundgesetz sowie der aktuellen Diskussion auseinandersetzt. 2. Kinderrechte in den Verfassungen der Bundesländer Die nachstehende tabellarische Übersicht bringt die in der Ausarbeitung „WF III G – 264/04: Kinderrechte in die Verfassung“ enthaltenen Informationen auf einen neuen Stand.1 In den letzten Jahren sind in den Bundesländern Bayern, Bremen und Nordrhein -Westfalen Neuerungen zu Kinderrechten in die Landesverfassungen aufgenommen worden. Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung Baden- Württemberg Allgemeine Regelungen zu Fragen von Erziehung und Unterricht finden sich in Art. 11 ff. sowie in Art. 20 und Art. 21 der Verfassung Bayern Art. 125 [Kinder] (1) Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes. Sie haben Anspruch auf Entwicklung zu selbstbestimmungsfähigen und verantwortungsfähigen Persönlichkeiten . Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates. (2) Die Reinhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist gemeinsame Aufgabe des Staates und der Gemeinden. (3) Kinderreiche Familien haben Anspruch auf angemessene Fürsorge, insbesondere auf gesunde Wohnungen . Unberührt von der Verfassungsänderung bleiben allgemeine, bereits bestehende Regelungen zu Bildung und Schule (Art. 128 ff.). 1 Einheitlicher Stand der Verfassungen ist der 1. November 2004. Die Texte sind entnommen der Textsammlung von Pestalozza, Christian, „Verfassungen der deutschen Bundesländer“, 8. Aufl., München 2005. - 5 - Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung Art. 126 [Erziehungsrecht und –pflicht der Eltern, nichteheliche Kinder, Jugendschutz] (1) Die Eltern haben das natürliche Recht und die oberste Pflicht, ihre Kinder zur leiblichen, geistigen und seelischen Tüchtigkeit zu erziehen. Sie sind darin durch Staat und Gemeinden zu unterstützen . In persönlichen Erziehungsfragen gibt der Wille der Eltern den Ausschlag. (2) Uneheliche Kinder haben den gleichen Anspruch auf Förderung wie eheliche Kinder. (3) Kinder und Jugendliche sind durch staatliche und gemeindliche Maßnahmen und Einrichtung gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung und gegen Misshandlung zu schützen. Fürsorgeerziehung ist nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig. Berlin Art. 12 Abs. 7 enthält das Gebot, Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen; im Übrigen keine Kinderrechte. Brandenburg Art. 27 [Schutz und Erziehung von Kindern und Jugendlichen ] (1) Kinder haben als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde. (2) Eltern haben das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder. (3) Kinder genießen in besonderer Weise den Schutz von Staat und Gesellschaft. Wer Kinder erzieht, hat Anspruch auf angemessene staatliche Hilfe und gesellschaftliche Rücksichtnahme. (4) Kindern und Jugendlichen ist durch Gesetz eine Rechtsstellung einzuräumen, die ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit durch die Anerkennung zunehmender Selbstständigkeit gerecht wird. (5) Kinder und Jugendliche sind vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen. Wird das Wohl von Kindern oder Jugendlichen gefährdet, insbesondere durch Versagen der Erziehungsberechtigten, hat das Gemeinwesen die erforderlichen Hilfen zu gewährleisten und die gesetzlich geregelten Maßnahmen zu ergreifen. (6) Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände fördern, unabhängig von der Trägerschaft, Kindertagesstätten und Jugendfreizeiteinrichtungen. - 6 - Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung (7) Jedes Kind hat nach Maßgabe des Gesetzes einen Anspruch auf Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung in einer Kindertagesstätte. (8) Kinderarbeit ist verboten. Bremen Art. 25 [Schutz der Jugend] (1) Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen . (2) Es ist Aufgabe des Staates, die Jugend vor Ausbeutung und vor körperlicher, geistiger und sittlicher Verwahrlosung zu schützen. (3) Fürsorgemaßnahmen, die auf Zwang beruhen, bedürfen der gesetzlichen Grundlage. Daneben verschiedene allgemeine Regelungen, insbesondere zu Familie Erziehung, Bildung und Arbeitsbedingungen (Art.. 21 ff., 26 ff., 52 und 54). Hamburg Keine Kinderrechte Keine Kinderrechte Hessen Verschiedene