© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 313/14 Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen des Asylrechts zu sicheren Herkunftsstaaten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen des Asylrechts zu sicheren Herkunftsstaaten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 313/14 Abschluss der Arbeit: 30.01.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Gesetzgebungsspielraum und verfassungsgerichtliche Kontrolle 4 2.1. „Gute Gründe“ und eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle 5 2.2. Erfordernis einer guten Begründung? 7 2.3. Erfordernis wahrhaftiger Abstimmungen? 7 3. Vereinbarkeit der Neuregelung sicherer Herkunftsstaaten mit Art. 16a Abs. 3 GG 8 3.1. Kriterien 8 3.2. Tatsachengrundlage 9 3.2.1. Zugängliche und zuverlässige Quellen 9 3.2.2. Anerkennungsquoten von Asylbewerbern aus Serbien 9 3.3. Auswertung der Tatsachengrundlage 10 3.3.1. Keine allgemeine Verfolgung 11 3.3.2. Serbische Ausreisebestimmungen 11 4. Ergebnis 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 4 1. Einleitung Mit Gesetz vom 31.10.2014 wurden durch Ergänzung der Anlage II zu § 29a Abs. 2 AsylVfG die Staaten Bosnien und Herzegowina, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten im Sinne des Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG eingestuft. Nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG können durch Gesetz Staaten bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage , der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint , dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Ziel der Festlegung sicherer Herkunftsstaaten ist die Entlastung von Behörden und Gerichten durch die Beschleunigung von solchen Asylverfahren, die die Annahme begründen, dass sie in der Regel aussichtslos sind; eine Widerlegung der Verfolgungssicherheit im Einzelfall bleibt aber nach Art. 16a Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich möglich. Die gesetzliche Einstufung der o.g. Staaten als sichere Herkunftsstaaten wird u.a. angesichts der Situation der Roma kritisiert.1 Darüber hinaus hat das VG Münster in einem einstweiligen Verfahren zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber Asylbewerbern aus Serbien (Roma) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Herkunftsstaatenregelung geäußert, die Frage einer möglichen Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG) aber dem Hauptsacheverfahren überantwortet .2 Hintergrund der Zweifel des VG Münster sind die vom BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 1996 dem Gesetzgeber bei der Einstufung sicherer Herkunftsstaaten aufgegebenen Sorgfaltspflichten.3 Das VG Münster hält es für nicht ausgeschlossen, dass sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung von Serbien als sicherem Herkunftsstaat nicht an die verfassungsgerichtlichen Vorgaben gehalten habe und die Einstufung Serbiens als sicherer Herkunftsstaat daher verfassungswidrig sein könnte. In diesem Zusammenhang wird nun die Frage nach dem „verfassungsmäßigen Zustandekommen“ des Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten gestellt. 2. Gesetzgebungsspielraum und verfassungsgerichtliche Kontrolle Nach Art. 16a Abs. 3 GG erfolgt die Festlegung der sicheren Herkunftsstaaten durch Gesetz. Der insoweit „feststellende“ oder „subsumierende“ Gesetzgeber hat nach der Rechtsprechung des BVerfG bestimmte Sorgfaltspflichten zu beachten.4 Diese Sorgfaltspflichten beziehen sich sowohl auf die Beschaffung und Aufbereitung der für die Einschätzung der Verfolgungssicherheit relevanten Tatsachen als auch auf die Einschätzung der Verfolgungssicherheit. Maßgeblich für die 1 Siehe nur die Kritik zum - später ergänzten - Gesetzentwurf der Bundesregierung von Pro Asyl, Einordnung von Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina als „sichere Herkunftsländer“? Stellungnahme zum Referentenentwurf „eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes“, abrufbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/o_Rechtspolitik/PRO_ASYL_Stellungnahmen_Gesetzentwurf_Sichere _Herkunftslaender.pdf. 2 VG Münster, Beschl. 