allgemeine Regelungen, vor allem zu Familie, Arbeitsbedingungen , Erziehung und Schule (Art. 4, 18, 30, 55 ff.). Mecklenburg- Vorpommern Art. 14 [Schutz der Kinder und Jugendlichen] (1) Kinder genießen als eigenständige Personen den Schutz des Landes, der Gemeinden und Kreise vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung. (2) Land, Gemeinden und Kreise wirken darauf hin, dass für Kinder Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen. (3) Kinder und Jugendliche sind vor Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung zu schützen . Niedersachsen Keine Kinderrechte Keine Kinderrechte - 7 - Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung Nordrhein- Westfalen Art. 6 [Kinder und Jugendliche] (1) Jedes Kind hat ein Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständige Persönlichkeit und auf besonderen Schutz von Staat und Gesellschaft (2) Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Staat und Gesellschaft schützen sie vor Gefahren für ihr körperliches , geistiges und seelisches Wohl. Sie achten und sichern ihre Rechte, tragen für altersgerechte Lebensbedingungen Sorge und fördern sie nach ihren Anlagen und Fähigkeiten. (3) Allen Jugendlichen ist die umfassende Möglichkeit zur Berufsausbildung und Berufsausübung zu sichern . (4) Das Mitwirkungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege in den Angelegenheiten der Familienförderung , der Kinder- und Jugendhilfe bleibt gewährleistet und ist zu fördern. In der Verfassung finden sich überdies allgemeine Regelungen zu Familie, Jugend, Schule und Arbeitslohn für Jugendliche (Art. 5, 7 ff. und 24). Rheinland- Pfalz Art. 24 [Kinder] Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung . Die staatliche Gemeinschaft schützt und fördert die Rechte des Kindes. Nicht eheliche Kinder haben den gleichen Anspruch auf Förderung wie eheliche Kinder. Kinder genießen besonderen Schutz insbesondere vor körperlicher und seelischer Misshandlung und Vernachlässigung . Art. 25 [Eltern, Jugend] (1) Die Eltern haben das natürliche Recht und die oberste Pflicht, ihre Kinder zur leiblichen, sittlichen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu erziehen. Staat und Gemeinden haben das Recht und die Pflicht, die Erziehungsarbeit der Eltern zu überwachen und zu unterstützen. (2) Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche , geistige und körperliche Verwahrlosung durch staatliche und gemeindliche Maßnahmen und Einrichtungen zu schützen. (3) Fürsorgemaßnahmen im Wege des Zwanges können nur auf gesetzlicher Grundlage angeordnet werden, wenn durch ein Versagen des Erziehungsberechtigten oder aus anderen Gründen das Wohl des Kindes gefährdet wird. Daneben verschiedene allgemeine Bestimmungen , insbesondere zu Erziehung und Schule in Art. 26 ff. - 8 - Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung Saarland Art. 24 [Erziehung, nichteheliche Kinder] (1) Die Pflege und die Erziehung der Kinder zu leiblichen , geistigen, seelischen sowie zur gesellschaftlichen Tüchtigkeit sind das natürliche Recht der Eltern und die vorrangig ihnen obliegende Pflicht. Sie achten und fördern die wachsende Fähigkeit der Kinder zu selbstständigem und verantwortlichem Handeln. Bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder genießen sie den Schutz und die Unterstützung des Staates. (2) Der Staat wacht darüber, dass das Kindeswohl nicht geschädigt wird. Er greift schützend ein, wenn die Eltern ihre Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder gröblich vernachlässigen oder ihr Erziehungsrecht durch Gewalt oder in sonstiger Weise missbrauchen. (3) Den nichtehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre persönliche Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Art. 25 [Schutz der Jugend] (1) Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen leibliche , geistige oder sittliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinden haben die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen. Ihre Aufgaben können durch Einrichtungen der freien Wohlfahrt wahrgenommen werden, die als gemeinnützig anerkannt sind. (2) Fürsorgemaßnahmen im Wege des Zwanges sind nur auf Grund des Gesetzes zulässig. Daneben allgemeine Bestimmungen