27.11.2014, Az.: 4 L 867/14.A. 3 BVerfGE 94, 115 ff. 4 BVerfGE 94, 115, 143 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 5 Frage der Verfassungsmäßigkeit der Herkunftsstaatenregelung ist aber nicht, wie diese Sorgfaltsanforderungen bestmöglich umzusetzen wären. Entscheidend ist vielmehr, ob und inwieweit die Beachtung der Sorgfaltsanforderungen der verfassungsrechtlichen bzw. verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. 2.1. „Gute Gründe“ und eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle Die gesetzgeberische Beurteilung der Verfolgungssicherheit muss nach der Rechtsprechung des BVerfG „so beschaffen sein, dass sich die Zurückweisung von Asylanträgen als offensichtlich unbegründet […] mit guten Gründen auf sie stützen kann“.5 Dabei stellt das BVerfG auf die Erhebung und Aufbereitung von Tatsachen einerseits und auf deren Bewertung andererseits ab. Dazu heißt es in der Herkunftsstaaten-Entscheidung: „Das [erg. Beruhen auf guten Gründen] bedingt ein bestimmtes Maß an Sorgfalt bei der Erhebung und Aufbereitung von Tatsachen […]“ und „Aus den herangezogenen Quellen und Erkenntnismitteln muss insgesamt ein hinreichend sicheres Bild über die Verhältnisse in dem betreffenden Staat entstehen […].6 Die anspruchsvoll formulierten Anforderungen lassen erwarten, das BVerfG würde inhaltlich überprüfen, ob der Gesetzgeber alle für die Entscheidung erheblichen Umstände gekannt und sie angemessen gewürdigt hat. In diesem Sinne geht die Richterin Limbach in ihrem abweichenden Sondervotum davon aus, der Gesetzgeber habe „alle erreichbaren und erheblichen Tatsachen sorgfältig zu ermitteln und im Lichte des Art. 16a Abs. 1 GG nachvollziehbar zu würdigen“ und unterliege insoweit der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung.7 In seiner die Entscheidung tragenden Mehrheit lehnt das BVerfG einen solchen Prüfungsmaßstab jedoch ab und gesteht dem Gesetzgeber sowohl bei der Erhebung und Aufbereitung der Tatsachen einen Spielraum zu (Entscheidungsspielraum ) als auch bei der Einschätzung der Verfolgungssicherheit (Einschätzungsund Wertungsspielraum). Konkret heißt es in der Herkunftsstaaten-Entscheidung des BVerfG: „Dabei [erg. Bei der Erhebung und Aufbereitung von Tatsachen] kommt dem Gesetzgeber, insbesondere hinsichtlich der dafür zu beschreitenden Wege, ein Entscheidungsspielraum zu.“ und „Beurteilt der Gesetzgeber, ob nach den ermittelten tatsächlichen Verhältnissen in einem Staat gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, und trifft er eine Prognose über die weitere Entwicklung in dem Staat innerhalb eines überschaubaren Zeitraums, so hat er einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum. Dieser Einschätzungs- und Wertungsspielraum gilt 5 BVerfGE 94, 115, 143, Hervorhebung nicht im Original. 6 BVerfGE 94, 115, 143, Hervorhebung nicht im Original. 7 Sondervotum der Richterin Limbach zu BVerfGE 94, 115,157, 159. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 6 auch für die Frage, welche der erhobenen Tatsachen mit welchem Gewicht für die zu treffende Entscheidung von Bedeutung sind […].