zu Erziehung und Schule in Art. 26 ff. Sachsen Art. 9 [Kinder, Jugendliche] (1) Das Land erkennt das Recht eines jeden Kindes auf eine gesunde seelische, geistige und körperliche Entwicklung an. (2) Die Jugend ist vor sittlicher, geistiger und körperlicher Gefährdung besonders zu schützen. (3) Das Land fördert den vorbeugenden Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche sowie Einrichtungen zu ihrer Betreuung. Überdies einige allgemeine Bestimmungen in Art. 22 [Ehe und Familie ], Art. 28 [Beruf, Arbeitsplatz , Arbeit] und Art. 30 [Unverletzlichkeit der Wohnung] der Landesverfassung. - 9 - Bundesland Detailliertere Regelungen in der Verfassung Allgemeine Regelungen in der Verfassung Sachsen- Anhalt Art. 11 [Eltern und Kinder] (1) Pflege und Erziehung der Kinder unter Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (2) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Art. 24 [Schutz von Ehe, Familie und Kindern] (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. (2) Wer in häuslicher Gemeinschaft für Kinder oder Hilfsbedürftige sorgt, verdient Förderung und Entlastung . Das Land und die Kommunen wirken insbesondere darauf hin, dass für die Kinder angemessene Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen . (3) Kinder genießen den besonderen Schutz des Staates vor körperlicher und seelischer Misshandlung und Vernachlässigung. (4) Jugendliche sind vor Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung zu schützen. Allgemeine Bestimmungen zu Bildung und Schule in Art. 25 ff.. Schleswig- Holstein Allg. Regelungen des Schulwesens (Art. 8). Thüringen Art. 19 [Rechte und Schutz von Kindern und Jugendlichen ] (1) Kinder und Jugendliche haben das Recht auf eine gesunde geistige, körperliche und psychische Entwicklung . Sie sind vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und Gewalt zu schützen. (2) Nichtehelichen und ehelichen Kindern und Jugendlichen sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung und ihre Stellung in der Gemeinschaft zu schaffen und zu sichern. (3) Das Land und seine Gebietskörperschaften fördern Kindertageseinrichtungen, unabhängig von ihrer Trägerschaft. (4) Das Land und seine Gebietskörperschaften fördern den vorbeugenden Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche. Daneben einige allgemeine Bestimmungen, u. a. zu Bildung und Schule (Art. 17 f. und Art. 20 ff.). - 10 - 3. Stand der gesetzgeberischen Initiativen seit der 14. Wahlperiode In der 14. Wahlperiode ergriff die Fraktion der PDS im Bundestag eine Initiative zur Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung. Der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 6, Kinderrechte)“2 vom 12. Dezember 2001 orientierte sich im Wesentlichen an den Vorschlägen der Landesjugendministerkonferenz von 1992 und der gemeinsamen Verfassungskommission.3 Der Gesetzentwurf wurde am 1. Februar 2002 im Bundestag in erster Lesung beraten und an den Rechtsausschuss (federführend) sowie weitere Ausschüsse überwiesen.4 Bis zum Ende der Wahlperiode kam es allerdings nicht mehr zu einer Beschlussempfehlung. In der 15. und der laufenden 16. Wahlperiode sind bis August 2006 keine weiteren Gesetzgebungsverfahren zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz betrieben worden. 4. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung in zwei Fallgestaltungen Bevor die Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung anhand zweier Fallgestaltungen umrissen5 werden, wird zunächst kurz auf die aktuelle Bedeutung der Kinderrechte in der Verfassung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eingegangen. 4.1. Aktuelle Bedeutung der Kinderrechte in der Verfassung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung des Kindes Recht und Pflicht der Eltern.6 Dem Kind wird durch die das Elternrecht garantierende Verfassungsnorm 2 BT-Drs. 14/7818 3 Siehe hierzu die Ausarbeitung WF III G – 264/04, Punkt 3.1. 4 BT-Prot. 14/216, S. 21446 B ff., 21455 C 5 Aufgrund der vielfältigen Lebensbereiche, die von Kinderrechten in der Verfassung potenziell betroffen sind, kann im Rahmen dieser Ausarbeitung nur auf die Grundzüge eingegangen werden. 