“8 Aus diesen gesetzgeberischen Spielräumen zieht das BVerfG sodann den Schluss, dass sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Vertretbarkeit der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung beziehe, wobei es diese Vertretbarkeitskontrolle wegen des in Rede stehenden Sachbereichs und der Schwierigkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, nochmals einschränkt auf eine „Unvertretbarkeitskontrolle“. Danach könne die Unvertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidung nur festgestellt werden könne, wenn „der Gesetzgeber sich bei seiner Entscheidung nicht von guten Gründen hat leiten lassen“.9 Die Bezugnahme auf die „guten Gründe“ kann leicht dahingehend missverstanden werden, dass der Gesetzgeber bei der Bestimmung der sicheren Herkunftsstaaten einer strengen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterläge. Aus der Einräumung der gesetzgeberischen Spielräume folgt aber, dass sich das BVerfG weitgehend aus der inhaltlichen Kontrolle zurückzieht und „nur“ eine Evidenzkontrolle vornimmt. Die abweichende Richterin Limbach kritisiert diesen als eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle bezeichneten Prüfungsmaßstab und meint, der Gesetzgeber könne bei der Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten keine Spielräume in der Frage beanspruchen , „welche Erkenntnisse er seiner Entscheidung zugrunde legt und welche Bedeutung er ihnen in ihrem Verhältnis zueinander beimisst“.10 Die Senatsmehrheit hingegen beruft sich darauf , die Entscheidungs- und Wertungsspielräume folgten bereits aus dem Wortlaut der Verfassung („… gewährleistet erscheint …“), der auf die Beurteilung durch den Gesetzgeber abstelle sowie aus der in Art. 16a Abs. 3 GG vorgesehenen Aufgabenverteilung, wonach dem Gesetzgeber die abstrakt-generelle Prüfung und Bewertung der Verhältnisse in dem jeweiligen Staat als eigenständige Aufgabe übertragen sei.11 Nach diesem Prüfungsmaßstab der eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle können Defizite bei der Beschaffung und Auswertung von Tatsachen nur dann zur Verfassungswidrigkeit der Herkunftsstaatenregelung führen, wenn sie offensichtlich sind.12 8 BVerfGE 94, 115, 143 f., Hervorhebung nicht im Original. 9 BVerfGE 94, 115, 144. 10 Sondervotum der Richterin Limbach zu BVerfGE 94, 115,157, 159. 11 BVerfGE 94, 115, 144. 12 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (Stand: 2014), Rn. 118 zu Art. 16a gibt daher „wegen angeblicher Verfassungswidrigkeit gegen die Entscheidung des Gesetzgebers gerichteten Rügen wenig Erfolgschancen “. Zur vergleichbaren Problematik der einfachgesetzlichen Bestimmung sicherer Drittstaaten und dem diesbezüglichen weiten Wertungs- und Einschätzungsspielraum Maaßen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG (Stand: 12/2014), Rn. 69 ff. zu Art. 16a. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 7 2.2. Erfordernis einer guten Begründung? Die gesetzgeberischen Spielräume bei der Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten sind auch relevant für die Frage, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, seine Entscheidung und Entscheidungsfindung durch besondere Begründungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nachvollziehbar zu machen (gute Begründung). Man könnte vertreten, erst durch entsprechende Begründungen durch den Gesetzgeber könnten Defizite bei der Beschaffung und Auswertung von Informationen überhaupt erst überprüft werden, so dass schon Begründungsdefizite zur Verfassungswidrigkeit einer Herkunftsstaatenregelung führen könnten. In diese Richtung scheint das VG Münster zu argumentieren , wenn es zu bedenken gibt, dass „nach der Begründung [erg. des Gesetzentwurfs] nicht hinreichend erkennbar [ist], welches Gewicht der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung den geänderten serbischen Ausreisebestimmungen und ihrer Anwendung insbesondere auf Volkszugehörige der Roma gegeben hat“.13 Das BVerfG geht in seiner Herkunftsstaaten-Entscheidung jedenfalls nicht von besonderen, das formale Gesetzgebungsverfahren modifizierenden Begründungspflichten aus. Vielmehr betont es, das Grundgesetz treffe „in Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG – abgesehen von der Anordnung, dass das Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf – keine Regelung für das vom Gesetzgeber zu beobachtende Verfahren.“14 Nicht formale Begründungspflichten, aber materiell-rechtlich gebotene Begründungsobliegenheiten wird man hingegen annehmen können.15 Um einer – wenn auch nur eingeschränkten – Vertretbarkeitskontrolle standhalten zu können, wird dem Gesetzgeber daran gelegen sein, die Beschaffung und Auswertung der Tatsachengrundlage darzustellen. Auf der anderen Seite würde es den Maßstab der eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle (bzw. Evidenzkontrolle ) aber überschreiten, die Begründungsobliegenheiten so hoch anzusetzen, dass z.B. die Gewichtung jeder einzelnen Tatsache unter Berücksichtigung der jeweils erhobenen Kritik ausführlich zu begründen und zu verteidigen wäre. Vielmehr folgt aus dem Maßstab der eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle nur, dass die Entscheidung des Gesetzgebers auf offensichtliche Mängel bei der Beschaffung und Auswertung der Tatsachengrundlage hin überprüft wird. 2.3. Erfordernis wahrhaftiger Abstimmungen? Nach der Formulierung des BVerfG, der Gesetzgeber müsse sich von guten Gründen leiten lassen, könnte man annehmen, das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten müsste von guten Gründen getragen und in diesem Sinne wahrhaftig sein. Soweit die wahren Motive für das Abstimmungsverhalten von einzelnen Abgeordneten, z.B. durch Protokollerklärungen, offengelegt werden und inhaltlich die gesetzgeberische Entscheidung – hier die Einstufung sicherer Herkunfts- 13 VG Münster, Beschl. 27.11.2014, Az.: 4 L 867/14.A, unter 1. a). 14 BVerfGE 94, 115, 141. Siehe auch BVerfG NJW 2014, 3425 f.: „Die Verfassung schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen […] ist, sondern lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss.“ 15 Von einer Obliegenheit zur Begründung der herangezogenen Kriterien durch den Gesetzgeber spricht das BVerfG in der sog. Hartz IV-Entscheidung, BVerfGE 125, 175, 126, die im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Prüfungskompetenz mit der vorliegenden Problematik vergleichbar ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 8 staaten – in Frage stellen, können sie sicherlich als Anlass für eine Prüfung der Herkunftsstaatenregelung dienen. Maßstab für eine mögliche Verfassungswidrigkeit ist nach Art. 16a Abs. 3 GG aber nicht die wahre Motivlage des Gesetzgebers bzw. einzelner Abgeordneter,16 sondern die Frage der Verfolgungssicherheit nach den in Art. 16a Abs. 3 GG genannten Kriterien der Rechtslage , der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnissen in den betreffenden Staaten. Aus alledem folgt, dass die vom Gesetzgeber aufgestellten Sorgfaltsanforderungen das Ergebnis der gesetzgeberischen Entscheidung, also die konkrete Einstufung als sichere Herkunftsstaaten, tragen müssen, aber nicht davon unabhängige Verfahrenspflichten aufstellen, deren Missachtung schon für sich genommen zur Verfassungswidrigkeit einer Herkunftsstaatenregelung führten. Nach dem Maßstab der eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle kommt es darauf an, ob die Einschätzung der Verfolgungssicherheit durch mangelhafte Beschaffung oder Auswertung der Tatsachengrundlege offensichtlich fehlgeht. 