6 Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, Loseblattsammlung, Bd. I, 43. Liefg., Köln 2005, Art. 6 Rn. 556. - 11 - des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kein eigenes Grundrecht zugewiesen.7 Dieser Umstand hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt dazu veranlasst, auf die Rechte des Kindes in seiner Rechtsprechung hinzuweisen. So hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 29. Juni 1968 ausgeführt, dass „das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf den Schutz des Staates hat. Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Artikel 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG.“8 Nach der Auffassung des obersten deutschen Gerichts dient darüber hinaus das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG dem Wohl des Kindes. Sein Schutz umfasst die – durch das Gesetz zu formende – „treuhänderische“ Wahrnehmung der Belange des Kindes.9 Das Kind bedarf hierbei des Schutzes und der Hilfe der Eltern und ggf. des Staates, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft gemäß Art. 2 GG entfalten zu können. Die Elternrechtsbestimmung des Art. 6 Abs. 2 GG ist demzufolge nicht nur – wie alle übrigen Grundrechte auch – eine grundrechtliche Ausgestaltung des Menschenwürdeschutzes auf Basis des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern eine spezifische Adaption der Menschenwürde für die besondere Situation des Kindes.10 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts „beruht auf dem Grundgedanken , dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution.“ Gleichwohl eröffnet Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, konkretisiert durch Art. 6 Abs. 3 GG, nicht nur eine reine Kontroll- und Überwachungsfunktion des Staates im Hinblick auf die kindgerechte Ausübung des Elternrechts , sondern auch staatliche Interventionsmöglichkeiten und -pflichten in Gestalt einer Grenze des Elternrechts, beispielsweise im Falle der Überschreitung der Elternrechtsgrenzen durch einen das Kindeswohl beeinträchtigenden Missbrauch.11 Allerdings 7 Badura in Maunz/Dürig, Kommentar z. GG, Bd. II, Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 94. 8 BVerfGE 24, S. 119, 144. 9 Badura in Maunz, Theodor / Dürig, Günter, Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Band II, Art. 6 – 16a, 44. Lieferung, München 2005 (zit.: Bearbeiter in Maunz/Dürig), Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 94. 10 Jestaedt in Dolzer, Rudolf (Gesamtherausgeber) u. a., Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung , Band 3, Heidelberg 1950 Grundwerk (zit.: Bearbeiter in Bonner Kommentar), Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 51. 11 Umbach in Umbach, Dieter C. / Clemens, Thomas, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch , Band 1, Art. 1 bis 37 GG, Heidelberg 2002 (zit.: Bearbeiter in Umbach/Clemens), Art. 6 Rn. 78. - 12 - gilt für die Gesetzgebung und für das Eingreifen des staatlichen Wächteramtes im Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.12 Bei Entscheidungen des Gesetzgebers bildet das Wohl des Kindes immer die Richtschnur .13 Das Elternrecht ist im Wesentlichen ein Recht im Interesse des Kindes.14 Dem entspricht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass mit abnehmender Pflege - und Erziehungsbedürftigkeit des Kindes die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse zurückgedrängt werden, bis sie schließlich mit der Volljährigkeit des Kindes erlöschen.15 Der Wille des Kindes ist jedoch bereits vor Vollendung der Volljährigkeit immer dann zu berücksichtigen, wenn er mit dessen Wohl vereinbar ist. Allerdings kann von einem Kindeswillen als einer „freien Entscheidung“ des Kindes etwa dann keine Rede sein, wenn sich ein Sechsjähriger, der weitgehend unter dem Einfluss seiner Eltern handelt, gegen die allgemeine Schulpflicht und den Besuch der Schule entscheiden will.16 Es ist jedoch unbestritten, dass älteren Kindern ein größerer Bereich von Selbstständigkeit zukommt als jüngeren. Diesen wachsenden Freiraum zur Entfaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu garantieren, ist legitime Aufgabe der staatlichen Rechtsordnung . So ist eine Regelung, die beispielsweise die Religionsmündigkeit von Jugendlichen auch im Verhältnis zu den Eltern vor Erreichen der Volljährigkeit begründet, ein Ausdruck dafür, dass mit zunehmendem Alter den Kindern eigene Wahrnehmungsrechte unabhängig von der elterlichen Zustimmung zuwachsen.17 4.2. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung nach dem Vorbild des Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta Die am 7. Dezember 2000 in Nizza unterzeichnete und proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält in Artikel 24 folgende Regelungen: 18 12 Umbach in Umbach/Clemens, Art. 6 Rn. 78. 13 Badura in Maunz/Dürig, Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 94. 14 Badura in Maunz/Dürig, Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 94. 15 Badura in Maunz/Dürig, Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 94. 16 Jestaedt in Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 51. 17 Robbers in Mangoldt, Hermann von / Klein, Friedrich, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1, Präambel, Art. 1 bis 19, 5. Auflage, München 2005 (zit.: Bearbeiter in v. Mangoldt), Art. 6 Abs. 2, Rn. 159. 18 Veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 18.12.2000, C 364/1, Fundstelle im Internet: http://www.bmj.bund.de/media/archive/358.pdf (Stand: 31.08.2006). - 13 - (1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. (2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. (3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist Bestandteil des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten der EU unterzeichnet worden ist.19 Der Verfassungsvertrag ist jedoch bislang nicht in Kraft getreten; die dafür erforderlichen nationalen Ratifizierungsverfahren dauern noch an. Diese Regelungen hätten bei einer entsprechenden Aufnahme ins Grundgesetz die nachfolgend beschriebenen generellen Auswirkungen. 4.2.1. Schutz- und Fürsorgeanspruch nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta Der Schutz- und Fürsorgeanspruch nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta verpflichtet zu aktivem Handeln, also dazu, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, wenn das Wohl von Kindern beeinträchtigt zu werden droht oder bereits beeinträchtigt ist.20 Es müssen daher wirksame Regelungen geschaffen werden, damit Schutz und Fürsorge gewährleistet sind.21 Einen konkreten Maßstab für das allgemeine Gebot liefert die Formulierung in Art. 24 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta allerdings nicht.22 Wie zuvor ausgeführt, besitzen Kinder auch nach der bereits jetzt bestehenden Verfassungslage sowohl gegenüber ihren Eltern wie auch dem Staat eine entsprechende Rechtsposition. Es existieren zudem einfachgesetzliche Regelungen in Deutschland, die 19 Art. 24 ist identisch mit Art. II-84 des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der zudem in Art. I-3 Abs. 3 und 4 allgemein den Schutz der Kinder betont. 20 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Jürgen (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar , 2. Aufl., Baden-Baden 2006 (zit.: Bearbeiter in Meyer), Art. 24, Rn. 18. 21 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 18. 22 Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 18. - 14 - diesem Ziel verpflichtet sind.23 Die Aufnahme in das Grundgesetz hätte daher im Wesentlichen nur eine klarstellende bzw. bekräftigende Wirkung. 4.2.2. Meinungsäußerungs- und Berücksichtigungsrechte nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 und 3 Grundrechtecharta Die Meinungsäußerungsfreiheit ist in Deutschland bereits durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG umfassend geschützt, so dass eine zusätzliche Aufnahme als spezielles Kinderrecht in die Verfassung entbehrlich ist und lediglich wiederholenden Charakter hätte. In einem solchen Falle müsste zudem die Bestimmung des Art. 5 Abs. 2 GG entsprechend hinzugenommen (bzw. auf sie verwiesen) werden, nach der die Meinungsäußerungsfreiheit bestimmten Schranken unterliegt. Die Berücksichtigungspflicht der Meinungsäußerungen von Kindern in Art. 24 Abs. 1 S. 3 der Charta stärkt die Freiheit der Meinungsäußerung um einen wichtigen Aspekt, indem sie der besonderen Situation der heranwachsenden Kinder gerecht wird und auf ihr Alter und ihren Reifegrad abstellt.24 Sie umfasst die Pflicht, sich mit der Kindesmeinung auseinanderzusetzen und sie in den Erkenntnisprozess einzubeziehen.25 In die Pflicht genommen werden öffentliche und private Institutionen, da sie ohne Eingrenzung auf sämtliche Angelegenheiten bezogen ist, die Kinder betreffen. 