3. Vereinbarkeit der Neuregelung sicherer Herkunftsstaaten mit Art. 16a Abs. 3 GG Gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung sicherer Herkunftsstaaten bestehen keine Bedenken. Insbesondere modifizieren die vom BVerfG in seiner Herkunftsstaaten-Entscheidung aufgestellten Sorgfaltsanforderungen nicht das formale Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG.17 In materiell-rechtlicher Hinsicht müsste die Einstufung der Staaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten mit den Vorgaben aus Art. 16a Abs. 3 GG vereinbar sein. Danach müsste aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheinen, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Nach dem oben dargestellten Maßstab der eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle kann die diesbezügliche Einschätzung des Gesetzgebers nur daraufhin überprüft werden, ob sie offensichtlich fehlgeht. Die der Einschätzung zugrundeliegenden Tatsachen sowie deren Auswertung ergeben sich aus den Gesetzgebungsmaterialien, insbesondere aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung. 3.1. Kriterien Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs vom 26.05.2014 erfolgte die Prüfung der Verfolgungssicherheit der Staaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien nach den in Art. 16a Abs. 3 GG vorgesehenen Kriterien der Rechtslage, Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Lage.18 Auch die Anerkennungsquoten von Asylbewerbern aus den betroffenen Staaten 16 Vgl. die Erklärungen von Abgeordneten nach § 31 GO, Anlage 12 und 13 zum BT-Plenarprotokoll 18/46. 17 Vgl. dazu BVerfGE 94, 115, 141. 18 BT-Drs. 18/1528, 8 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 9 wurden berücksichtigt,19 was nach der Rechtsprechung des BVerfG zur „Abrundung und Kontrolle des gefundenen Ergebnisses“ zulässig ist.20 3.2. Tatsachengrundlage 3.2.1. Zugängliche und zuverlässige Quellen Das BVerfG geht in seiner Herkunftsstaaten-Entscheidung davon aus, dass der Gesetzgeber – im Rahmen seiner Entscheidungsfreiheit bei der Beschaffung der relevanten Tatsachen – auf zugängliche und zuverlässige Quellen, wie die Berichte der Auslandesvertretungen der Bundesrepublik oder internationaler Organisationen, insbesondere des UNHCR, zurückgreifen wird.21 In diesem Sinne hat die Bundesregierung für die betroffenen Staaten die Berichterstattung des Auswärtigen Amtes, von internationalen Organisationen (UNHCR, IKRIK) sowie von lokalen Menschenrechtsorganisationen herangezogen.22 Darüber hinaus wurden im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses mehrere Sachverständige gehört.23 Dass bei der Schaffung der Tatsachengrundlage wesentliche Quellen unberücksichtigt gelassen worden wären, ist nicht ersichtlich. 3.2.2. Anerkennungsquoten von Asylbewerbern aus Serbien Das VG Münster hat im Hinblick auf die Tatsachengrundlage zur Einschätzung der Verfolgungssicherheit der Roma aus Serbien Bedenken geäußert, dass bei der Berücksichtigung der (geringen) Anerkennungsquoten nur die behördlichen, nicht aber die gerichtlichen Verfahren angemessen berücksichtigt worden seien. Konkret bezieht es sich darauf, der als Sachverständige in der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses vom 23. Juni 2014 gehörte Präsident des BAMF habe die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zutreffend wiedergegeben, da das VG Stuttgart nicht nur in zwei, sondern in mehreren Fällen Asylklagen von Roma stattgegeben habe. Insofern seien dem Bundestag und Bundesrat wesentliche Informationen zur Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte nicht mitgeteilt worden.24 Entgegen der Auffassung des VG Münster folgt schon aus der Gesetzesbegründung die Berücksichtigung der gerichtlichen Anerkennungspraxis, und zwar für den Zeitraum von Januar bis November 2013. Danach waren von 12070 Gerichtsverfahren von Asylbewerbern aus den fraglichen Staaten 82 Asylklagen erfolgreich.25 Diese Zahlen wurden auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren 19 BT-Drs. 18/1528, 9. 20 BVerfGE 94, 115, 139. 21 BVerfGE 94, 115, 143. 22 BT-Drs. 18/1528, 12 ff. 23 Vgl. BT- Innenausschuss, Protokoll-Nr. 18/15. 24 VG Münster, Beschl. 27.11.2014, Az.: 4 L 867/14.A, unter 1. b). 25 BT-Drs. 18/1528, 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 10 thematisiert.26 Ob die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte im Einzelnen zutreffend wiedergegeben wurde, berührt die hier vorzunehmende beschränkte Vertretbarkeitskontrolle nicht. Zum einen dient die Bezugnahme zur Anerkennungspraxis von vornherein nur der „Abrundung “ des gefundenen Ergebnisses. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass der herangezogenen Anerkennungsquote eine gänzlich widersprechende verwaltungsgerichtliche Praxis gegenüber stehen würde.27 Die Berücksichtigung der Anerkennungsquoten erscheint danach nicht als offensichtlich fehlerhaft. 3.3. Auswertung der Tatsachengrundlage Bei der Prüfung, ob die Auswertung der Tatsachengrundlage offensichtlich fehlerhaft ist, ist zu beachten, dass der Gesetzgeber die Berichte und Stellungnahmen von Sachverständigen als Grundlage für eine eigene Einschätzung nach den Kriterien aus Art. 16a Abs. 3 GG zu verwenden hat und dabei die bzw. nicht alle in den Berichten aufgeführten oder von Sachverständigen vorgetragenen Einschätzungen übernehmen oder teilen muss. So sprechen auch die kritischen Stellungnahmen des UNHCR zum Gesetzentwurf der Herkunftsstaatenregelung28 nicht schon für die Unvertretbarkeit der gesetzgeberischen Einschätzung. Insofern bezieht sich die Kritik in weiten Teilen auf allgemeine rechtliche Bewertungen der Vereinbarkeit nationalen Asylrechts mit dem Unionsrecht.29 Zur konkreten Einstufung der Staaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien nimmt der UNHCR ausdrücklich nur am (strengeren) Maßstab des Unionsrechts Stellung: „Bei Anwendung der Maßstäbe aus Anhang 1 der VRL [erg.: Verfahrensrichtlinie] bestehen hinsichtlich der Einordnung der genannten Staaten als >sicher< aus Sicht des UNHCR zumindest Zweifel.“30 Auf die Unionsrechtskonformität kommt es im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung jedoch nicht an. Nicht relevant sind ferner die Ausführungen der Sachverständigen zur Unionsrechtskonformität.31 26 Vgl. Plenarprotokoll 18/46, 4177, 4181. 27 Zur Annahme der Verfolgungssicherheit der Roma in Serbien durch die Verwaltungsgerichtspraxis vgl. VG Bayreuth , Beschl. v. 21.11.2014, Az.: B 3 S 14.30420, unter II. mit Hinweis auf eine insoweit bestehende „einhellige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung“ sowie weiteren Nachweisen. Siehe aber auch die abweichende Auffassung des VG Stuttgart, Urt. v. 25.03.2014, Az.: A 11 K 5036/13. 28 UNHCR Stellungnahme v. 28.02.2014, abrufbar unter: http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht /3_deutschland/3_2_unhcr_stellungnahmen/FR_GER-HCR_sichere_Herkunftslaender_032014.pdf und UN- HCR Stellungnahme v. 04.04.2014, abrufbar unter: http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht /3_deutschland/3_2_unhcr_stellungnahmen/FR_GER-HCR_sichere_Herkunftslaender_042014.pdf. 29 UNHCR Stellungnahme v. 28.02.2014 (Fn. 28), 2 ff. 30 UNHCR Stellungnahme v. 28.02.2014 (Fn. 28), 6. 