26 Wie weiter oben ausgeführt, sind in Deutschland diese Rechte allerdings schon sehr weitgehend gewährleistet, soweit Eltern und staatliche Institutionen betroffen sind. Inwieweit sich die Lage von Kindern durch die Aufnahme einer ausdrücklichen Grundrechtsbestimmung gegenüber privaten Dritten im Alltag zusätzlich verbessern würde, lässt sich nicht genau abschätzen. 4.2.3. Erwägungspflicht in Art. 24 Abs. 2 Grundrechtecharta Eine Besonderheit ist die Erwägungspflicht in Art. 24 Abs. 2 der Charta, da durch diese Norm ausdrücklich auch private Einrichtungen in die Pflicht genommen werden; sie hat 23 Siehe beispielsweise Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII). 24 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 20. 25 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 20. 26 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 20. - 15 - demgemäß unmittelbare Drittwirkung.27 Dabei zielt die Bestimmung auf Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen.28 Allerdings ist die Regelung etwas unklar formuliert.29 So ist die Bedeutung des „vorrangigen Erwägens“ auslegungsbedürftig. Darüber hinaus bleibt offen, vor wem oder was das Kindeswohl erwogen werden soll und auf welchem Rang es überhaupt steht.30 Aufgrund der in Deutschland bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Position zugunsten der Kinder wie auch im Hinblick auf die Unschärfen in den Formulierungen lässt sich nur schwer beurteilen, ob mit der Aufnahme dieser Bestimmung ein deutlich verbesserter Schutz der Kinder verbunden wäre. Am ehesten wäre dies im Verhältnis zu privaten Dritten zu erwarten, die mit der Kinderbetreuung betraut sind. 4.2.4. Anspruch auf persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen nach Art. 24 Abs. 3 Grundrechtecharta Auch der Anspruch auf persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen nach Art. 24 Abs. 3 der Charta entfaltet eine unmittelbare Drittwirkung gegenüber den Bürgern.31 Durch die in Deutschland bestehende Rechtslage – insbesondere nach den Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuches in jüngerer Zeit wie auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zum Umgangsrecht – ist allerdings auch hier bereits de facto der von der Bestimmung bezweckte Status von Kindern weitgehend erreicht. Zwar würde durch die Aufnahme in das Grundgesetz nun das Recht der Kinder auf persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen mit Verfassungsrang ausgestattet sein und daher noch größeres Gewicht als in einfachgesetzlichen Bestimmungen entfalten; in der praktischen Bedeutung dürften die Auswirkungen gleichwohl eher geringer ausfallen, da dem Anspruch der Kinder bereits nach geltendem Recht sehr umfassend Rechnung getragen wird. 27 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 21. 28 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 21. 29 Vgl. hierzu eingehend Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 21. 30 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 21. 31 Vgl. Hölscheidt in Meyer, Art. 24, Rn. 22. - 16 - 4.3. Auswirkungen einer Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung gemäß des Vorschlags der Jugendministerkonferenz vom 12. Juni 1992 Die Konferenz der Jugendministerinnen und Jugendminister, Jugendsenatorinnen und Jugendsenatoren vom 12. Juni 1992 in Potsdam hat folgende Änderung des Art. 6 Abs. 2 GG vorgeschlagen: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Sie schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge.“ Die Sätze 2 und 3 sind textidentisch mit dem bisherigen Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 GG. Zusätzliche Auswirkungen könnten daher nur die Sätze 1 und 4 entfalten. 