31 Vgl. BT- Innenausschuss, Protokoll-Nr. 18/15, 12, 15 f., 19 f., 30, 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 11 3.3.1. Keine allgemeine Verfolgung In ihrer Gesetzesbegründung nimmt die Bundesregierung eine Einschätzung der allgemeinen politischen Lage in den betroffenen Staaten vor und geht auf die dortigen menschenrechtlichen Bedingungen ein. Dabei werden die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Rechtsanwendung dargestellt. Nach Einschätzung der Bundesregierung ist die menschenrechtliche Situation nicht durchgängig zufriedenstellend. So komme es beispielsweise in Bosnien und Herzegowina im Rahmen von polizeilichen Verhören, Verhaftungen oder innerhalb von Gefängnissen vereinzelt zu Misshandlungen.32 Auch sieht die Bundesregierung die Minderheiten in den betroffenen Staaten, insbesondere die Gruppe der Roma, durchaus als benachteiligt an.33 Jedoch kommt sie zu der Einschätzung, dass diese (Einzel-)Fälle nicht ausreichen, um eine allgemeine staatliche Verfolgung zu begründen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung offensichtlich fehlerhaft ist, bestehen nicht. 3.3.2. Serbische Ausreisebestimmungen Das VG Münster hat zu bedenken gegeben, der Gesetzgeber habe die serbischen Ausreisebestimmungen im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses zwar berücksichtigt, es sei aber nicht hinreichend erkennbar, welches Gewicht man ihnen bei der Einschätzung der Verfolgungssicherheit gegeben habe.34 Aus der gesetzlichen Bestimmung Serbiens als sicherem Herkunftsstaat folgt, dass die Erörterung der serbischen Ausreisbestimmungen keine durchgreifenden Bedenken ausgelöst hat. Dass der Gesetzgeber insoweit seinen Einschätzungsspielraum offensichtlich überschritten haben könnte, ist nicht ersichtlich. Dabei lässt sich eine Überschreitung des Gesetzgebungsspielraums nicht schon daraus herleiten, dass dieser spezifische Aspekt nicht noch einmal explizit, z.B. in der Beschlussempfehlung des Innenausschusses, aufgegriffen und im Hinblick auf seine Gewichtung begründet wurde. Für die Vertretbarkeitskontrolle kommt es nicht darauf an, ob jeder Teilaspekt eingehend und nachvollziehbar begründet wurde, sondern ob die gesetzgeberische Einschätzung im Ergebnis nicht offensichtlich fehlgeht. Im Hinblick auf die serbischen Ausreisebestimmungen ist – auch ohne weitere Begründung – eine offensichtliche Fehlgewichtung möglicher Diskriminierungen nicht erkennbar. Vielmehr wird die gesetzgeberische Einschätzung durch die Verwaltungsgerichtspraxis gestützt, die eine politische Verfolgung der Roma durch die serbischen Ausreisebestimmungen überwiegend verneint.35 4. Ergebnis Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten von „guten Gründen“ leiten lassen. Wegen der gesetzgeberischen Spielräume hinsichtlich der Beschaffung und Auswertung der relevanten Tatsachen beschränkt sich die 32 BT-Drs. 18/1528, 14. 33 BT-Drs. 18/1528, 12 f. (Bosnien und Herzegowina), 14 (Mazedonien), 17 (Serbien). 34 VG Münster, Beschl. 27.11.2014, Az.: 4 L 867/14.A, unter 1. a). 35 Vgl. VG Bayreuth, Beschl. v. 21.11.2014, Az.: B 3 S 14.30420 und OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.10.2014, Az.: 8 LA 129/14 jeweils mit weiteren Nachweisen zur entsprechenden Verwaltungsgerichtspraxis. A.A. VG Stuttgart, Urt. v. 25.03.2013, Az.: A 11 K 5036/13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 313/14 Seite 12 verfassungsrechtliche bzw. verfassungsgerichtliche Überprüfung von Herkunftsstaatenregelungen aber auf eine nur eingeschränkte Vertretbarkeitskontrolle. Danach kommt eine Verfassungswidrigkeit nur in Betracht, wenn die gesetzgeberische Einschätzung der Verfolgungssicherheit offensichtlich fehlgeht. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber bei der Einstufung der Staaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien relevante Tatsachen offensichtlich missachtet oder fehlgedeutet hätte, bestehen jedoch nicht. Über die die Einschätzung tragenden Gründe hinausgehende Begründungspflichten des Gesetzgebers oder Wahrhaftigkeitsanforderungen an die Abgeordneten bestehen nicht.