4.3.1. Satz 1 des Vorschlags der Jugendministerkonferenz Der Satz 1 – „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung“ – bringt keine weitergehenden Rechte gegenüber der vom BVerfG bereits unterstrichenen verfassungsrechtlichen Position der Kinder. Der Unterschied würde im Wesentlichen nur darin bestehen , dass diese Maßgabe nunmehr ausdrücklich im Verfassungstext enthalten ist. 4.3.2. Satz 4 des Vorschlags der Jugendministerkonferenz Entsprechendes gilt auch für Satz 4: „Sie [die staatliche Gemeinschaft] schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge.“ Eine solche Verpflichtung hat die Rechtsprechung des BVerfG bereits weitgehend aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitet. So ergibt sich aus dem geltenden Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, dass ein staatliches Wächteramt besteht. Aus diesem Wächteramt folgt schon nach jetziger Verfassungslage eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des Kindes.32 Die Neureglung könnte tendenziell die staatliche Schutzpflicht im Verhältnis zum Elternrecht , dem bislang prinzipiell ein Vorrecht zuerkannt wird, stärken. Allerdings ist die weiterhin zu beachtende verfassungsrechtliche Grenze das Elternrecht, das ein Ab- 32 Robbers in v. Mangoldt, Art. 6, Rn. 241. - 17 - wehrrecht gegen staatliche Eingriffe gewährleistet, die nicht durch das Wächteramt des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG gedeckt sind.33 Der neue Satz 4 würde demnach im Wesentlichen nur mehrere konkrete Pflichten in den Verfassungstext übernehmen, die im Prinzip bereits jetzt bestehen. Gravierende Neuerungen für die einfache Gesetzgebung wären demgemäß aufgrund dieser Neufassung eher nicht zu erwarten. 5. Zur politischen und gesellschaftlichen Diskussion einer Verfassungsänderung zugunsten der Kinderrechte in den letzten Jahren 5.1. Wer hat sich bereits für oder gegen eine Verfassungsänderung zugunsten der Kinderrechte eingesetzt? Bisher waren es weniger Einzelpersonen, sondern vielmehr Parteien und verschiedene Gremien, Verbände und gesellschaftspolitisch aktive Gruppen und Vereinigungen, die sich für oder gegen die Aufnahme spezieller Grundrechtsbestimmungen für Kinder eingesetzt haben. Engagierte Persönlichkeiten sind zumeist im Rahmen dieser Aktivitäten in Erscheinung getreten. Für die Aufnahme von speziellen Kinderrechten in das Grundgesetz haben sich insbesondere folgende Organisationen eingesetzt: - UNICEF Deutschland (ehrenamtliche Vorsitzende ist seit Januar 2006 Heide Simonis ; Geschäftsführer des Deutschen Komitees für UNICEF ist seit 1989 Dietrich Garlichs),34 - Deutscher Kinderschutzbund, bestehend aus Bundesverband, 16 Landesverbänden und 420 Ortsverbänden mit insgesamt 50.000 Mitgliedern (Präsident ist Heinz Hilgers),35 - Deutsches Kinderhilfswerk e. V. (Präsident Thomas Krüger). 36 33 Robbers in v. Mangoldt, Art. 6, Rn. 184. 34 Siehe im Internet http://www.unicef.de/unicef_deutschland.html (Stand: 06.09.2006). 35 Siehe im Internet http://www.dksb.de/front_content.php (Stand: 06.09.2006). 36 Siehe im Internet http://www.dkhw.de/ (Stand: 06.09.2006). - 18 - Darüber hinaus gab und gibt es gemeinsame Aktionen, beispielsweise der im März 1990 von 55 Kinderlobbyisten und Politikern unterzeichnete Aufruf „… einig Kinderland“, der sich speziell für die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung einsetzte. Zu den Unterzeichnern gehörten u. a. Dr. Antje Vollmer, der damalige Präsident des Kinderschutzbundes Walter Bärsch und der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann.37 Des Weiteren haben sich UNICEF Deutschland, das Deutsche Kinderhilfswerk und der Deutsche Kinderschutzbund zu einem „Aktionsbündnis Kinderrechte“ zusammengeschlossen .38 Besonders hervorzuheben ist auch die 1995 ins Leben gerufene National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland (National Coalition).39 In der National Coalition haben sich rund 90 bundesweit tätige Organisationen und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammengeschlossen mit dem Ziel, die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland bekannt zu machen und ihre Umsetzung in Deutschland voranzubringen. Zu den zehn Kernforderungen der NC gehört auch das Anliegen, die Kinderrechte verfassungsrechtlich im Grundgesetz zu verankern. Schirmherrin der National Coalition ist Dr. Antje Vollmer. Zur Position der im Bundestag vertretenen Parteien ergibt sich im Übrigen folgender Sachstand: Nach einer Befragung der National Coalition der Parteien anlässlich der Bundestagswahl 2005 befürworteten uneingeschränkt die Aufnahme von speziellen Kinderrechten in die Verfassung nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE.PDS. Während die CDU/CSU für eine Grundgesetzänderung keine Notwendigkeit sah, sprachen sich SPD und FDP für eine weitere Diskussion dieser Frage aus.40 37 http://www.uni-essen.de/tts/lehrangebot/kinderrecht/kinderrechte.htm#3.1.%20Das%20Grundgesetz dort unter Punkt 3.1. (Stand: 06.09.2006). 38 Siehe http://www.unicef.de/kinderrechte.html (Stand: 06.09.2006). 39 Siehe http://www.national-coalition.de/ (Stand: 06.09.2006). 40 Siehe die Broschüre http://www.national-coalition.de/pdf/VerwirklichKinderechte.pdf, S. 4 ff. (Stand: 06.09.2006). - 19 - 5.2. Wie verlaufen die Argumentationslinien? Die Befürworter41 der Aufnahme von speziellen Kinderrechten in die Verfassung verweisen zunächst auf die UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, die das Recht des Kindes als eigenständige Persönlichkeit mit dem Recht auf Achtung und Würde sowie Entfaltung und Entwicklung betont.42 Sie fordern, dass diese Kinderrechte nicht nur durch einfache Gesetze in Deutschland umgesetzt werden, sondern aufgrund ihrer Bedeutsamkeit auch Eingang ins Grundgesetz finden sollten. Auch sei es ein Missverhältnis, wenn inzwischen in den meisten deutschen Landesverfassungen und verschiedenen Kommunalverfassungen spezielle Kinderrechte enthalten seien, das Grundgesetz dazu aber weiter schweige. Zum Teil wird auch ergänzend der – bislang nicht in Kraft getretene – Vertrag über eine Verfassung für Europa angeführt, der in Art. I-3 Abs. 3 und 4 allgemein den Schutz der Kinderrechte betont und in Art. II- 84 (inhaltsgleich zum oben dargestellten Art. 24 Grundrechtecharta) spezielle Kinderrechte enthält. Die Aufnahme eines ausdrücklichen Rechts der Kinder auf Erziehung und Entfaltung sei zudem verfassungsrechtlich geboten, um die in den letzten 50 Jahren eingetretene Rechtsentwicklung auch im Text der Verfassung nachzuvollziehen. Insbesondere müsse stärker zum Ausdruck kommen, dass die elterliche Erziehungsbefugnis ein Recht im Interesse des Kindes sei, deren Bedeutung mit abnehmender Bedürftigkeit zur Anleitung und wachsender Einsichtsfähigkeit des Kindes zurückgehe, bis das Elternrecht mit dem Eintritt der Volljährigkeit ganz erlösche. Diese von der Rechtsprechung entwickelte und anerkannte Lösung des Konflikts zwischen Elternrechten und Subjektstellung des Kindes solle auch in der Verfassung dokumentiert werden. Die Gegner43 der Aufnahme von speziellen Kinderrechten in die Verfassung führen demgegenüber an, dass insoweit kein verfassungspolitischer Handlungsbedarf bestehe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei der Kinder- und Jugendschutz bereits nach geltender Rechtslage mit vollem Verfassungsrang ausgestattet. Es sei daher wenig sinnvoll, eine besondere Grundrechtsträgerschaft des Kindes zusätzlich noch einmal explizit in der Verfassung zu normieren. Im Übrigen sei das verfassungsrechtlich verbürgte Erziehungsrecht der Eltern ein so genanntes dienendes Grundrecht, d. h. die Eltern müssten dieses Recht zugunsten und 41 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 S. 59 f. 42 Befürworter einer Aufnahme spezieller Kinderrechte ins Grundgesetz berufen sich insbesondere auf Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes. 43 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 S. 60. - 20 - im Interesse des Kindes ausüben. Maßstab der Ausübung sei schon nach dem geltenden Art. 6 GG das Wohl des Kindes. Auch insoweit bestehe kein Handlungsbedarf. Überdies sei es verfassungsrechtlich verfehlt, jede Gruppierung, die sich in einer Sondersituation befinde, auch gesondert im Grundgesetz aufzunehmen. Dies könne zu der irrigen Annahme führen, die allgemeinen Grundrechte würden für die jeweilige Gruppe eigentlich nicht gelten, und es müsste deshalb besonders betont werden, dass auch diese Gruppe Inhaber der allen zustehenden Rechte sei. Entscheidender als ein solcher besonderer Grundrechtschutz sei, die gesellschaftlichen Probleme in der Praxis zu lösen und das gesellschaftliche Bewusstsein zu ändern.